Leseproben aus: Paul Auster, Mond über Manhattan



S. 81 ff., 256 ff.



[1] M. S. Fogg, der Erzähler der Geschichte, lässt sich auf seinem Selbstfindungstrip so weit sinken, dass er als Penner im Central Park von Abfällen lebt. (S. 81 ff.)

[2] Fogg hat eine Stellung bei einem sehr reichen, sehr alten, sehr seltsamen Mann angenommen: Thomas Effing. Als dieser spürt, dass sein Leben zu Ende geht, verfällt er einmal mehr auf eine bizarre Idee (S. 256 ff.)






[1]

M. S. Fogg, der Erzähler der Geschichte, lässt sich auf seinem Selbstfindungstrip so weit sinken, dass er als Penner im Central Park von Abfällen lebt. (S. 81 ff.)

Einen Teil jedes Tages verbrachte ich im Park mit der Suche nach Nahrung. Das half die Ausgaben niedrig halten und zögerte außerdem den Augenblick hinaus, wo ich mich wieder auf die Straße wagen mußte. Die Straßen machten mir immer größere Angst, und ich war so ziemlich zu allem bereit, um nur nicht dorthin zu müssen. Besonders hilfreich in dieser Beziehung waren die Wochenenden. Bei gutem Wetter kamen die Leute in Scharen in den Park, und ich fand bald heraus, daß die meisten sich etwas zu essen dorthin mitbrachten: alle möglichen Lunchpakete und Snacks, mit denen sie sich nach Herzenslust vollstopften. Da wurde natürlich viel weggeworfen, Unmengen von eßbarem Abfall. Ich brauchte eine Weile, um mich darauf einzustellen, aber nachdem ich einmal die Vorstellung akzeptiert hatte, mir Sachen in den Mund zu stecken, die bereits von anderen Mündern berührt worden waren, standen mir gewaltige Nahrungsmengen zur Verfugung. Pizzaränder, Stücke von Hot dogs, Reste von belegten Baguettes, dazwischen Dosen mit Sodawasser - die Wiesen und Felsen waren übersät damit, die Abfalleimer platzten regelrecht aus den Nähten. Um meiner Zimperlichkeit einen Streich zu spielen, begann ich den Mülleimern lustige Namen zu geben. Ich nannte sie zylindrische Restaurants, Eßwundertüten, städtische Care-Pakete - Hauptsache, ich hielt mich davon ab, sie beim richtigen Namen zu nennen. Einmal, als ich gerade in einem herumwühlte, trat ein Polizist auf mich zu und fragte, was ich da machte. Völlig fassungslos stammelte ich ein paar Worte, bis ich damit herausplatzte, ich sei Student. Ich arbeite an einem Stadtforschungsprojekt, sagte ich, und habe den ganzen Sommer über statistische und soziologische Untersuchungen über den Inhalt von Abfalleimern angestellt. Um meine Geschichte glaubhafter zu machen, zog ich meinen Studentenausweis von der Columbia aus der Tasche und hoffte nur, der Polizist würde nicht merken, daß er im Juni abgelaufen war. Er musterte kurz das Bild, sah mir ins Gesicht, verglich es noch einmal mit dem Bild und zuckte dann die Achseln. Passen Sie nur auf, daß Sie den Kopf nicht zu tief da reinstecken, sagte er. Sonst könnten Sie mal drin steckenbleiben.

Das soll nicht heißen, daß mir das angenehm war. Es war durchaus nicht romantisch, sich nach Krümeln zu bücken, und der anfängliche Reiz des Neuen war schnell vorbei. Ich erinnerte mich an eine Szene in einem Buch, das ich mal gelesen hatte, Lazarillo de Tormes; darin läuft ein hungriger Hidalgo mit einem Zahnstocher im Mund herum, um den Eindruck zu erwecken, er komme gerade von einem großen Mahl. Auch ich verlegte mich nun auf diese Maskerade und nahm mir immer eine Handvoll Zahnstocher mit, wenn ich in irgendeinem Lokal eine Tasse Kaffee trinken ging. So hatte ich in den unausgefüllten Zeiten zwischen den Mahlzeiten immer etwas zu beißen, aber ich bildete mir auch ein, meinem Äußeren damit eine gewisse unbefangene Note zu geben, quasi Selbstgenügsamkeit und Ruhe auszustrahlen. Das war nicht viel, aber ich brauchte alle Requisiten, die ich finden konnte. Besonders schwer fiel es mir, mich einem Mülleimer zu nähern, wenn ich das Gefühl hatte, von anderen beobachtet zu werden, und ich bemühte mich immer, so diskret wie möglich vorzugehen. Wenn mein Hunger sich im allgemeinen gegen meine Hemmungen durchsetzte, dann schlichtweg deshalb, weil er zu mächtig war. Mehrmals hörte ich Leute über mich lachen, und ein- oder zweimal zeigten kleine Kinder in meine Richtung und sagten zu ihren Müttern, sie sollten mal den komischen Mann anschauen, der da aus der Mülltonne esse. So etwas vergißt man nie, ganz gleich, wieviel Zeit seither vergangen ist. Ich mühte mich, meine Wut zu beherrschen, aber ich erinnere mich an mindestens einen Zwischenfall, wo ich einen kleinen Jungen so grimmig anknurrte, daß er in Tränen ausbrach. Im großen und ganzen jedoch gelang es mir, diese Demütigungen als natürliche Bestandteile meines gegenwärtigen Lebens zu akzeptieren. Wenn ich mich besonders stark fühlte, deutete ich sie als spirituelle Initiationsriten, als Hindernisse, die mir in den Weg geworfen wurden, um mein Selbstvertrauen zu prüfen. Wenn ich lernte, sie zu meistern, würde ich am Ende einen höheren Bewußtseinszustand erreichen. Wenn ich mich weniger überschwenglich fühlte, betrachtete ich mich eher aus einer politischen Perspektive, in der Hoffnung, meinen Zustand dadurch rechtfertigen zu können, daß ich ihn als Herausforderung an den American way of life interpretierte. Ich sei ein Werkzeug der Sabotage, sagte ich mir, ein loser Teil in der Staatsmaschine, ein Außenseiter, der die Aufgabe habe, den Sand im Getriebe zu spielen. Niemand könne mich ansehen, ohne Scham, Wut oder Mitleid zu empfinden. Ich sei der lebendige Beweis dafür, daß das System versagt habe, daß das selbstgefällige, überfütterte Land des Überflusses nun endlich zu Bruch gehe.

Gedanken wie diese beschäftigten mich über weite Teile des Tages. Ich war mir stets aufs schärfste bewußt, was mit mir passierte, aber kaum passierte etwas, da reagierte mein Geist auch schon darauf, entbrannte in agitatorischer Leidenschaft. Mir schwirrte der Kopf vor papierenen Theorien, Wortgefechten, ausgefeilten Selbstgesprächen. Später, nach meiner Rettung, wurde ich von Zimmer und Kitty immer wieder gefragt, wie ich es nur fertiggebracht hätte, so viele Tage lang nichts zu tun. Ob ich mich nicht gelangweilt hätte, wollten sie wissen. Ob ich das nicht sehr öde gefunden hätte. Die Fragen waren vernünftig, aber in Wahrheit habe ich mich nie gelangweilt. Ich war im Park allen möglichen Stimmungen und Gefühlen unterworfen, doch Langeweile gehörte nicht dazu. Wenn ich nicht mit praktischen Angelegenheiten beschäftigt war (einen Platz zum Schlafen suchen, für meinen Magen sorgen), hatte ich immer eine Menge anderer Sachen zu tun. Am Vormittag fand ich meist in irgendeinem Abfalleimer eine Zeitung, und im Verlauf der nächsten Stunde studierte ich gewissenhaft die Seiten, um nicht den Anschluß an den Lauf der Welt zu verlieren. Der Krieg ging natürlich weiter, und es gab auch noch andere Ereignisse: Chappaquiddick, die Acht von Chicago, den Black-Panther-Prozeß, eine zweite Mondlandung, die Mets. Mit besonderem Interesse verfolgte ich den spektakulären Untergang der Cubs, ich fand es erstaunlich, wie gründlich die Mannschaft durcheinandergeraten war. Kaum zu übersehen waren für mich die Zusammenhänge zwischen ihrem Sturz von der Spitze und meiner eigenen Situation, auch wenn ich nichts davon persönlich nahm. Im Grunde freute ich mich sogar ziemlich über das gute Abschneiden der Mets. Deren Vergangenheit war noch entsetzlicher als die der Cubs, und ihr plötzliches, völlig unwahrscheinliches Auftauchen aus der Versenkung schien mir zu beweisen, daß in dieser Welt alles möglich sei. Tröstlich war dieser Gedanke nicht. Das Kausalitätsgesetz als heimlicher Herrscher des Universums hatte abgedankt: Unten war oben, die letzten waren die ersten, das Ende war der Anfang. Heraklit war von seinem Misthaufen wiederauferstanden, und was er uns zu zeigen hatte, war die einfachste aller Wahrheiten: Die Wirklichkeit war ein Jo-Jo, beständig war nur die Veränderung.


nach oben



[2]

Fogg hat eine Stellung bei einem sehr reichen, sehr alten, sehr seltsamen Mann angenommen: Thomas Effing. Als dieser spürt, dass sein Leben zu Ende geht, verfällt er einmal mehr auf eine bizarre Idee (S. 256 ff.)

Draußen mußte ich ihn dann auf eine der Verkehrsinseln mitten auf dem Broadway schieben. Ein geräuschvoller Ort, Autos und Lastwagen rumpelten zu beiden Seiten an uns vorbei, aber Effing schien den Lärm gar nicht zu bemerken. Erfragte mich, ob jemand auf der Bank sitze, und als ich ihm versicherte, sie sei leer, sagte er mir, ich solle mich setzen. Die Tasche mit beiden Armen an die Brust gedrückt, dazu die dunkle Brille im Gesicht, wirkte er heute noch weniger menschlich als sonst, eher wie ein zu groß geratener Kolibri, der eben aus dem Weltraum gelandet war.

"Bevor wir anfangen, möchte ich meinen Plan mit Ihnen besprechen", sagte er. "In der Bank kann man nicht reden, und in der Wohnung hätte uns dieses zudringliche Weib belauschen können. Sie haben sich vermutlich schon eine Menge Fragen gestellt, und da Sie hierbei mein Gehilfe sein werden, wird es Zeit, mit der Sache herauszurücken."

"Ich dachte mir schon, daß Sie früher oder später darauf zu sprechen kommen würden."

"Die Sache ist die, junger Mann. Meine Zeit ist fast abgelaufen, und aus diesem Grund habe ich in den letzten Monaten meine Angelegenheiten geregelt. Ich habe mein Testament aufgesetzt, ich habe meinen Nachruf geschrieben, ich habe einiges in Ordnung gebracht. Nur eins beunruhigt mich noch - man könnte es eine unbeglichene Schuld nennen —, und nachdem ich jetzt ein paar Wochen darüber nachdenken konnte, bin ich endlich auf eine Lösung gekommen. Vor zweiundfünfzig Jahren habe ich, Sie werden sich erinnern, einen Sack voll Geld gefunden. Ich nahm dieses Geld an mich und benutzte es, um noch mehr Geld daraus zu machen, Geld, von dem ich seither gelebt habe. Jetzt, wo mein Ende bevorsteht, brauche ich diesen Sack voll Geld nicht mehr. Was soll ich also damit machen? Das einzig Vernünftige scheint mir zu sein, es zurückzugeben."

"Zurückgeben? Aber wem wollen Sie es geben? Die Greshams sind tot, und denen hat es ja gar nicht gehört. Die haben das Geld von Leuten gestohlen, die Sie nicht kennen, von anonymen Fremden. Selbst wenn es Ihnen gelänge herauszufinden, wer das war, dürften sie inzwischen alle längst tot sein."

"Ganz recht. Die Leute sind jetzt alle tot, und ihre Erben aufzuspüren dürfte unmöglich sein."

"Genau das sagte ich doch gerade."

"Sie sagten auch, diese Leute seien anonyme Fremde. Denken Sie darüber mal einen Augenblick nach. Wenn es in dieser gottverlassenen Stadt eins im Überfluß gibt, dann sind es anonyme Fremde. Die Straßen sind voll davon. Anonyme Fremde, wohin Sie auch blicken. Millionen davon laufen hier rum."

"Das kann nicht Ihr Ernst sein."

"Natürlich ist das mein Ernst. Ich meine es immer ernst. Das sollten Sie inzwischen wissen."

"Sie wollen also sagen, wir sollen durch die Straßen ziehen und irgendwelchen Fremden Fünfzig-Dollar-Scheine in die Hand drücken? Das wird einen Aufstand geben. Die Leute werden durchdrehen, die reißen uns in Stücke."

"Nicht, wenn wir die Sache richtig anfangen. Es kommt nur auf einen vernünftigen Plan an, und den haben wir. Vertrauen Sie mir, Fogg. Das wird das Größte, was ich je gemacht habe, die Krönung meines Lebens!"

Sein Plan war sehr einfach. Anstatt am hellichten Tag durch die Straßen zu gehen und jedem Vorbeikommenden Geld zu geben (was zu einem unkontrollierbaren Volksaufstand geführt hätte), würden wir in einigen sorgfaltig ausgewählten Gebieten eine Reihe von blitzartigen Guerillaangriffen durchführen. Die ganze Operation sollte sich über einen Zeitraum von zehn Tagen erstrecken; bei jedem Vorstoß würden nicht mehr als vierzig Leute Geld erhalten, was die Wahrscheinlichkeit irgendwelcher Ärgernisse drastisch verringerte. Ich sollte das Geld in meinen Taschen tragen, und falls uns jemand überfiele, würde er uns höchstens zweitausend Dollar rauben können. Das restliche Geld würde derweil ganz ungefährdet zu Hause in der Tasche liegen. Wir würden das gesamte Stadtgebiet abdecken, sagte Effing, nie an aufeinanderfolgenden Tagen benachbarte Bezirke aufsuchen. An einem Tag ginge es in den Norden, am nächsten in den Süden; montags zur East Side, dienstags zur West Side. Nirgends würden wir uns so lange aufhalten, daß die Leute dahinterkommen könnten, was wir da eigentlich machten. Unsere eigene Wohngegend würden wir uns bis zum Ende aufsparen. Damit sähe das Unternehmen wie ein einmaliges Ereignis aus, und ehe sich irgendwer an uns vergreifen könnte, wäre die ganze Sache auch schon vorbei.

Ich sah sofort ein, daß ich ihn nicht daran hindern konnte. Er hatte sich dazu entschlossen, also versuchte ich gar nicht erst, es ihm auszureden, sondern bemühte mich nur, seinen Plan so sicher wie möglich zu machen. Der Plan sei nicht übel, sagte ich, doch hinge alles davon ab, zu welcher Tageszeit wir unsere Ausflüge unternehmen würden. Die Nachmittage seien zum Beispiel nicht sehr günstig. Dann seien zu viele Leute auf der Straße, und entscheidend sei ja gerade, das Geld jedem einzelnen so zu überreichen, daß niemand sonst etwas davon mitbekomme. Nur so ließen sich etwaige Störungen auf ein Minimum begrenzen.

"Hmm", sagte Effing, der mir sehr konzentriert zuhörte. "Welche Zeit schlagen Sie also vor, Junge?"

"Den Abend. Nach Arbeitsschluß, aber nicht so spät, daß wir in irgendeiner verlassenen Straße landen könnten. Sagen wir, zwischen halb acht und zehn."

"Mit anderen Worten: nach unserem Abendessen. Also eine Art Verdauungsspaziergang."

"Genau."

"Abgemacht, Fogg. Nach Einbruch der Dämmerung werden wir losziehen, zwei Robin Hoods auf der Jagd, bereit, unsere Großzügigkeit an den Glücklichen zu erweisen, die uns über den Weg laufen."

"Sie sollten auch über die Transportfrage nachdenken. Die Stadt ist groß, und einige Orte, die wir aufsuchen werden, liegen meilenweit entfernt. Wenn wir das alles zu Fuß machen, wird es an manchen Abenden schrecklich spät werden. Und falls wir mal schnell irgendwo weg müßten, könnten wir in Schwierigkeiten geraten."

"Weibisches Gerede, Fogg. Uns wird nichts passieren. Wenn Ihre Beine müde werden, nehmen wir ein Taxi. Und solange Sie gehen können, gehen wir."

"Ich habe nicht an mich gedacht. Ich möchte nur, daß Sie wissen, worauf Sie sich einlassen. Haben Sie schon daran gedacht, einen Wagen zu mieten? Dann könnten wir jederzeit im Handumdrehn verschwinden. Wir brauchten nur einzusteigen, und der Fahrer würde uns wegbringen."

"Ein Fahrer! Eine groteske Idee! Damit verlöre das Ganze seinen Sinn."

"Ich wüßte nicht warum. Es geht doch darum, das Geld wegzugeben, aber deswegen braucht man nicht in der kalten Frühjahrsluft durch die Stadt zu latschen. Es wäre eine Dummheit, krank zu werden, nur weil Sie versuchen, großzügig zu sein."

"Ich möchte aber herumstreifen können, die Situationen erspüren, wie sie sich ergeben. Im Auto kann man das nicht. Dazu muß man auf der Straße sein, die gleiche Luft atmen wie die anderen auch."

"War ja nur ein Vorschlag."

"Behalten Sie Ihre Vorschläge für sich. Ich fürchte mich vor nichts, Fogg, dafür bin ich zu alt, und je weniger Sorgen Sie sich meinetwegen machen, desto besser. Wenn Sie mitmachen, gut. Aber sobald Sie einmal mitmachen, haben Sie den Mund zu halten. Wir werden diese Sache auf meine Art durchführen, komme, was da wolle."


nach oben


         
         
         
         
     
Ausdrucken