Leseprobe aus: J. Becker, Jakob der Lügner


suhrkamp taschenbuch 774, S. 55 ff.


(Felix Frankfurter, ehemaliger Schauspieler, hat von seinem zukünftigen Schwiegersohn, der gerade um die Hand seiner Tochter Rosa angehalten hat, erfahren, dass Jakob Heym ein Radio besitzt, was unter Ghettobewohnern bei Todesstrafe verboten ist)


Dann ist Frankfurter mit seiner Frau alleine, ohne Zeugen. Ich weiß bloß, wie es ausgegangen ist, ich kenne nur das Resultat, nichts dazwischen, aber ich kann es mir nur so oder ähnlich vorstellen.

Die Frau steht endlich auf, irgendwann. Sie wischt sich die Tränen weg, nicht mehr die vom Heiratsantrag, oder sie wischt sie nicht weg, sie geht zu ihrem Mann, leise, als wollte sie ihn nicht stören. Sie stellt sich hinter ihn, legt ihm die Hände auf die Schultern, sie bringt ihr Gesicht dicht an seins, das noch immer von den Händen verdeckt wird, und wartet. Auch als seine Arme heruntersinken nichts, er starrt auf die gegenüberliegende Wand, und sie stößt ihn leicht an. Sie sucht etwas in seinen Augen und kann es nicht finden.

"Felix", könnte sie nach einer Weile leise gesagt haben, "freust du dich denn nicht? Bezanika ist doch nicht so unendlich weit. Wenn sie bis dort gekommen sind, dann kommen sie doch auch bis zu uns."

Oder sie könnte gesagt haben: "Stell dir vor, Felix, wenn das wahr ist! Mir dreht sich der Kopf, stell dir das doch bloß vor! Nicht mehr lange, und alles wird wieder sein wie früher. Du wirst wieder spielen können, auf einer richtigen Bühne, unser Theater wird bestimmt neu aufgemacht, ich werde dich nach jeder Vorstellung abholen, neben der Anschlagtafel an der Pförtnerloge werde ich auf dich warten. Stell dir das bloß vor, Felix!"

Er antwortet nicht. Er steht unter ihren Händen auf und geht zum Schrank. Vielleicht sieht er aus wie ein Mann, der einen wichtigen Entschluss gefasst hat und keine Zeit mehr verlieren will, ihn auszuführen.

Frankfurter öffnet den Schrank, nimmt eine Tasse oder ein Kästchen heraus und findet darin den Schlüssel.

"Was willst du im Keller?" fragt sie.

Er wiegt den Schlüssel in der Hand, als ob noch etwas zu bedenken wäre, die Frage nach dem Zeitpunkt womöglich, aber je eher, desto besser, nichts gilt mehr. Vielleicht sagt er ihr jetzt schon, was er vorhat, noch im Zimmer weiht er sie ein, aber das ist unwahrscheinlich, er hat sie nie groß um ihre Meinung gebeten. Außerdem ist ganz und gar unwichtig, wann er es ihr sagt, geändert wird dadurch nichts, der Schlüssel ist schon in seiner Tasche. Nehmen wir also an, er schließt wortlos den Schrank, geht zur Tür, dreht sich dort zu ihr um und sagt nur: "Komm."

Sie gehen in den Keller.

Armeleutehäuser, in die man früher nie den Fuß gesetzt hätte, die Holzstufen sind ausgetreten, sie knarren wie verrückt, aber er geht dicht an der Wand und auf Zehenspitzen. Sie folgt ihm beunruhigt, auch leise, auch auf Zehenspitzen, sie weiß nicht warum, er tut es eben auch. Sie ist ihm bisher immer gefolgt, ohne zu fragen, sie hat oft nur erraten, was zu tun sei, es war nicht immer gut.

"Willst du mir jetzt nicht sagen, was wir hier machen?"

"Pssst!"

Sie gehen den engen Kellergang entlang, hier kann man schon mit ganzer Sohle auftreten, der vorletzte Keller rechts ist ihrer. Frankfurter schließt das Vorhängeschloss auf, öffnet die Drahttür mit dem eisernen Rahmen, die nicht brennbar ist und darum noch vorhanden. Er geht hinein, sie folgt ihm zögernd, er schließt hinter ihr die durchsichtige Tür, und da sind sie nun.

Frankfurter ist ein vorsichtiger Mann, er sucht sich ein Stück Sacktuch oder einen Sack mit Löchern, den er zerreißt, oder, wenn kein Sack da ist, zieht er die Jacke aus und hängt sie vor die Tür, für alle Fälle. Ich denke mir, dass er für einen Augenblick den Finger auf den Mund legt, die Augen schließt und lauscht, aber nichts ist zu hören. Dann macht er sich an dem kleinen Berg zu schaffen, der eine Ecke des Raumes ausfüllt, ein kleiner Berg von unnützem Zeug, ein Hügelchen aus Erinnerungen.

Damals, als die Benachrichtigungen gekommen sind, haben sie zwei Tage zusammengesessen und überlegt, was sie mitnehmen sollen, bis auf die verbotenen Dinge natürlich. Die Lage war sehr ernst, ohne jeden Zweifel, sie haben nicht erwartet, dass es ein Paradies wird, aber Genaues gewusst hat keiner. Frau Frankfurter hat praktisch gedacht, zu praktisch für ihn, nur an Bettzeug und Geschirr und an Sachen zum Anziehen, aber er wollte sich von vielem, das sie für überflüssig gehalten hat, nicht trennen. Nicht von der Trommel, auf der er in einer überaus gelungenen Aufführung die Ankunft des Thronfolgers von Spanien angekündigt hat, und nicht von den Ballettschuhen Rosas, als sie fünf Jahre alt war, und die heute noch fast ungetragen sind, und nicht von dem Album mit den sorgfältig eingeklebten Rezensionen, in denen sein Name erwähnt und rot unterstrichen ist. Sag mir einen Grund, warum ich mich davon trennen soll, das Leben ist mehr als nur fressen und schlafen. Das Transportproblem? Er hat in aller Eile einen Handwagen gekauft, für irrsinniges Geld, denn über Nacht sind damals die Preise für Handwagen enorm angezogen, und jetzt füllt der kleine Berg eine Ecke des Kellers.

Er legt Stück für Stück zur Seite, seine Frau sieht ihm stumm zu, schon wütend neugierig, was sucht er, vielleicht betrachtet er für einen Moment das gerahmte Bild mit allen Angehörigen des Theaters, auf dem er dick am rechten Rand steht, zwischen Salzer und Strelezki, der damals noch nicht so bekannt war. Doch das ist es nicht, was er sucht, wenn er das Bild betrachtet haben sollte, legt er es wieder weg und macht den Berg weiterhin kleiner.

"Dieser Jakob Heym ist ein Trottel", sagt er.

"Warum?"

"Warum! Warum! Er hat eine Nachricht gehört, wunderbar, aber das ist seine Sache. Eine gute Nachricht, eine sehr gute sogar, dann soll er sich freuen und nicht alle verrückt machen damit."

"Ich verstehe dich nicht, Felix", sagt sie. "Du bist ungerecht zu ihm. Es ist doch schön, dass wir es wissen. Alle sollten es wissen."

"Weiberverstand!" sagt Frankfurter wütend. "Heute weißt du es, morgen wissen es die Nachbarn, und am nächsten Tag spricht das ganze Ghetto von nichts anderem!"

Sie mag nicken, verwundert über seinen Zorn, so ist es, bis jetzt nichts von einem Grund, diesem Heym den leisesten Vorwurf zu machen.

"Und auf einmal weiß es die Gestapo!" sagt er. "Die haben mehr Ohren, als du glaubst."

"Aber Felix", unterbricht sie ihn, "denkst du im Ernst, die Gestapo erfährt nicht ohne uns, wo die Russen sind?"

"Wer redet denn davon! Ich meine, auf einmal weiß die Gestapo, dass im Ghetto ein Radio ist. Und was machen die? Sie stellen sofort jede Straße auf den Kopf, Haus für Haus, sie geben nicht eher Ruhe, bis sie das Radio gefunden haben. Und wo finden sie eins?"

Der Berg ist abgetragen, Frankfurter hebt einen Pappkarton auf, einen weißen oder braunen, jedenfalls einen Pappkarton, in dem sich der Grund für ein gerechtes und rechtskräftiges Todesurteil befindet. Er nimmt den Deckel ab und zeigt seiner Frau das Radio.

Sie schreit vielleicht leise auf, sie ist vielleicht entsetzt, bestimmt erschrocken, sie starrt das Radio an und ihn und versteht es nicht.

"Du hast unser Radio mitgenommen", flüstert sie und faltet die Hände. Du hast unser Radio mitgenommen, man hätte uns alle dafür erschießen können, und ich habe nichts davon gewusst... Ich habe nichts gewusst..."

"Wozu?" sagt er. "Wozu hätte ich es dir sagen sollen? Ich habe alleine schon genug gezittert, und du hast ohne Radio auch genug gezittert. Es gab Tage, da hatte ich es vergessen, ganz einfach vergessen, manchmal sogar wochenlang. Man hat eben ein altes Radio im Keller und denkt nicht mehr daran. Aber sooft ich mich erinnert habe, ist mir das Zittern gekommen, und so wie heute bin ich noch nie daran erinnert worden. Doch das schlimmste ist, ich habe nie gehört, nicht ein einziges Mal, auch nicht in der ersten Zeit. Nicht, damit du es nicht merken solltest, ich habe es einfach nicht gewagt. Manchmal wollte ich, ich habe es vor Neugier fast nicht ausgehalten, ich habe den Schlüssel genommen, und du weißt, dass ich von Zeit zu Zeit in den Keller gegangen bin. Du hast mich gefragt, was ich dort will, und ich habe dir gesagt, ich will mir Bilder ansehen oder die alten Kritiken durchlesen. Aber das war gelogen, ich wollte Radio hören. Ich bin in den Keller gegangen, habe die Tür verhängt, aber ich habe es nicht gewagt. Ich habe mich hingesetzt, die Bilder angesehen oder die Kritiken gelesen, wie ich es dir gesagt hatte, und es nicht gewagt. Aber damit ist jetzt Schluss!"

"Ich habe nichts gewusst", flüstert sie vor sich hin.

"Damit ist ein für allemal Schluss!" sagt er. "Du hast damals recht gehabt, es war unnützes Zeug, ich brauche es nicht mehr. Nichts wird davon übrigbleiben, nichts, was nach Radio aussieht. Dann sollen sie kommen und suchen."

Er nimmt das Radio auseinander, Teil für Teil, wahrscheinlich das einzige Radio, das sich in unserer Hand befindet, ohne lautes Aufsehen zerstört er es. Die Röhren werden zu Staub zertreten, ein unzerstörbarer Draht wird als harmlose Schnur um eine Schachtel gewickelt, die Bretter des Kastens werden Stück für Stück zur Seite gelegt und müssen noch einige Wochen warten, bis sie verbrannt werden dürfen. Denn um diese Jahreszeit macht sich jeder rauchende Schornstein verdächtig, aber das ist nicht weiter tragisch, Holz ist schließlich Holz.

"Hast du auch gehört, dass die Russen fast in Bezanika sind?" fragt Frau Frankfurter leise.

Er sieht sie sehr verwundert an.

"Ich habe dir doch gesagt, dass ich nie gehört habe", könnte er ihr geantwortet haben.