Leseproben aus: Sibylle Berg, Der Mann schläft



S. 80 f., 102 f., 123 ff., 133, 210



Der Text wechselt zwischen der Jetztzeit auf einer chinesischen Insel, nachdem der Mann der Erzählerin dort verschwunden ist, und der Vergangenheit, als sie ihn kennengelernt hatte und einige Zeit mit ihm zusammen war.


[1] Später Nachmittag auf der Insel, die Erzählerin ist allein (S. 80 f.)

[2] Die beiden haben sich erst vor kurzem kennengelernt (S. 102 f.)

[3] Auf der Insel. Die Erzählerin lernt Kim kennen, ein Mädchen, das in merkwürdig altkluger Manier spricht (S. 123 ff.)

[4] Die Erzählerin versucht ihre Gefühle für "den Mann" zu beschreiben (S. 133)

[5] Auf der Insel, in einem Suppenlokal (S. 210)




[1]

Später Nachmittag auf der Insel, die Erzählerin ist allein (S. 80 f.)

Heute. Nachmittag. Eher Richtung Abend.

Gleich wird die Sonne untergehen und das Licht wird orange auf die Häuser fallen, die für einige Sekunden schimmern werden, als seien sie niedliche, pubertierende Mädchen.

Die Insel hat geschlafen, den heißen Tag über, jetzt wacht sie auf, es wird voll und laut, und ich benötige lange, um vom Cafe in meine Wohnung zu gelangen, ohne jemanden zu berühren, um zu schieben, mich schieben zu lassen. Die Treppe hat dreiundzwanzig Stufen, die mir wie vierhundertsiebenundsechzig sind, denn ich weiß, was in der Wohnung wartet. Das Bett. Ich kauere mich darauf und schaue aufdie Straße, die durch mein Zimmer zu führen scheint. Sie reden, lachen, murmeln, räuspern sich zwei Meter unter mir. Sie hasten zur Fähre, von der Fähre weg, egal in welche Richtung, dahin, wo sie wohnen, wo sie sich in Sicherheit wähnen, da muss eingekauft werden, und dann kommt der Mann nach Hause, das Kind, es wird gegessen, geschlafen, all diese langweiligen Details des Lebens, die es ausmachen, die wunderbar sind, über die die Menschen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte, ungefragt sagen: » Unsere Liebe soll nicht im Alltag sterben.« Ja, wo denn sonst? Ob ihnen klar ist, den Leuten da unter mir, wie schnell etwas passieren kann, mit dem Mann, den Unfällen, den Tsunamis?

Keine Sicherheit für niemanden.

Ich erinnere mich, früher fasziniert von Fernsehsendungen gewesen zu sein, in denen Menschen nach Tragödien vor Kameras gezerrt wurden, sich zerren ließen, weil sie meinten, ihre Normalität würde wiederhergestellt werden, wenn sie nur ein wenig bedeutend wären, denen im Fernsehen konnte doch nichts zustoßen, weil sie nicht real waren, und dann standen sie und weinten, und sie hoben die Hände und es lief ihnen aus der Nase und sie schrien: »Warum? Warum ich?«»Warum nicht?« raunte es von oben, dann gingen die Kameras aus, das Fernsehen zog ab zur nächsten Katastrophe, und die Eltern des toten Kindes, die überlebenden von Erdbeben, Feuer, Flugzeugabitürzen, blieben zurück. Vielleicht verstanden sie selbst dann nicht, dass es keine Ordnung gab, keine Ansprüche ans Leben, und dass sie nicht mehr waren als eine Zellanhäufung, die aus Versehen ein Mensch geworden war, der nicht damit zurechtkam, dass er denken konnte und fühlen. Es ist alles Zufall. Nichts hat man sich verdient, gutes Benehmen garantiert kein langes Leben, es gibt weder Gerechtigkeit noch Vernunft, es gibt keine göttliche Weltordnung oder was auch immer wir herbeisehnen, um uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder noch schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen.


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[2]

Die beiden haben sich erst vor kurzem kennengelernt (S. 102 f.)

Damals. Vor vier Jahren.

Ich vermisste den Mann bereits eine Stunde nach unserem Abschied auf eine sehr körperliche Art.

Mir war kalt.

Es war uns nicht vergönnt, unserer Bekanntschaft telefonisch eine gewisse Dreidimensionalität zu geben, denn riefen wir einander an, saßen wir in der Folge schweigend mit Hörern in der Hand und schauten aus dem Fenster. Drei Wochen saßen wir mit dem Telefon in der Hand und sahen auf die Straße oder sendeten uns Kurzmitteilungen mit außerordentlich belanglosem Inhalt. Ich gehe einkaufen. Ich habe ein Tier gesehen. Schlaf gut. Worte, die nichts meinten, außer, dass wir aneinander dachten. Es wäre mir sehr unangenehm gewesen, hätte ich Dinge lesen müssen, die sexueller Natur waren oder von Liebe handelten. Weder konnte ich über solcherlei Themen reden, noch gelang es mir, darüber zu lesen, ohne dass mir sehr kalt im Nacken wurde.

Ich schlich durch mein Leben, dem es auffallend an Harmonie gebrach, und füllte meine Tage, wie mir schien, mit Unsinnigkeiten.

Es war neu, dass ich die kleine Melancholie, die oft bei mir zu Besuch war, einem klaren Ursprung zuordnen konnte. Der bedauernswerte Zufall, der Menschen geschaffen hat, ohne sie mit einer klaren Aufgabe auszustatten, war ohne jemanden, den man gerne berühren wollte, schwer zu ertragen.

Dass ein neuer Abschnitt meines Lebens beginnen würde, merkte ich daran, wie ich von allem Vertrauten Abschied nahm. Vielleicht geschehen merkwürdige Dinge gerade, wenn man entspannter wird und nichts mehr dringend erwartet.


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[3]

Auf der Insel. Die Erzählerin lernt Kim kennen, ein Mädchen, das in merkwürdig altkluger Manier spricht (S. 123 ff.)

Heute. Morgen.

»Ich heiße Kim«, sagt das Mädchen, als wir das Haus des Masseurs erreichen. »Vielleicht ist es angemessener, dass Sie meinen Namen kennen, wenn ich Sie schon in merkwürdige Familiensituationen verwickle.«

Wir stehen lange unbeweglich, denn sich bewegen heißt, weitermachen mit diesem Leben, das so unerfreulich lang vor uns liegt und will, dass man sich verhält.

»Es ist nicht so einfach, ein Kind zu sein«, sagt Kim nach einer Weile. »Man muss bei jemandem wohnen und ist völlig abhängig von seinen Launen. Ob man will oder nicht. Haben Sie sich das schon einmal so überlegt?«

Ich muss zugeben, dass ich mir das lange nicht mehr überlegt habe. Das letzte Mal vielleicht, als ich selber ein Kind war, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. »Es ist auch nicht sehr viel angenehmer, erwachsen zu sein«, sage ich.

»Geht es denn schnell?« fragt Kim. Und leider kann ich ihr auch in dieser Hinsicht wenig Erfreuliches mitteilen. Erwachsen zu werden verbraucht die längste Zeit eines Lebens. Kind sein will man nicht, wegen der Sehnsucht nach etwas, das man noch nicht benennen kann, und wegen der fast drogensuchtgleichen Abhängigkeit von einem Erwachsenen, der einem liebevoll zugetan ist. Es gibt durchaus Kinder, deren Drogensucht befriedigt wird. Durch Nähe und ständige Berührungen. Aber wehe, wenn nicht! Dann wächst man mit dem Gefühl, ein unvollständiger, kranker Mensch zu sein. Und was man sich nicht alles vom Erwachsensein verspricht in jener Zeit. Dass dann alle Bedürfnisse keine mehr wären, weil man sie sich selber zu erfüllen in der Lage wäre. Ist man nicht. Man ist nur groß und weiß auch nicht weiter. Man sieht die Veränderung der Zellen, ein Krebsgeschwür vor dem Ausbruch, und man sehnt sich immer noch, und Erfüllung wird immer unwahrscheinlicher.

Kim sieht mich an, in ihrem Gesicht bewegt sich nichts, oder alles, ich kann es nicht lesen, weil mich ihre Augen verwirren und die Glätte der Haut, die wirkt, als könne man sie nicht zwischen die Finger nehmen und anheben.

»Vermutlich sollte ich mein Schicksal nicht überbewerten. Es scheint, als sei es eine Episode aus der Reihe normaler Unerfreulichkeiten, die am Ende ein Leben ausmachen.« Ich habe aufgehört, mich über die gestelzte Ausdrucksweise des Mädchens zu wundern.

»Ich muss jetzt rein und mich eventuellen Vorwürfen stellen. Ich schaffe das alleine. Wenn Sie mögen, können wir uns heute Nachmittag treffen, am Hafen. Ich könnte Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen«, fügt sie noch an und verschwindet im Haus.

Ich gehe langsam zu meiner Wohnung zurück. Mein Zeitplan, den ich seit Wochen streng eingehalten habe, ist durcheinandergekommen. Eine kleine Irritation, die mich ratlos werden lässt, auf meinem Bett zusammensinken, und da liege ich und versuche, meinen Arm zu heben, was mir aus seltsamen Gründen nicht möglich ist.

Von draußen die kleinen Laute mikroskopischer Universen, da keines ein anderes berührt.

Vermutlich sind wir alle nicht fähig, so zu lieben, wie es uns vorgehalten wurde, über Jahrhunderte, ein Instinkt, mit falscher Bedeutung aufgeladen. Fast jeder scheitert an der Idee, die er von der Liebe vermittelt bekommen hat. Selbstlos, groß und leidenschaftlich. Und ist doch nur ein kleines Feuer, an dem man sich wärmt. Diese Kälte, die durch das Fenster kriecht, in den Raum, in mein Bett, meinen Körper, der steif von ihr wird.


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[4]

Die Erzählerin versucht ihre Gefühle für "den Mann" zu beschreiben (S. 133)

Damals. Vor vier Jahren.

Wir fuhren zurück, nach unserem Ausflug ans Ende des Sees, die Fenster offen, und feuchte Luft stand im Wagen. Was ich empfand, als ich den Mann von der Seite ansah, war nicht jene atemlose Geisteskrankheit, die wir normalerweise unter: Ich habe mich verliebt verstehen. Mein Gefühl war nicht flirrend, nicht aufgeregt, nicht lecken wollte es oder hecheln. Ich war satt. Zum ersten Mal seit Beginn meiner eigenen Geschichtsschreibung fehlte mir nichts. Der Mann merkte von den elementaren Erschütterungen meines bisherigen Lebens nichts, davon, dass ich offenbar die Verliebtheit übersprungen hatte, um gleich mit dem ganz Großen weiterzumachen. Er fuhr Auto, sah geradeaus und erzählte mir die Geschichte seines Hauses. Natürlich musste es eine Geschichte geben, einen Grund geben, dass er hier wohnte, in dieser Gegend, in die er so wenig passte wie ein tiefgefrorener Schinken in eine filigrane Handtasche. Das Haus hatte einer alten Dame gehört. Ich löste mich von der inneren Betrachtung meiner großen Liebe und hörte aufmerksamer zu, denn Geschichten über alte Damen mochte ich sehr gerne.


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[5]

Auf der Insel, in einem Suppenlokal (S. 210)

Wir sitzen unterdessen in dem Suppenlokal, in dem ich alle zwei Tage verkehre. Es wird von Mutter und Tochter betrieben, die sich verbittert in ihr Schicksal gefügt zu haben scheinen, das heißt, dass neben der Hütte, in der sie ihre Küche betreiben, der ständig betrunkene Gatte und Vater sitzt und seine Schuhe beschimpft, die in der Tat nicht besonders dazu geeignet sind, liebevoll auf den Arm genommen zu werden. Die Mutter hat graue, verwaschene Haare und diesen breiten Schritt, der mich immer denken lässt, dass sich Windeln in den Hosen der Trägerin befinden. Ihr Mund ist grotesk nach unten gezogen; Hugo, die lachende Maske, kommt mir in den Sinn. Man müsste die Frau auf den Kopf stellen, um eine positive Wendung in ihrem Gesicht herbeizuführen. Die Tochter ist die seltsam alterslose Version ihrer Mutter, die Mundwinkel in der Mitte stehengeblieben, sie weiß um ihre Zukunft: Irgendwann die beiden Idioten von Eltern zu Tode pflegen, sie füttern, ihre Körper reinigen, die Suppenküche weiterführen, vielleicht einmal einen Säufer heiraten, der anstelle ihres Vaters dessen Schuhe beschimpfen kann, alt werden und vielleicht ein Kind haben, das sie hassen würde. Man sieht doch ausschließlich Leben, die man um keinen Preis führen möchte.


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