Leseproben aus: Paul Auster, Unsichtbar



S. 48 ff., 113 f., 193, 228



[1] Adam Walker, der Ich-Erzähler des ersten Kapitels, ist bei Born eingeladen. Dieser betrinkt sich. (S. 48 ff.)

[2] Das zweite Kapitel, in der 2. Person geschrieben, wendet sich an Adam Walker als Adressaten (S. 113 f.)

[3] Das 3. Kapitel ("Herbst") erzählt nun von Adam Walker in der dritten Person. Ich habe zwei Abschnitte ausgewählt, bei denen ich die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Ende lenken möchte. (S. 193 u. 228)




[1]

Adam Walker, der Ich-Erzähler des ersten Kapitels, ist bei Born eingeladen. Dieser betrinkt sich. (S. 48 ff.)

Danach gingen wir zum Salat über, gefolgt von einer Auswahl französischer Käse und einem Dessert, das Margot am Nachmittag gebacken hatte (Apfeltarte? Himbeertarte?), und in dieser halben Stunde war von dem Drama, das zu Beginn der Mahlzeit aufgeflammt war, immer weniger zu spüren. Born wurde mir gegenüber wieder freundlicher, und auch wenn er nicht aufhörte, ein Glas Wein nach dem anderen zu trinken, war ich nun zuversichtlich, dass wir das Essen ohne weitere Ausbrüche oder Beleidigungen von Seiten meines launischen, angesäuselten Gastgebers beenden würden. Dann öffnete er eine Flasche Brandy, steckte sich eine seiner kubanischen Zigarren an und begann, von Politik zu reden.

Zum Glück wurde es nicht so grauenhaft, wie man hätte befürchten können. Er hatte, als er den Cognac einschenkte, schon schwer einen sitzen, und nach wenigen Schlucken dieser brennenden, bernsteinfarbenen Flüssigkeit war er so weggetreten, dass an ein vernünftiges Gespräch nicht mehr zu denken war. Ja, er nannte mich abermals einen Feigling, weil ich nicht nach Vietnam wollte, aber die meiste Zeit redete er mit sich selbst, verfiel in einen ausgedehnten, hin und her schweifenden Monolog über alle möglichen verschiedenen Themen, während ich schweigend zuhörte und Margot in der Küche Töpfe und Pfannen spülte. Unmöglich, mehr als Bruchstücke von dem wiederzugeben, was er sagte, aber die Hauptpunkte habe ich behalten, insbesondere seine Erinnerungen an Kampfhandlungen in Algerien, wo er als Angehöriger der französischen Armee zwei Jahre lang dreckige arabische Terroristen verhörte und jeglichen Glauben an irgendwelche Ideale von Gerechtigkeit verlor, die er einmal gehabt haben mochte. Schwülstige Erklärungen, wüste Verallgemeinerungen, verbitterte Behauptungen über die Korruptheit sämtlicher Regierungen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; links, rechts und Mitte –, und dass unsere sogenannte Zivilisation nichts anderes sei als eine dünne Tünche zur Tarnung von Barbarei und Grausamkeit, die sich dahinter austobten wie eh und je. Menschen seien Tiere, sagte er, und feingeistige Ästheten wie ich seien nicht besser als Kinder, die mit philosophischen Haarspaltereien über Kunst und Literatur herumspielten, um sich nur nicht der elementaren Wahrheit der Welt stellen zu müssen. Macht sei die einzige Konstante, und das Gesetz des Lebens laute: töten oder getötet werden, herrschen oder der Grausamkeit von Ungeheuern zum Opfer fallen. Er sprach von Stalin und den Millionen, die während der Kollektivierung in den Dreißigern ihr Leben verloren. Er sprach von den Nazis und vom Krieg, und dann kam er mit der erschreckenden Hypothese, Hitlers Bewunderung für die Vereinigten Staaten habe ihn dazu inspiriert, die amerikanische Geschichte zum Vorbild für seine Eroberung Europas zu nehmen. Sehen Sie sich die Parallelen an, sagte Born, und es ist nicht so weit hergeholt, wie man meinen sollte: die Vernichtung der Indianer wird zur Vernichtung der Juden; die Ausdehnung nach Westen, um an die natürlichen Rohstoffe zu gelangen, wird zur Ausdehnung nach Osten zu genau demselben Zweck; die Versklavung der Schwarzen, um billige Arbeitskräfte zu gewinnen, wird zur Unterwerfung der slawischen Völker, ebenfalls zum selben Zweck. Lang lebe Amerika, Adam, sagte er und schenkte uns noch einmal Cognac nach. Lang lebe die Finsternis in uns.


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[2]

Das zweite Kapitel, in der 2. Person geschrieben, wendet sich an Adam Walker als Adressaten (S. 113 f.)

Du liebst deine Eltern noch, aber du kannst sie nicht mehr besonders leiden. Zu dieser Erkenntnis bist du gekommen, nachdem deine Schwester aufs College gegangen ist und dich für die letzten bei den Highschool-Jahre mit ihnen alleingelassen hat, und als du schließlich selbst aufs College gegangen bist, hast du dich gefühlt, als seist du aus dem Gefängnis ausgebrochen. Nicht dass du dir etwas auf dieses Gefühl einbildest – im Gegenteil, es widert dich an, du bist entsetzt von deiner Kälte und Herzlosigkeit –, und du beschimpfst dich unablässig, weil du Geld von deinem Vater annimmst, der für dich sorgt und deine Ausbildung finanziert, aber du musst studieren, um nicht bei ihm und deiner Mutter sein zu müssen, und da du über kein eigenes Geld verfügst und dein Vater so viel verdient, dass du kein Stipendium bekommen kannst, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich in der Schande deiner Heuchelei zu wälzen. Also läufst du davon, und beim Laufen weißt du, dass du um dein Leben läufst, dass du, wenn es dir nicht gelingt, den Abstand zwischen dir und deinen Eltern zu halten, dahinwelken und sterben wirst, sterben wirst wie dein Bruder Andy, als er am 10. August 1957 im Echo Lake ertrank, jenem kleinen See in New Jersey mit dem unheimlich passenden Namen, denn auch Echo welkte dahin und starb, und nachdem ihr geliebter Narcissus ertrunken war, blieb nichts von ihr übrig als ein Haufen Knochen und das Wimmern ihrer vom Körper losgelösten, unauslöschlichen Stimme.

Du willst nicht an diese Dinge denken. Du willst nicht an deine Eltern denken und die acht Jahre, die du in einem Haus der Trauer eingemauert warst. Du warst zehn, als Andy starb, und ihr beide, du und Gwyn, verbrachtet den Sommer in einem Ferienlager im Staat New York und wart also nicht anwesend, als der Unfall passierte. Eure Mutter war allein mit dem siebenjährigen Andy und wollte mit ihm eine Woche in dem kleinen Bungalow am See verbringen, den euer Vater 1949 gekauft hatte, als du und deine Schwester noch ganz kleine Kinder wart, dem Schauplatz der Sommer eurer Familie, dem Schauplatz verqualmter Grillabende und von Moskitos geplagter Sonnenuntergänge, und die Ironie des Schicksals wollte es, dass sie bereits beschlossen hatten, das Anwesen zu verkaufen, dass dies der letzte Sommer am Echo Lake sein sollte, nur eine Fahrstunde von zu Hause entfernt, aber nicht mehr der stille Zufluchtsort von einst, nachdem dort so viele neue Häuser gebaut worden waren, und so gab eure Mutter der nostalgischen Anwandlung nach und fuhr mit Andy allein noch einmal dorthin, weil euer Vater zu beschäftigt war und nicht mitkommen konnte. Andy war kein guter Schwimmer, gab sich aber alle Mühe, einer zu werden, und mit seinem unbezwinglichen Hang zu tollkühnen Aktionen hatte er schon so viele Dummheiten angestellt, dass er nach Meinung aller Beobachter längst einen Meisterbrief für Schabernack verdient hätte. Am dritten Tag ihres Aufenthalts, gegen sechs Uhr morgens, als eure Mutter noch in ihrem Zimmer schlief, setzte Andy es sich in den Kopf, unbeaufsichtigt eine Runde schwimmen zu gehen. Bevor er ging, setzte der siebenjährige Abenteurer sich hin und schrieb, so gut er konnte, folgende kurze Nachricht: Liebe Mom ich bin im Seh viele Grüse Andy. Sodann schlich er aus dem Bungalow, sprang ins Wasser und ertrank. Ich bin im Seh.

Du willst nicht daran denken. Du bist jetzt fortgelaufen, und du hast nicht den Mut, in jenes Haus der Schreie und des Schweigens zurückzukehren, das Wehklagen deiner Mutter im Schlafzimmer oben zu hören, wieder einmal den Medizinschrank zu öffnen und die Flaschen mit Tranquilizern und Antidepressiva zu zählen, an die Ärzte, die Zusammenbrüche, den Selbstmordversuch und den langen Klinikaufenthalt zu denken, als du zwölf Jahre alt warst. Du willst dich nicht an die Augen deines Vaters erinnern, wie sie jahrelang einfach durch dich hindurchzusehen schienen, und auch nicht an seinen roboterhaften Tagesablauf vom morgendlichen Aufstehen um Punkt sechs bis zu seiner Rückkehr von der Arbeit niemals vor neun Uhr abends und nicht an seine Weigerung, dir oder deiner Schwester gegenüber den Namen seines toten Sohns zu erwähnen. Du hast ihn kaum noch gesehen, und da deine Mutter praktisch nicht mehr in der Lage war, sich um den Haushalt zu kümmern oder auch nur eine Mahlzeit zuzubereiten, war es auch mit dem Ritual des gemeinsamen Abendessens der Familie vorbei. Putzen und Kochen besorgten stetig wechselnde sogenannte Hausmädchen, vorwiegend abgearbeitete Schwarze jenseits der fünfzig oder sechzig, und da eure Mutter an den meisten Abenden lieber zurückgezogen in ihrem Zimmer aß, habt ihr euch, du und deine Schwester, an dem rosa Resopaltisch in der Küche allein gegenübergesessen. Wo euer Vater zu Abend aß, war euch ein Rätsel. Ihr habt angenommen, dass er Restaurants besuchte, vielleicht auch immer dasselbe Restaurant, aber er hat nie ein Wort davon gesagt.


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[3]

Das 3. Kapitel ("Herbst") erzählt nun von Adam Walker in der dritten Person. Ich habe zwei Abschnitte ausgewählt, bei denen ich die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Ende lenken möchte. (S. 193 u. 228)

Ich möchte nicht mehr darüber reden, sagt Walker und nimmt ein paar Münzen aus seiner Tasche, um das Bier zu bezahlen. Ich muss jetzt gehen.

Wie Sie wünschen, erwidert Born. Ich hatte gehofft, wir könnten das Kriegsbeil begraben und wieder Freunde werden. Mir kam sogar der Gedanke, dass es Ihnen vielleicht Freude machen würde, die Tochter meiner künftigen Frau kennenzulernen. Cecile ist ein entzückendes, intelligentes Mädchen von achtzehn Jahren – sie studiert Literatur, spielt ausgezeichnet Klavier, also genau die Art von Frau, die Sie interessieren könnte.

Nein, danke, sagt Walker und steht vom Tisch auf. Ich habe es nicht nötig, mich von Ihnen verkuppeln zu lassen. Das haben Sie schon einmal getan, wissen Sie noch?

Nun, falls Sie es sich anders überlegen, rufen Sie mich an. Es wäre mir ein Vergnügen, sie Ihnen vorzustellen.

Als Walker sich schon zum Gehen wendet, greift Born in die Brusttasche seines cremefarbenen Blazers und zieht eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer hervor; Hier, sagt er und reicht Walker die Karte. Meine Koordinaten. Für alle Fälle.

Walker ist kurz versucht, die Karte zu zerreißen und die Fetzen auf den Boden zu werfen – so wie er im Frühjahr in New York den Scheck zerrissen hat –, entscheidet sich dann aber dagegen, weil er sich nicht mit einer so billigen und läppischen Beleidigung lächerlich machen will. Er schiebt die Karte in seine Tasche und verabschiedet sich. Born nickt, ohne ein Wort zu sagen. Als Walker geht, schießt die Sonne über den Himmel und explodiert in hunderttausend Splitter aus geschmolzenem Licht. Der Eiffelturm stürzt um. Sämtliche Gebäude in Paris brechen in Flammen aus. Ende des ersten Akts. Vorhang.
(S. 193)



Gehen Sie behutsam mit ihr um, Mr. Walker, sagt sie. Sie ist ein kompliziertes, zerbrechliches Geschöpf, und sie hat keinerlei Erfahrung mit Männern.

Ich mag Cecile sehr, sagt er, aber nicht so, wie Sie anzudeuten scheinen. Ich bin gern mit ihr zusammen, das ist alles. Als Freund.

Ja, natürlich mögen Sie sie. Aber Sie lieben sie nicht, und das Problem ist, dass sie sich in Sie verliebt hat.

Hat sie Ihnen das gesagt?

Das braucht sie mir nicht zu sagen. Ich brauche sie nur anzusehen.

Sie kann mich nicht lieben. Wir kennen uns doch erst seit einer Woche.

Ein Jahr, eine Woche, was macht das für einen Unterschied? So etwas passiert einfach, und ich möchte nicht, dass sie leidet. Seien Sie vorsichtig. Ich bitte Sie.

Die Befürchtung ist zur Tatsache geworden. Unschuld hat sich in Schuld verwandelt, und Hoffnung ist ein Wort, das sich auf Verzweiflung reimt. Überall in Paris springen Leute aus Fenstern. Die Metro ist mit menschlichen Exkrementen übersät. Die Toten kriechen aus ihren Gräbern. Ende des zweiten Akts. Vorhang.
(S. 228)


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