Aus der Schreibwerkstatt (November 2010)

Szene aus dem Theaterstück "Das Grundeinkommen"

9. Szene

Carlas Wohnzimmer, der Fernseher läuft, die Ziehung der Lottozahlen wird angekündigt, Arne und Carla sitzen davor und schauen zu. Carla ist aufgeregt, Arne die Ruhe selbst. Die Quittung des Lottoscheins liegt vor ihnen auf dem Tisch.

 

Carla:

Du hast den Schein doch abgegeben?

(Arne wirft ihr nur einen kurzen Blick zu, ohne zu antworten.)

 

Carla:

Warum hast du alle acht Felder ausgefüllt? Wenn dir deine Freunde wirklich helfen, dann hätten doch auch zwei genügt, das wär billiger gewesen.

Arne:

Ja, aber ich hätte dabei kein gutes Gefühl gehabt, ich wär mir irgendwie knausrig vorgekommen. Und vielleicht hätte ich sogar noch irgendwo ein Problem verursacht.

Carla:

Was für ein Problem denn?

Arne:

Schau her: wenn die mir jetzt also einen Gewinn schenken wollen, dann ist es doch besser, ich lasse ihnen etwas Auswahl mit den Zahlen. Es spielen ja noch Millionen andere an diesem Wochenende Lotto, und vielleicht haben ja andere dieselben Zahlen wie ich getippt.

Carla:

Na und, dann gewinnt eben noch jemand außer dir. Was spielt das denn für eine Rolle?

Arne:

Begreif doch! Ein großer Lottogewinn ist auf jeden Fall ein Eingriff in das Schicksal, egal, ob man wie ich persönlich darum gebeten hat oder nicht. Das muss doch irgendwie in die individuelle Biographie passen. Jeder Lottogewinn, jeden Samstag, ist eine Einmischung in einen individuellen Lebenslauf. Damit muss man sorgfältig umgehen, verstehst du?

(Inzwischen hat die Lottomusik eingesetzt, die Moderatorin begrüßt die Zuschauer, und die gläserne Trommel mit den neunundvierzig kleinen weißen Bällen fängt an, sich zu drehen.)

 

Carla (zum Publikum):

Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich jetzt feuchte Hände bekam. Arne dagegen saß unbeweglich neben mir.

(Man sieht auf dem Bildschirm, wie die Trommel anhält und ihre Drehrichtung umkehrt. Einige der Kugeln werden von der langen gabel­artigen Vorrich­tung erfasst, die sie der Öffnung zuführt, dann fällt die erste Kugel in das röhrenförmige Auffang­gefäß. Es ist die Neun.)

 

Carla (unruhig, sie greift nach dem Lottoschein):

Die Neun! Hast du irgendwo die Neun?

Arne:

Natürlich hab ich die Neun. Ein paar Mal.

(Carla nimmt den Stift, den sie sich zurechtgelegt hat. Sie findet viermal die Neun angekreuzt und macht um jede einen Kringel. Die Trommel dreht sich inzwischen wieder, bleibt stehen, kehrt wieder um und entlässt ein zweites Mal einen der kleinen weißen Bälle. Es ist die Zehn)

 

(Carla schaut hastig auf den Lottoschein, sie findet zweimal die Zehn in Feldern, auf denen jeweils auch schon die Neun markiert ist)

 

Carla:

Hey! Fängt gut an! Zweimal zwei Richtige!

(Arne bewegt sich nicht)

 

(Die Trommel setzt sich zum dritten Mal in Bewegung. Die Sechsundvierzig fällt in die kleine Röhre)

 

Carla:

Drei! Deinen Einsatz hast du wenigstens wieder.

(Arne sieht Carla kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an, sein Blick ist etwas spöttisch. Er sagt nichts)

 

(Vierte Runde. Als die Kugeln bei der Rückwärts­drehung von der Gabel­bahn aufgenommen werden, versucht Carla die Zahlen auf der vordersten Kugel, die in den Glas­zylinder fallen würde, zu erkennen, aber es gelingt ihr nicht. Gespannt und nervös verfolgt sie, wie die Kugel sich dreht. Dann öffnet sich die Klappe, und die Kugel fällt. Es ist die Achtzehn)

 

Carla (zum Publikum):

Ich wusste, dass die Achtzehn in dem einen Feld angekreuzt war, in dem schon drei von meinen Kringeln waren. Ich hatte mir die restlichen drei Zahlen gemerkt, weil dieses Feld jetzt als einziges noch für einen großen Gewinn in Frage kam. Ah, war ich aufgeregt!

Carla (zu Arne):

Vier Richtige!!

(Arne schaut Carla strafend an, sagt aber nichts)

 

Carla:

Weißt du denn alle Zahlen auf dem Zettel auswendig?

Arne:

Nein, aber das brauch ich auch nicht, solange du hier so ein Theater aufführst. (Freundlich, ohne Spott:) Außerdem weiß ich sowieso, dass ich gewinne.

(Die Trommel dreht sich zum fünften Mal. Carla zwingt sich zur Ruhe, schließt die Augen)

 

Carla (zum Publikum):

In dem Feld hatte Arne noch die Fünfundzwanzig und die Sechsunddreißig angekreuzt.

(Als das Klacken der Kugel ertönt, reißt Carla die Augen wieder auf. Es ist die Fünfundzwanzig)

 

Carla (flüsternd):

Arne!

(Arne, mit geschlossenen Augen, brummt leise und zufrieden vor sich hin)

 

Carla (zum Publikum, während sich im Fernseher die Trommel dreht):

Als sich die Kugel zum sechsten Mal zu drehen begann, fühlte ich, wie mir der Schweiß den Rücken hinab rann. Das können Sie mir nachfühlen, oder? Jetzt musste nur noch die Sechsunddreißig fallen. Ich schloss die Augen, wie Arne.

(Sie schließt die Augen).

Durch die Musik hindurch war deutlich das Anhalten der Trommel zu hören, das klackende Geräusch der ständig gegeneinander prallenden kleinen Bälle verstummte für einen Moment, bevor es wieder einsetzte. Die Trommel war auf ihrem Rücklauf, jetzt mussten die Kugeln die lange gebogene Gabel entlang rollen, jetzt musste die Klappe aufgehen, jetzt, jetzt … Klack! Vor meinem inneren Auge sah ich, wie die Sechsund­dreißig in das Gefäß plumpste. Ich riss die Augen auf.

(Die Zahl auf der Kugel, die in das Röhrchen fällt, ist die Vier)

 

Carla (entsetzt):

Nein!

(Arne, der ebenfalls bis zu diesem Augenblick die Augen geschlossen hat, blickt irritiert auf. Er schaut auf den Bildschirm, sieht die Vier, greift dann zu dem Schein, als ob er nicht glauben könnte, was er sieht. Er blickt ratlos von einem Zahlenfeld zum andern und wieder zum Fernseher. Er schaut Carla verunsichert an)

 

Carla (erst ebenfalls verwirrt, dann fasst sie sich):

Also, ich … na ja … Mann, Arne, hey! Fünf Richtige! Das ist doch Klasse! Das ist ein Haufen Geld! Mensch, freu dich!

Arne (immer noch aus der Fassung, murrend):

Da stimmt was nicht.

(Inzwischen ist die Trommel zum letzten Mal angelaufen um die Zusatzzahl auszulosen. Beide schauen nur mit halbem Interesse auf den Bildschirm; Arne, weil er verwirrt ist, und Carla, weil sie sich über Arne ärgert)

 

Carla:

Wie kann man nur so verbohrt sein? Fünf Richtige, das sind doch auf jeden Fall ein paar tausend Euro! Wieso freust du dich undankbarer Kerl nicht darüber? Das ist ja peinlich!

(In diesem Augenblick fällt die Zusatzzahl, es ist die Sechsunddreißig. Carla schnappt nach Luft, Arne stöhnt auf)

 

Arne:

Wenigstens Fünf mit Zusatzzahl. Aber irgendwas stimmt trotzdem nicht.

Carla:

Du spinnst wohl! Was soll denn da nicht stimmen? Da regnet es einen Riesenhaufen Geld vom Himmel auf dich herunter und dir fällt nichts anderes ein, als dich zu beklagen! Du kannst wohl den Hals nicht voll genug kriegen!

Arne:

Nein, nein, du verstehst das nicht. Doch, ich freu mich. Und ich bin auch dankbar, wirklich. Aber ich versteh’s trotzdem nicht.

(Die beiden bleiben noch eine kurze Zeit ratlos vor dem Fernseher sitzen, dann stehen sie nacheinander auf, Carla schaltet den Apparat aus, Arne verabschiedet sich)

 

Arne (beim Abschied an der Tür):

Es wird schon seine Richtigkeit haben. Die wissen schon, was sie tun.