Leseproben aus: Josef Martin Bauer, Kranich mit dem Stein



S. 498 ff., 721 ff.



[1] Dieser Abschnitt wirft ein Licht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der zwanziger Jahre und spielt auf den Putsch Hitlers in München am 8. und 9. November 1923 sowie auf die Prophezeiungen des "Mühlhiasl" an. (S. 498 ff.)

[2] Im letzten Kriegsjahr wenden sich viele Menschen wieder der Kirche zu, man geht wieder zu den Predigten des Kardinals. (S. 721 ff.)




[1]

Dieser Abschnitt wirft ein Licht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der zwanziger Jahre und spielt auf den Putsch Hitlers in München am 8. und 9. November 1923 sowie auf die Prophezeiungen des "Mühlhiasl" an. (S. 498 ff.)

Unbestreitbar war die Zeit und ihr ganzer Ablauf wahnsinnig geworden. Mit Wahnsinnigen aber mußte man milde und nachsichtig verfahren, weshalb niemand mehr exaltiert schreien wollte, dem Wahnsinn ins Gesicht, sondern dieser Fallsucht den furchtsamen Respekt entgegenbrachte, den die Epilepsie im Altertum genossen hatte. Es gab rings in Fülle die klugen Leute wie Roßtäuscher mit gelben Ledergamaschen um die Waden, Banklehrlinge mit in Milliarden überzogenen Bankkonten, Vormittagshändler, die schon vor dem Mittagskurs des Dollars wußten oder ahnten, wie stark das Geld wieder im Kaufwert fallen würde, und die Verwandten irgendwelcher Verwandten in den Vereinigten Staaten. Diese letzteren ließen sich auf gute Worte oder dringliche Ermahnungen von ihren Verwandten monatlich einen Dollarschein oder gar eine Fünfernote schicken und hatten mit einem unter die Nase gehaltenen Schein zu fünf Dollar zuweilen keine Mühe, einen Landwirt zu bestimmen, daß er gegen einen solchen Schein als Anzahlung und noch drei weitere als Restkaufpreis das Anwesen weggab. Weil viele Vermögen solcher Art in oft recht bescheiden aussehenden Briefen aus Amerika kamen, lernten manche Posthelfer, die der Zeit auch eine große Klugheit zu danken wußten, eine fürs Leben entscheidende Gebrauchsklugheit, jeden auch nur mit einem einzigen Dollarschein wattierten Brief durch bloßes Fingergreifen von solchen Briefen zu unterscheiden, die den verwandtschaftlichen Gefühlen der Absender lediglich in guten Worten Ausdruck verliehen. Beim Dienst am Sortiertisch eines Postamtes fingerte so einer recht leicht innerhalb eines einzigen Tages ein Vermögen zusammen, das auszugeben freilich eine schwierige Sache blieb, da die Leute mit auch nur etlichen Dollarscheinen in ihrer Umwelt mit offenem Mund bestaunt wurden, denn die Herren dieser Erde rekrutierten sich aus solchen mit gelben Gamaschen und solchen mit ein paar Dollarscheinen.
Irgendwo an der böhmischen Grenze grub die Bevölkerung die bereits durch fast ein Jahrhundert zugeschüttete Erinnerung an einen Müllergesellen aus, der in der Arbeit seines Berufes nicht regsam, in seiner schlecht geführten Ehe aber mit vielen Kindern und im übrigen von der Übernatur mit der Gabe gesegnet gewesen war, zukünftige Dinge zu erschauen. Dieser Mühlknecht aus Apoig, einer Klostermühle, die er ein paar Pachtjahre lang schlecht bewirtschaftet hatte, war jedenfalls viel tüchtiger im Bewirtschaften der Zukunft als der Gegenwart gewesen und hatte in einer Fülle von Weissagungen Umstände, Zeitpunkt und äußere Zeichen ziemlich genau festgelegt, die einstens erkennen lassen sollten, wann die Stunde des großen Abräumens gekommen sein würde. Solcher Art Anzeichen nun wie die, daß man für ein Goldstück große Liegenschaften werde kaufen können, waren wohl unzweideutig auf die Zeit gemünzt, in der man eben lebte und der Weltkatastrophe entgegensah, weshalb denn auch einer dem anderen diese Weissagungen handgeschrieben, so wie er sie eben selbst zusammengehört hatte, weitergab oder, den Finger warnend auf den Mund gelegt, flüsternd erzählte mit allen sehr genau detaillierten Schilderungen von Art und Ausmaß des Grauens.
In breiter Walze gingen die Weissagungen durch die Länder, und die Herren Pfarrer prallten bei der Ausübung ihres Predigeramtes überall auf die quälerische Frage, ob es denn einen Sinn habe, noch weiter an die Tragfähigkeit des Weltgebäudes alle Zukunftshoffnungen zu hängen, wo man über kurz oder lang damit rechnen mußte, von entsetzenerregenden Reitern, die man ,die Roten’ nannte, niedergeritten zu werden, bis alles Land eine Wüstenei ohne menschliches Leben war und das Unkraut wuchernd zu den Fenstern verlassener Häuser in toten Dörfern hineinwuchs.
An Seine Eminenz wurden die Weissagungen jenes Mühlknechtes erst herangetragen, als längst jeder Pfarrer und jeder noch nicht sehr erfahrene Kaplan, von seinen Gläubigen und vor allem in den Religionsstunden von den Kindern um Auskunft bedrängt, sich mit der Sache auseinandersetzen mußte. Petuel hörte, was aus mündlich durchgegebenen Einzelvoraussagen zusammengefaßt worden war, ruhigen Gesichtes an. Der Ton, die Fassung, die Formulierung der Aussprüche hatte in manchem etwas Biblisches. Der Volksmund, an der Bibel im Sprachlichen sehr deutlich geschult, hatte manchem Spruch eine sprachliche Wucht gegeben, die auch einen Mann wie Petuel nicht ohne Eindruck ließ. Die Formulierungen waren schön dunkel gehalten, wie das Volk so etwas liebt, und über die Umstände des Lebens und Sterbens jenes von der Sehergabe geschlagenen oder begnadeten Mühlknechts wurde auch so überzeugend ungenau berichtet, wie es dem Vertrieb der Gesichte günstig war. Die Versuchung lag nahe, die zuweilen an apokalyptische Bilder gemahnenden Gesichte, die ihn schon so bitter geplagt hatten, mit den nicht minder apokalyptischen Bildern zu vergleichen, die dieser Mühlknecht vor hundert Jahren von eben dieser heutigen Zeit gemacht haben sollte. Weil Petuel aber an der Sprache der Bibel tiefgründig geschult war, begann er den Satzprägungen dort zu mißtrauen, wo sie am geschicktesten auf diesen altertümelnden Wortklang abgestimmt waren.
Und wenn einer, so wie Petuel, noch so ehrlich in sich selbst die Ahnungen und Gesichte nachprüfte, so tat er besser, wenn er sich selbst mit Vorbehalten glaubte und vor den Menschen, für die er Gort verantwortlich war, den Mut predigte und die Kraft, die sich nicht auch in ihrem letzten Rest noch lähmen lassen durfte durch ein tatenloses Hinstarren auf den angeblich schon am Horizont sichtbaren Jüngsten Tag.
Millionäre von vorgestern stocherten in den Mülltonnen, und Reichsgrafen, die ihren Stammbaum ungebrochen bis auf Karl den Großen zurückführen konnten, trugen ihren letzten guten Anzug auf, während sie, zum Betteln zu stolz, ihre Hilflosigkeit den Vermögenderen anboten, die vielleicht Wert darauf legten, sich in ein paar Sprachen unterrichten zu lassen. Der eine oder andere fand einen Schüler, dem so ein Aushang nötig erschien, angenehm dadurch ergänzt, daß man bei Gelegenheit des Unterrichts dem Reichsgrafen etwas an guten Manieren abschauen konnte, und dies obendrein ohne Bezahlung. Niemand aber hätte von den oft recht jungen Leuten, die telegraphisch ihre Börsenorders gaben und wohl bald ihre eigenen Ohren nicht mehr berühren durften, ohne daß auch sie ihnen zu Geld wurden, behaupten dürfen sie hätten nichts übrig für die Not ihrer Mitmenschen. Das bisher unbekannte großartige Gefühl, Gutes tun zu können und Freude zu wecken, überrannte die kaum volljährigen Milliardäre mit solcher Wucht, daß sie am liebsten Stiftungen gemacht hätten, um Heime zu bauen, in denen die verarmten Reichen von einst eine gute und gütige Aufnahme hätten finden sollen. In die Klingelbeutel, die groß wie Bienenkörbe herumgereicht wurden bei jedem Gottesdienst, warfen die einen schäbige Scheine von einst, die nur noch Makulaturwert hatten, die anderen aber so beträchtlich neue Scheine, daß damit wirklich etwas Bedeutendes zu kaufen gewesen wäre, wenn die Geschäfte am Sonntag offen gehalten hätten. Bis zum Montag, an dem man sie wieder umsetzen konnte, sank ihr Wert zumeist schon auf den Kaufpreis für ein kleines Brot herab. Aber irgend jemand freute sich, etwas Prächtiges getan zu haben.
Als die Reichen und die Adeligen, von der Fäulnis des Geldes überfallen, plötzlich arm wurden und Kardinal von Petuel sah, daß hier schnellstens etwas getan werden mußte, um diese Allerhilflosesten aufzufangen, ehe sie völlig verkamen, hatte Vitzthum bereits feste Pläne vorzulegen, die aber so weit über alle Möglichkeiten hinausschössen, daß Petuel die Vorschläge zurückwies. Ein Mann wie Vitzthum aber hatte, was die Banklehrlinge und halbwüchsigen Bankspekulanten mit allem Erfolg exerzierten, längst vor diesen Stümpern begriffen und erzählte seinem Bischof, dem dies unbegreifbar blieb, daß die Milliardenschulden aus der vorigen Woche längst keine Schulden mehr seien, sondern in den Debitorenbüchern der Banken schon abgeglitten waren in die Pfennigspalten, so daß wieder neue Schulden aufgenommen werden konnten, um damit weiter wertbeständige Einrichtungen zu schaffen, die den Verarmten einst Unterkunft und karge Hilfe sein würden. Achselzuckend ließ der Bischof den gewiegten Finanzmann gewähren, der ihm der Wahrheit gemäß das Wunder vorrechnete, das auch den Armen und Elenden eine kleine Chance zuspielte, denn es wurde immer weitergebaut und vorgesorgt und schon in die Zukunft hinein etwas erwirkt, während das bei den Banken als Sicherheit hinterlegte amerikanische Geld sich nicht minderte.
Vor dem Antlitz einer in solcher Narretei grinsenden Zeit ging einem Mann wie dem Kardinal der Boden verloren, auf dem er doch immer so sicher und unbeirrbar gegangen war. Dieses grinsende Antlitz lachte ihn, der so innig an alten Vorstellungen hing, höhnisch aus, und es blieb ein unerträglich grinsendes Antlitz, je mehr Kinder, Halbwüchsige und Narren sich hinter diese Larve preßten, bis alles nur noch erbärmliche Lächerlichkeit war.
Von dieser Narrenhaftigkeit war die Bühnenszene, die jener Hitler eines Abends in einem Bierkeller aufführte.
So war es nun einmal.
Die einen hielten den empfindsamen Apparat der Börse in Vibration, indem sie, noch nicht volljährig, Vermögen wachsen und zerfallen ließen. Die anderen kamen auf den Gedanken, in ähnlicher Lausbuberei Weltgeschichte zu machen.
Petuel sah auf dem Tisch die Morgenzeitung liegen und las die Nachrichten vom Putsch. Er nahm die Zeitung nicht einmal zu sich heran. Die Balkenüberschriften genügten ihm. Im Augenblick war aus und zwischen den Zeilen nicht zu lesen, wie das Spiel gemeint war in einer Zeit apokalyptischer Verschrobenheiten, ob ganz aus Narrheit und betrunkenem Überschwang, wofür Ort und Zeit des Geschehnisses sprachen, oder als eine Explosion unkontrollierbar gewordener Ressentiments, wofür die hochachtbaren Namen sprachen, die mit unter den Revolutionären genannt wurden.


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[2]

Im letzten Kriegsjahr wenden sich viele Menschen wieder der Kirche zu, man geht wieder zu den Predigten des Kardinals. (S. 721 ff.)

Noch in der Sekunde, da Kardinal von Petuel die gewundene Steintreppe zur Kanzel hinaufstieg, von der herab schon in vielen Kriegen und historisch gewordenem Elend zu Ruhe und Gottvertrauen in der Stunde der Angst ermahnt worden war, genoß Petuel es wie ein vom Thron verjagter und in der Stunde des Elends aus dem Exil unter Bitten und Flehen zurückgeholter König, daß die Seinen - und die Seinen waren alle - wieder zurückfanden zu ihm und ihn wieder brauchten, da sie ohne ihn keinen Halt mehr besaßen. In der Menge, die sich da Kopf an Kopf in lauter Schwarz in den Schiffen drängte, war wohl niemand, der ahnte, oder gar wußte, wie bitter und grimmig Petuel getragen hatte an dem Verschmähtsein durch sein Volk, an dem gleichgültigen Ausschlagen seiner Hand, die manchem die Opiate des Krieges noch vor dem Mund wegnehmen wollte, und an der um ihn gezogenen Mauer der Gleichgültigkeit. Als er auf der Kanzel sichtbar wurde und durch die Menge ein Aufatmen ging, das wohl auch ein Rauschen der vielen tausend Trauerkleider sein konnte, war er sich darüber klar, dass er kein Recht hatte, sich um sein eigenes Leben zu predigen, nur um dann auch einer der vielen Toten zu sein, um die hier getrauert und geweint und in seinem Fall vielleicht geschrien wurde. Denn die da rechneten alle mit ihm, die brauchten ihn, die fielen weg, wenn sie sich nicht an jemand lehnen durften, an ihn, an einen, dem sie zutrauten, daß er nicht auch wie sie umfiel, im gräßlichsten Fall vom Henker umgelegt.
Es blieb noch viel und es blieb jetzt sehr Schweres zu tun.
Er wurde gebraucht.
Das Großartigste unter dem schwefelgelben Himmel dieser Zeit wäre gewesen, in das Gewitter hineinzuschreien, daß Schluß sein müsse mit alldem, ein Schluß ohne den sicheren und völligen Untergang, ein Schluß vor dem endlichen Ende, das nicht mehr anders als in Grauen und vollendeter Auflösung zu erwarten war.
Die da aber, die das schon wußten, warteten auf etwas anderes.
Der Kardinal hielt eine Allerseelenpredigt, die außer der Einleitung keinen Gedanken des genau vorbereiteten Entwurfes enthielt und nicht eigentlich eine Predigt war, sondern eine einzige Fürbitte mit hoch erhobenen Händen und hoch, damit Gott sie hören mußte, erhobener Stimme, eine Fürbitte, die der Kardinal weitergab für alle, die da unter ihm standen: Gott möge in Erbarmen verwandeln, was er vorhatte, in das Erbarmen eines Vaters, der des Strafens bei müden Armen und zur ehernen Maske erstarrtem Zorn doch endlich überdrüssig werden und die Hand herunternehmen mochte, die Stirnen der Geschlagenen ein einziges Mal wieder zu streicheln.
Auch so war gesagt, daß nichts zu hoffen mehr ausstand. Es war gesagt, daß der längst verlorene Krieg einem Ende mit allen Schrecknissen zutrieb und daß bei einem winzigen Rest von Vernunft jetzt vielleicht noch der Augenblick gewesen wäre, nach einem rettenden Fetzen weißen Stoffes zu greifen. Ein Gebet aber, und dies war ein Gebet gewesen, ein rührendes Gebet, unterlag nicht so peinlich der Textkontrolle durch die Schergen der Verzweifelten, zumal hier in das Allerseelengebet, auf das die Toten Anspruch hatten, lediglich das Gedenken an die miteingeschlossen worden war, die zwar noch dem Schein nach zu den Lebenden zählten, aber sich schon dem letzten Erbarmen empfahlen.
Vielleicht noch vor ein paar Wochen hätte bei gleichem Anlaß der gleiche Mann auf der Kanzel den darüber wohl nicht einmal erstaunten Zuhörern gesagt, er habe das vorausgesehen und an dieser Gewißheit nie einen Zweifel gelassen. Dazu war es für ihn zu spät geworden. Er hatte beim Gang zum Dom die Tausende von Gesichtern gesehen, in die nicht auch noch die Verdrußrunen eines Vorwurfs gezeichnet werden sollten.
Am Nachmittag, als der Kardinal, wie er es zuweilen tat, seiner Schwester aus dem Gedächtnis Wort um Wort diktierte, was er von der Kanzel gesprochen hatte, überkam Mela eine uneingestandene Verwunderung darüber, daß der Bruder zu einem völlig anderen Ton durchgefunden hatte, zum Ton eines Vaters, der weicher, milder zu den Seinen gesprochen haben mußte und wohl nicht das messinghelle Register seiner härtesten Stimme gezogen hatte.
In dieser an ihm noch nie gekannten Art hörten ihn noch mehr Menschen an Silvester predigen, früh am Nachmittag schon, da für den Abend, ob bei Licht oder in Finsternis, keine so große Menschenansammlung erlaubt wurde, im halbfinsteren Dom, während draußen die Polizei vergeblich versuchte, den Alten Ring freizubekommen für den Straßenbahnverkehr. Wer am Rand des riesigen Menschengewühls stand und von der Polizei angesprochen wurde, hörte einfach nicht. Zwar wurde mit einer berittenen Polizei gedroht, aber wer da stand und gegen den Dom hin horchte, ließ sich nicht vertreiben, bevor er nicht gehört hatte, daß der Kardinal irgendwo zwischen Angst und Grauen noch einen Lichtspalt sah, und wenn es ein Lichtspalt vom Fegefeuer war. Die Herren, die die Polizei befehligten, sollten gefälligst die Konsequenzen ziehen und sich draußen zusammenschießen lassen, anstatt die Verkrüppelten und Übriggebliebenen und Frauen, die sich da ein ganz klein wenig Trost holen wollten, zu bedrohen. Der Kardinal würde ja nicht bis in die Nacht hinein predigen, und um der Stunde willen, die da in Frage kam, wollte kein Polizist den Zorn dieser in ihrem Schweigen sicher nicht ungefährlichen Menge herausfordern.
Schweigend ging die Menge nach ihrer Schlußandacht ihrer Wege, die schon im Dämmer lagen. Dem Kardinal wurde ohne Worte und Zurufe eine Gasse auf getan. Von den Amerikanern und Engländern, die darüber zu entscheiden hatten, wie die Leute hier und überall in Deutschland die Nacht zu verbringen hatten, stand nichts zu erwarten, denn aus irgendwelchen Sentiments heraus war die Ansicht aufgekommen, sie seien Kavaliere, die mehr nach sportlichen als nach den Gesetzen eines vernichtenden Krieges handelten, daß sie in der Neujahrsnacht Bomben werfen würden. Man traute ihnen gerade so viel zu, daß sie zum Spaß mit etlichen Bombern überall Alarm auslösten, weil es nun einmal zum Vergnügen des Kriegführens gehörte, daß man sich am Jagen der Furchtsamen ergötzte. So ging man denn in gemächlicher Ruhe nach Hause, aber als überall die Verdunkelungen herabgelassen waren und die Lampen Gesichter beschienen, die beinahe normal anzusehen waren, ging die Stummheit und Ruhe in Scherben, und noch nie war so viel Wein und aus Frankreich zugeströmter Sekt und reinster Kognak getrunken worden in einer Neujahrsnacht wie in dieser.
Was noch bevorstand, trat so und so ein, ob man an den Freuden, den wenigen, die sich in aller Primitivität noch darboten, vorbeigegangen oder durch sie hindurchgewatet war. Brach der Krieg zusammen, so wurde, was sich Frieden nannte, schrecklicher als der Krieg, von dem man nun einmal schon feste Vorstellungen hatte. Fielen Bomben auf das Dach, dann schlugen sie durch bis in den Keller, wie sicher sich auch die Zusammengekrümmten dort vorkommen mochten, und es wäre jammerschade gewesen um jede Flasche Heidsieck, die ungetrunken verronnen wäre oder länger Bestand gehabt hätte als das Leben ihres Besitzers.
Noch nie war so hemmungslos getrunken worden.
Und die ein Verhältnis unterhielten, während die Männer an der Front untergingen, rechneten nervös die Chancen zusammen, die im grimmigsten und im günstigsten Fall für die triebhaften, geradezu wütigen Exzesse verblieben. Kinder hörten es mit an, da sie durch die Alarme an einen sehr seichten Schlaf gewöhnt waren, wie ihre Mütter nebenan, nur durch eine aus dem Winkel gezogene Tür von ihnen getrennt, keuchten, als müßten sie für Jahre an sich reißen, was es noch zu leben und zu erleben gab. Es wäre sonst vielleicht etwas zu versäumen gewesen davon wie vom Sekt, vom Wein und von dem Kognak, den man in sich hineinschüttete, obgleich man nörgelnd bei jedem Schluck behauptete, er schmecke nach Kernseife.
Von dem nun beginnenden Jahr war kaum zu erwarten, daß es für etwa übriggebliebene Getränke noch einen Silvesterabend brachte und zu den Freuden der anderen Art noch allzu viele Gelegenheiten außer denen, die ihren höllischen Reiz darin hatten, daß rings um sie herum die Bomben durch die Nacht fielen. Wer zu genießen verstand, genoß auch das und fragte hernach, ob sich wohl noch einmal eine Gelegenheit dazu gab.
Die Stadt sei eine Bruthöhle des Lasters geworden, und ähnlich stehe es wohl im ganzen Land, trugen die Geistlichen, wann immer einer Zugang zum Kardinal fand, ihm klagend vor. Die Korruptheit nehme so sehr überhand, daß von oben bis unten eine riesige Fäulnis durch das ganze Volk gehe. Petuel hörte nur sehr schwer, wenn ihm solche Klagen vorgetragen wurden. So zerfiel nun einmal, was in jedem Abbinder des Gebäudes mit Lüge zusammengehalten wurde. Ein gutes Beispiel sei ein sehr tüchtiges Mittel, die Menschen zum Nachdenken zu bringen über den schwülen Traum vom Ende hinaus, meinte der Kardinal und gab jedem, der so klagend zu ihm kam, zu bedenken, ob er so vorbildlich in allem gehandelt habe, daß bei seinem Anblick dem Trinkenden die betäubende Flasche von den Lippen sinke, weil die Existenz von so viel Sauberkeit eine Mahnung war. Als Verschrobenheit wurde es ihm angerechnet, daß er bei den Konferenzen mit den Geistlichen, in solchen Stunden ein ungewohnt verträumter und mit seinem Denken wohl nicht gegenwärtiger Mann, mit aller Begeisterungsfähigkeit dafür warb, in der Jugend nach echten Berufungen zum Priesterstand zu suchen und ungeachtet der augenblicklichen Verhältnisse oder vielmehr diesen zum Trotz solche jungen Leute an die höheren Schulen heranzubringen. Wenn er so von der Zeit unbekümmert in dieser Richtung sprach, wurden am anderen Ende des Konferenztisches nicht immer die liebenswürdigsten Kommentare gemurmelt: es lasse sich nicht verleugnen, daß Petuel alt geworden sei.
Darüber zerfiel die Umwelt und rückte der Tod allen so nahe, daß auch die weniger Mutigen, um nicht feige zu erscheinen, mit ihm auf Brüderschaft kamen und sich vor anderen wenigstens so gaben, als seien sie am Bombenbrand gereift. Kinder zog man ein und ließ sie unbewaffnet sterben oder verschleppt werden. Männer aber, die mit blanken Händen noch aufzuhalten vermocht hätten, was sowieso überall durchrann, tapfere, unbegreiflich mutige Soldaten jagte man aus der Uniform und sagte ihnen, sie seien nicht wert, dieses Ehrenkleid zu tragen.


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