Leseproben aus: Paul Auster, Die Brooklyn-Revue



S. 7 f., 200 ff., 268 ff., 322 ff.



[1] Der Beginn des Romans. Der 59-jährige Nathan sucht einen Ort für seine letzte Lebenszeit (S. 7 f.)

[2] Lucy, die 9-jährige Tochter seiner Nichte Aurora (Rory), taucht bei Nathan und seinem Neffen Tom in Brooklyn auf. Da Rory unauffindbar ist und Lucy aus unbekannten Gründen nicht spricht, beschließen sie, Lucy zu Toms Stiefschwester Pamela nach Burlingten, Vermont, zu bringen, da sie glauben, dass das Kind dort am besten aufgehoben ist. Unterwegs machen sie wegen einer Autopanne (die Lucy heimlich herbeigeführt hat, weil sie von Nathan und Tom nicht weg will) in einem Hotel Station, dem "Chowder Inn". Die Tochter des Hotelbesitzers, Honey Chowder, serviert das Abendessen. (S. 200 ff.)

[3] Rachel, Nathans Tochter, erzählt ihrem Vater von Problemen in ihrer Ehe. Sie glaubt, dass ihr Mann Terrence eine Affäre mit einer anderen Frau hat. (S.268 ff.)

[4] Tom und Honey sind inzwischen ein Ehepaar. Honey erwartet ein Kind. Hier findet sich erwähnte "Hollywoodhafte" des Romans. (S. 322 ff.)




[1]

Der Beginn des Romans (S. 7 f.)


OUVERTÜRE

Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. Jemand empfahl mir Brooklyn, und so brach ich am nächsten Morgen von Westchester aus auf, um das Terrain zu sondieren. Ich war seit sechsundfünfzig Jahren nicht mehr dort gewesen und erinnerte mich an nichts. Meine Eltern waren aus der Stadt fortgezogen, als ich drei war, und doch fand ich instinktiv in die Gegend zurück, in der wir damals gewohnt hatten: Wie ein verprügelter Hund schlich ich mich nach Hause, zurück an den Ort meiner Geburt. Ein Makler führte mir sechs oder sieben Apartments in Brownstonehäusern vor, und am Ende des Nachmittags hatte ich eine Zweizimmer-Gartenwohnung in der First Street gemietet, nur einen halben Block vom Prospect Park entfernt. Ich hatte keine Ahnung, wer meine Nachbarn waren, und es kümmerte mich auch nicht. Sie arbeiteten alle ganztags. keiner von ihnen hatte Kinder, daher würde es in dem Gebäude relativ ruhig sein. Und danach sehnte ich mich mehr als nach irgendetwas sonst. Nach einem stillen Ende meines traurigen, lächerlichen Lebens.

Das Haus in Bronxville war bereits verkauft, Ende des Monats sollte es geräumt werden, und Geld wäre dann kein Problem. Meine Exfrau und ich hatten vor, den Erlös unter uns aufzuteilen, und mit vierhunderttausend Dollar würde ich mehr auf der Bank haben, als ich bis zu meinem letzten Atemzug benötigte.

Anfangs wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Einunddreißig Jahre lang hatte ich ein Pendlerleben zwischen den Vorstädten und den Manhattaner Büros der Mid-Atlantic Accident & Life geführt, und jetzt, ohne Arbeit, hatte mein Tag zu viele Stunden. Etwa eine Woche nach meinem Einzug kam meine verheiratete Tochter Rachel aus New Jersey herüber, um mich zu besuchen. Sie sagte, ich müsse irgendetwas tun, Pläne machen, mir etwas vornehmen. Rachel ist kein Dummkopf. Sie hat an der University of Chicago in Biochemie promoviert und arbeitet in der Forschungsabteilung eines großen Pharmakonzerns in der Nähe von Princeton, doch ähnlich wie bei ihrer Mutter vergeht selten ein Tag, an dem sie etwas anderes als Platituden von sich gibt – all diese ausgelaugten Phrasen von den Müllhalden zeitgenössischer Weisheit. Ich erklärte, bis zum Jahresende sei ich wahrscheinlich längst tot, also scheiß auf irgendwelche Pläne. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Rachel zu weinen anfangen, aber sie verkniff sich die Tränen und nannte mich stattdessen einen grausamen und egoistischen Menschen. Kein Wunder, dass «Mom» sich endlich von mir habe scheiden lassen, fügte sie hinzu, kein Wunder, dass sie das nicht mehr ausgehalten habe. Die Ehe mit einem wie mir müsse eine endlose Qual gewesen sein, die Hölle auf Erden. Die Hölle auf Erden. Ach, arme Rachel – sie kann einfach nicht anders. Seit neunundzwanzig Jahren bewohnt mein einziges Kind diese Erde, und nicht ein einziges Mal in dieser Zeit hat sie eine originelle Bemerkung von sich gegeben, irgendetwas, das eindeutig und uneingeschränkt von ihr gestammt hätte.

Ja, ich glaube auch, dass ich zuweilen fies sein kann. Aber nicht immer – und nicht aus Prinzip. An guten Tagen bin ich so nett und freundlich wie nur irgendwer. Wer seine Kunden ständig vor den Kopf stößt, kann nicht so erfolgreich Lebensversicherungen verkaufen, wie ich es immerhin drei Jahrzehnte lang getan habe. Da muss man einfühlsam sein. Da muss man zuhören können. Da muss man die Menschen zu bezaubern wissen. Das alles und mehr vermag ich. Ich bestreite nicht, dass ich auch meine schlechten Augenblicke hatte, aber jeder weiß doch, welche Gefahren hinter den geschlossenen Türen des Familienlebens lauern. Es kann für alle Beteiligten Gift sein, besonders wenn man dahinter kommt, dass man wahrscheinlich von vornherein nicht für die Ehe geschaffen war. Ich hatte sehr gern Sex mit Edith, aber nach vier oder fünf Jahren war die Leidenschaft verbraucht, und von da an war ich sicher kein perfekter Gatte mehr. Und wenn ich Rache! so höre, habe ich auch als Vater nicht viel getaugt. Ich möchte ihren Erinnerungen nicht widersprechen, aber die Wahrheit ist, dass ich den beiden auf meine Weise sehr zugetan war, und wenn ich mich gelegentlich in den Armen anderer Frauen fand, habe ich diese Affären doch nie ernst genommen. Die Scheidung war nicht meine Idee. Trotz allem hatte ich vor, bis zum Ende mit Edith zusammenzubleiben. Sie war es, die nicht mehr wollte, und in Anbetracht der Sünden und Fehltritte, die ich im Lauf der Jahre beging, konnte ich ihr daraus keinen Vorwurf machen. Dreiunddreißig Jahre hatten wir unter einem Dach gelebt, und als wir schließlich auseinander gingen, war unterm Strich kaum noch etwas übrig.



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[2]

Lucy, die 9-jährige Tochter seiner Nichte Aurora (Rory), taucht bei Nathan und seinem Neffen Tom in Brooklyn auf. Da Rory unauffindbar ist und Lucy aus unbekannten Gründen nicht spricht, beschließen sie, Lucy zu Toms Stiefschwester Pamela nach Burlingten, Vermont, zu bringen, da sie glauben, dass das Kind dort am besten aufgehoben ist. Unterwegs machen sie wegen einer Autopanne (die Lucy heimlich herbeigeführt hat, weil sie von Nathan und Tom nicht weg will) in einem Hotel Station, dem "Chowder Inn". Die Tochter des Hotelbesitzers, Honey Chowder, serviert das Abendessen. (S. 200 ff.)


Sie macht uns, wie von Stanley verheißen, ein ausgezeichnetes Abendessen. Brunnenkressesuppe, Schweinelendenbraten, Bohnen mit Mandeln, zum Nachtisch Crème caramel, dazu reichlich Wein. Nun tut mir Pamela mit ihrem verhinderten Festmahl doch ein wenig Leid, auch wenn ich bezweifle, dass uns in Burlington ein üppigeres Mahl erwartet hätte als das, was uns im Chowder Inn aufgetischt wird.

Die siegreiche Lucy, erlöst von drohender Knechtschaft, hat sich zum Essen umgezogen; sie trägt ihr rotweiß kariertes Kleid, die schwarzen Lackschuhe und weiße Söckchen mit Spitzensaum. Schwer zu sagen, ob Stanley sich nicht für das Verhalten anderer Menschen interessiert oder ob er einfach nur überaus taktvoll ist, jedenfalls hat er zu Lucys Schweigen noch nichts gesagt. Es ist seine scharfsichtige Tochter, die nach zehn Minuten unverblümt darauf zu sprechen kommt.

«Was hat sie?», fragt sie. «Kann sie nicht sprechen?» «Natürlich kann sie», antworte ich. «Aber sie will nicht.»

«Sie will nicht?», sagt Honey. «Was soll das heißen?» «Das ist ein Test», platze ich mit der erstbesten Lüge heraus, die mir in den Kopf kommt. «Lucy und ich haben gestern darüber gesprochen, was einem besonders schwer fallt, und wir fanden beide, so ziemlich das Schwerste ist es, einfach den Mund zu halten. Und dann haben wir eine Abmachung getroffen. Lucy hat erklärt, sie werde drei Tage lang kein Wort sagen. Für den Fall, dass sie das schafft, habe ich ihr fünfzig Dollar versprochen. Stimmt's, Lucy?»

Lucy nickt.

«Und wie viel Tage sind noch übrig?», fahre ich fort.

Lucy hebt zwei Finger.

Aha, denke ich, na bitte. Jetzt hat sie's endlich ausgespuckt. Noch zwei Tage, dann hat die Qual ein Ende.

Honey kneift die Augen zusammen, ihre Miene drückt Zweifel und Besorgnis aus. Kinder sind schließlich ihr Geschäft, und sie spürt, da stimmt etwas nicht. Aber da ich ihr fremd bin, stellt sie mich nicht wegen des fragwürdigen, bedenklichen Spiels zur Rede, das ich mit diesem kleinen Mädchen treibe, sondern geht das Problem von einer anderen Seite an.

«Warum ist das Kind nicht in der Schule?», fragt sie. «Heute ist Montag, der fünfte Juni. Die Sommerferien beginnen erst in drei Wochen.»

«Weil ... », greife ich krampfhaft nach dem nächsten Strohhalm, «Lucy eine Privatschule besucht ... und dort ist das Schuljahr kürzer als sonst. Bei ihr war schon am Freitag Schluss.»

Wieder bin ich überzeugt, dass Honey mir nicht glaubt.

Um ein Haar hätte sie die Grenze zur Unhöflichkeit überschritten, und jetzt gibt sie es auf, mich wegen Dingen zu verhören, die sie nichts angehen. Ich mag diese stämmige, ungenierte Frau, und ich mag auch ihren Vater, der mir gegenüber schweigend sein Essen kaut und seinen Wein trinkt, aber es liegt mir fern, sie in die Geheimnisse unserer Familie einzuweihen. Nicht dass ich mich unseretwegen schäme – aber, mein Gott, sage ich mir, was sind wir nur für eine Familie. Was für ein bunter Haufen verpfuschter, geschundener Seelen. Was für Musterexemplare menschlicher Unvollkommenheit. Ein Vater, dessen Tochter nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Ein Bruder, der seit drei Jahren nichts mehr von seiner Schwester gehört hat. Und ein kleines Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist und sich weigert, auch nur ein Wort zu sagen. Nein, ich habe nicht vor, den Chowders die Wahrheit über unseren kaputten, nichtsnutzigen Clan zu erzählen. Nicht heute Abend. Nicht heute Abend, und ganz gewiss auch nicht später.

Tom sieht das offenbar ähnlich, denn er schaltet sich hastig ein und versucht das Tischgespräch in eine andere Richtung zu lenken. Als Erstes fragt er Honey nach ihrer Arbeit. Wie lange sie das schon macht, aus welchen Motiven heraus sie überhaupt Lehrerin geworden ist, was sie vom Schulwesen in Brattleboro hält und so weiter. Seine höflich gelangweilten Fragen sind von einer geradezu lachhaften Banalität, und während er mit Honey spricht, sehe ich ihm an seiner Miene an, dass er keinerlei Anteil an ihr nimmt – sie interessiert ihn weder als Frau noch als Mensch. Aber Honey ist zu abgebrüht, als dass Toms Gleichgültigkeit sie davon abhalten würde, ihm klug und charmant zu antworten, und bald hat sie das Gespräch an sich gerissen und überhäuft unseren Jungen nun ihrerseits mit Fragen. Ihre Aggressivität bringt Tom für kurze Zeit aus der Fassung, doch als er begreift, dass seine Gesprächspartnerin es intellektuell mit ihm aufnehmen kann, zeigt er sich der Situation gewachsen und teilt ebenso viel aus, wie er einstecken muss. Mehr oder weniger stumm, aber ziemlich amüsiert verfolgen Stanley und ich den verbalen Schlagabtausch, der sich da vor unseren Augen abspielt. Wie kaum anders zu erwarten, kommen sie auch auf Politik und die im November anstehenden Wahlen zu sprechen. Tom zieht gegen die Machtübernahme durch die Rechten vom Leder. Er nennt den beinahe gelungenen Vernichtungsfeldzug gegen Clinton, die Machenschaften der Abtreibungsgegner, die Waffenlobby, die faschistische Propaganda in den Diskussionssendungen mancher Radiosender, die Feigheit der Presse, die Gesetzgebung einzelner Bundesstaaten, wonach die Evolutionslehre nicht mehr an den Schulen unterrichtet werden darf. «Wir marschieren rückwärts», sagt er. «Tag für Tag verlieren wir ein weiteres Stück unseres Landes. Wenn Bush gewählt wird, wird nichts mehr übrig bleiben.» Zu meiner Überraschung stimmt Honey ihm hundertprozentig zu. Für annähernd dreißig Sekunden herrscht Frieden, und dann erklärt sie, sie werde ihre Stimme Nader geben.

«Tun Sie das nicht», sagt Tom. «Jede Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush.»

«Falsch», sagt Honey. «Eine Stimme für Nader ist eine Stimme für Nader. Außerdem gewinnt in Vermont sowieso Gore. Wenn ich das nicht genau wüsste, würde ich mei-ne Stimme ihm geben. So aber kann ich meinen kleinen Protest bekunden und Bush trotzdem aus Washington fern halten.»

«In Vermont kenne ich mich nicht aus», sagt Tom, «aber fest steht, die Wahl wird äußerst knapp ausgehen. Und wenn in den jetzt noch unentschiedenen Bundesstaaten genug Leute so denken wie Sie, wird Bush die Wahl gewinnen.»

Honey kann nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken.

Tom ist so verdammt ernst, dass es sie in den Fingern juckt, ihn mit irgendeiner verrückten, bizarren Bemerkung von seinem hohen Ross zu holen. Ich sehe den Witz schon kommen und drücke beide Daumen, dass es ein guter wird.

«Wissen Sie, was passiert ist, als das letzte Mal eine Nation auf einen Busch gehört hat?», fragt Honey.

Niemand sagt ein Wort.

«Die Menschen sind für vierzig Jahre in die Wüste gegangen.»



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[3]

Rachel, Nathans Tochter, erzählt ihrem Vater von Problemen in ihrer Ehe. Sie glaubt, dass ihr Mann Terrence eine Affäre mit einer anderen Frau hat. (S.268 ff.)


«Sie ist eine verhuschte graue Maus mit fettigen braunen Haaren und schlechter Haut.»

«Klingt mir nicht nach einer echten Konkurrentin.»

«Sie und Terrence haben zusammen studiert. Sie war seine erste große Liebe. Dann hat sie sich in einen anderen verliebt und ihn sitzen lassen. Deshalb ist er nach Amerika gegangen. Er war vollkommen am Boden zerstört, Dad. Er hat mir erzählt, dass er sich umbringen wollte.»

«Und jetzt ist dieser andere weg vom Fenster.»

«Das weiß ich eben nicht. Fest steht nur, dass wir drei in London mal zusammen essen waren und Terrence sie die ganze Zeit angestarrt hat. Als ob ich gar nicht dabei gewe-sen wäre. Danach hat er nur noch von ihr geredet. Georgina ist so klug. Georgina ist so witzig. Georgina ist so ein guter Mensch. Zwei Tage später sind die beiden ohne mich essen gegangen. Dann haben wir seine Eltern in Cornwall besucht, aber nach drei oder vier Tagen ist er mit dem Zug nach London zurück, um mit seinem Verleger über das Buch zu sprechen, an dem er gerade arbeitete. Jedenfalls hat er das behauptet. Ich vermute, er ist da hin, um diese blöde Georgina Watson wiederzusehen, die Liebe seines Lebens. Das war furchtbar. Er hat mich einfach da draußen mit seinen rechtsradikalen, antisemitischen Eltern allein gelassen, und ich musste auch noch so tun, als fände ich das ganz großartig. Er hat mit ihr geschlafen. Das weiß ich. Er hat mit ihr geschlafen, und jetzt liebt er mich nicht mehr,»

«Hast du ihn gefragt?»

«Was glaubst du denn? Gleich, als er wieder zu seinen Eltern zurückkam. Es gab einen grässlichen Streit. Den schlimmsten Streit, seit wir uns kennen.»

«Und was hat er gesagt?»

«Er hat alles abgestritten. Hat gesagt, ich sei eifersüchtig und sehe Gespenster.»

«Das ist ein gutes Zeichen, Rachel.»

«Gut? Was soll das denn heißen? Er hat mich belogen, und jetzt werde ich nie mehr Vertrauen zu ihm haben können.»

«Nimm mal das Schlimmste an. Nimm an, er hat mit ihr geschlafen, ist zurückgekommen und hat dich belogen. Das ist immer noch ein gutes Zeichen.» «Wie kannst du das nur sagen?»

«Weil es bedeutet, dass er dich nicht verlieren will. Dass er die Ehe mit dir fortsetzen will.»

«Was ist denn das für eine Ehe? Wenn man dem Mann, mit dem man verheiratet ist, nicht mehr trauen kann – das ist doch, als wäre man gar nicht verheiratet.»

«Schau, mein Küken, es liegt mir fern, dir gute Ratschläge zu geben. Wenn es um die Ehe geht, bin ich ein denkbar ungeeigneter Ratgeber. Du hast die ersten achtzehn Jahre deines Lebens mit mir in einem Haus gelebt, und ich brauche dich nicht daran zu erinnern, was für einen Mist ich in meiner Ehe gebaut habe. Es gab Zeiten, da hatte ich deine Mutter so satt, dass ich ihr tatsächlich den Tod gewünscht habe. Ein Autounfall, ein Zugunglück, ein tödlicher Sturz im Treppenhaus – an solches Zeug habe ich gedacht. Es ist entsetzlich, so etwas zu sagen, und glaub bitte nicht, dass ich stolz auf mich bin, aber es ist wichtig, dass du begreifst, was wirklich eine schlechte Ehe ist. Deine Mutter und ich haben eine schlechte Ehe geführt. Eine Zeit lang haben wir uns geliebt, und dann ist alles den Bach runtergegangen. Trotzdem haben wir noch lange Zeit weitergemacht, und so schlecht es uns auch ging, wir haben immerhin noch dich zustande gebracht. Du bist das Happy End der ganzen tragischen Geschichte, und weil du bist, wer du bist, bedaure ich nichts, gar nichts. Verstehst du mich, Rachel? Ich kenne Terrence nicht gut genug, als dass ich mir eine Meinung zu ihm erlauben könnte. Aber eins weiß ich: Ihr führt keine schlechte Ehe. Menschen machen Fehler. Begehen Dummheiten. Nur befindet Georgina sich jetzt auf der anderen Seite des Ozeans, und falls du es nicht mit einem unheilbaren Schürzenjäger zu tun hast, dürfte diese kleine Episode damit vorbei sein. Du musst jetzt eine Weile durchhalten und abwarten, was passiert. Du darfst nichts überstürzen. Er hat dir seine Unschuld beteuert - wer weiß, vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt? Eine alte Liebe wird man nicht so einfach los. Mag sein, dass Terrence dir für kurze Zeit untreu geworden ist, aber jetzt ist er wieder mit dir in Amerika, und wenn du ihn so liebst, wie du sagst, stehen die Chancen nicht schlecht, dass alles gut wird. Solange er sich nicht zu so einem miesen Ehemann entwickelt, wie dein Vater einer war, gibt es Hoffnung. Große Hoffnung. Hoffnung auf eine glückliche gemeinsame Zukunft. Hoffnung auf Kinder. Hoffnung auf Katzen und Hunde. Hoffnung auf Bäume und Blumen. Hoffnung für Amerika. Hoffnung für England. Hoffnung für die Welt.



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[4]

Tom und Honey (s.o. ) sind inzwischen ein Ehepaar. Honey erwartet ein Kind. Hier findet sich erwähnte "Hollywoodhafte" des Romans. (S. 322 ff.)


An einem Donnerstagabend Anfang Juni verkündete Honey, dass sie schwanger sei. Tom legte ihr einen Arm um die Schulter, beugte sich über den Esstisch und fragte mich, ob ich der Pate des Kindes sein wolle. «Jemand anders kommt für uns nicht in Frage», sagte er. «Für geleistete Dienste, Nathan, die weit über jede familiäre Pflicht hinausgegangen sind. Für außerordentlichen Mut im heftigsten Kampfgetümmel. Dafür, dass du Leib und Leben riskiert hast, deinen verwundeten Kameraden unter schwerem Beschuss zu retten. Dafür, dass du diesen Kameraden wieder auf die Beine gestellt und zu dieser ehelichen Verbindung gedrängt hast. In Anerkennung dieser Heldentaten und zu Nutz und Frommen unserer künftigen Nachkommen verdienst du, einen Titel zu tragen, der deiner Rolle weitaus angemessener ist als der des Großonkels. Daher benenne ich dich zum Paten – falls du unserer demütigen Bitte entsprichst und diese Last auf dich zu nehmen geruhst. Wie lautet die Antwort, werter Herr? Wir erwarten sie mit pochendem Herzen.» Die Antwort lautete ja. Ja, und daran anschließend ein langwieriges Gemurmel, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr erinnern kann. Dann hob ich mein Glas, trank ihnen zu und spürte verwundert, wie meine Augen sich mit Tränen füllten.

Drei Tage später kamen Rachel und Terrence von New Jersey herüber zum Sonntagsbrunch in meiner Wohnung. Joyce half mir beim Belegen der Brote, und als wir vier dann im Garten saßen und unsere Bagels mit Lachs verzehrten, fiel mir auf, dass meine Tochter so reizend und glücklich aussah wie nie in den vergangenen Monaten. Die Fehlgeburt im Herbst war eine grausame Enttäuschung gewesen, und danach hatte sie ziemlich den Boden unter den Füßen verloren – hatte ihre Trauer überspielt, indem sie sich in die Arbeit stürzte, komplizierte Gourmetspeisen für Terrence zubereitete, um zu beweisen, dass sie trotz ihrer Unfähigkeit, ein Kind auszutragen, eine gute Ehefrau sein konnte, und sich bis zur Erschöpfung verausgabte. Aber an diesem Tag bei mir im Garten funkelte wieder das alte Feuer in ihren Augen, und obwohl sie in Gesellschaft normalerweise eher zurückhaltend war, nahm sie an unserem Gespräch lebhaft teil und redete mindestens ebenso viel wie wir anderen. Einmal entschuldigte sich Terrence und ging ins Haus, um die Toilette aufzusuchen, und gleich darauf lief Joyce in die Küche, um eine frische Kanne Kaffee zu holen. Rachel und ich blieben allein zurück. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte ihr, wie schön sie sei, und sie beantwortete das Kompliment, indem sie den Kuss erwiderte und dann ihren Kopf an meine Schulter legte. «Ich bin wieder schwanger», sagte sie. «Heute früh habe ich den Test gemacht, und das Ergebnis war positiv. In mir wächst ein Baby, Dad, und diesmal wird es nicht sterben. Ich verspreche es dir. Ich mache dich zum Großvater, und wenn ich die nächsten sieben Monate im Bett bleiben muss.»

Zum zweiten Mal in weniger als zweiundsiebzig Stunden traten mir unerwartet Tränen in die Augen.

Überall um mich her schossen Schwangere wie Pilze aus dem Boden, und so langsam fühlte ich mich selbst fast wie eine Frau: ein Mensch, der bei der bloßen Erwähnung von Babys zu weinen anfing, ein gefühlsduseliger Trottel, der immer eine Packung Papiertaschentücher dabeihaben musste, um in der Öffentlichkeit nicht peinlich aufzufallen. Das Haus in der Carroll Street mochte mit schuld sein an diesem Schwinden meiner männlichen Würde. Ich verbrachte dort sehr viel Zeit, und seitdem Nancys Mann aus- und Aurora und Lucy eingezogen waren, schwangen in diesem Haushalt ausschließlich Frauen das Zepter. Der einzige männliche Bewohner war Sam, Nancys drei Jahre alter Sohn, aber da er noch kaum sprechen konnte, war sein Einfluss auf das Geschehen dort arg beschränkt. Ansonsten lebten dort nur Frauen, drei Generationen weiblicher Wesen: Joyce an der Spitze, Nancy und Aurora in der Mitte und die zehnjährige Lucy und die fünf jährige Devon am unteren Ende. Die Räume des Hauses bildeten ein lebendiges Museum weiblicher Gebrauchsgegenstände; ausgestellt waren BHs und Höschen, Haartrockner und Tampons, Schminkdosen und Lippenstifte, Puppen und Springseile, Nachthemdehen und Haarklemmen, Brennscheren und Gesichtscremes und endlose, endlose Reihen von Schuhen. Man kam sich dort vor wie zu Besuch in einem fremden Land, aber da ich jede Person, die dort lebte, verehrte und bewunderte, zog ich diesen Ort jedem anderen auf der Welt vor.



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