WERNERS BLOG

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  Zeichnung: Wilhelm Busch


Sonntag,
31. Dezember 2017
Die alten Tagebücher

6. April 1980

Am letzten Tag des Jahres kommt das Tagebuch aus vergangenen Zeiten zu Wort. Im Anschluss an den vorletzten Tagebucheintrag notiere ich u.a. einige weitere Gedanken im Zusammenhang mit der Lektüre von Rom, Blicke von Rolf Dieter Brinkmann. Brinkmann gilt trotz seiner kurzen Lebens- und Schaffenszeit (1940 – 1975) als einer der wichtigsten deutschen Lyriker im 20. Jahrhundert.

Wir befinden uns noch am Strand von Nueba (Sinai).
(...)
Der Strand leert sich, zurück bleibt der Abfall der Urlauber: Plastiktüten, Bier- und Coladosen, Plastikteller, Konservenbüchsen, Papier, Flaschen, Scherben. Die Beduinen haben die Aufgabe, den Strand sauberzuhalten, sie werden die nächsten Tage beschäftigt sein.
(...)
Der Brinkmann fand im Leben kaum etwas, das ihm Freude gemacht hat. Am allerwenigsten fand er Kontakt zu anderen, von seiner Frau abgesehen. Diese Entrüstung, wenn ihm einer nahekommen wollte (für ihn zu nahe), empfinde ich als fast pathologisch. Wie er sich weigert, gute Erfahrungen zu machen. Seine Ablehnung der italienischen Küche ist dabei exemplarisch. Er, der angeblich verfeinerte Genüsse gewohnt ist, kocht sich Knorr-Suppen und Erbsen aus der Dose. Das ist gewollte Freudlosigkeit, um sich guten Erfahrungen entziehen zu können. Wohl ähnlich mit seinem Verhalten gegenüber Menschen. Er schafft es, dass sich ihm vieles verpfuscht. Da ich nicht an Zufälle glaube, kann ich es auch nur als bezeichnend empfinden, wenn sein Sohn bei einer Operation einen Gehirnschaden erlitten hat. Unter solchen verkniffenen Menschen müssen oft andere mehr leiden als sie selbst, besonders die Kinder. Ich kann ihm natürlich keinen direkten Vorwurf machen, was hätte er besser machen sollen? Ich kann seinen Unfalltod ebenfalls nicht ohne Zusammenhang mit seiner Lebenseinstellung sehen. Er haßte alle Autos, er hat es irgendwie darauf angelegt, durch die zu sterben. Weiterleben war seinem Charakter offensichtlich nicht möglich, zu wenig Möglichkeiten für sich, keine Chance, seine Träume in Wirklichkeit umzusetzen, so liefert er sich dem, was er am meisten haßt, aus, da er es nicht besiegen kann.

Sand, Körper und der Himmel im Westen nehmen dieselbe hell-beige Farbe an, ein Gefühl der Vereinheitlichung stellt sich ein. Dazu die ruhige Luft, das Meer ist verstummt, große Ruhe, noch vereinzelt Leute, die vorbeigehen, viel Abfall ringsum, eine Endstimmung.
(...)

  Bonne année à tous!    
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Donnerstag,
28. Dezember 2017
Es kommt nicht oft vor, dass mir beim Anhören der Nachrichten ein lautes Lachen herausplatzt. Gestern war so ein Fall. Mein bevorzugter Radiosender brachte folgende Meldung:
In der Altstadt von Jerusalem soll eine Station der künftigen Hochgeschwindigkeitsbahn nach US-Präsident Trump benannt werden.

Die Strecke befindet sich allerdings noch in der ersten Planungsphase. Transportminister Katz sagte, man danke Trump damit für seine – so wörtlich – mutige und historische Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel anzuerkennen. Die "Donald John Trump Station" solle im jüdischen Viertel in der Nähe der Klagemauer gebaut werden. Trump hatte die Klagemauer im Mai besucht. Seine Entscheidung, Jerusalem als israelische Hauptstadt anzuerkennen, löste in den Palästinensergebieten und in der arabischen Welt Unruhen und Proteste aus.
Nur ja nichts vermeiden, was andere provozieren könnte.

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Sonntag,
24. Dezember 2017
Aus gegebenem Anlass haben mich Grüße und Wünsche erreicht. Zwei von ihnen will ich an die Leser meines Blogs weiterreichen. Der eine betrifft Weihnachtswünsche, der andere ist vielleicht als guter Vorsatz fürs Neue Jahr tauglich.



 
Frohe Weihnachten (in Anarchie und Luxus) Nur Mut!
Frohe Weihnachten
(in Anarchie und Luxus)
Nur Mut!
   
 

In diesem Sinne wünsche ich Euch allen das, was Ihr Euch selber wünscht und was am besten zu Euch passt.
   
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Freitag,
22. Dezember 2017
Bardou: Vor fünfzig Jahren war das kleine Dorf in den südfranzösischen Bergen zwischen Cevennen und Montagne Noire ein Ruinenhaufen, für den sich keiner interessiert hat.



Ruinendorf Bardou 1968
      Bardou 1968, kurz nach der Wiederbesiedlung durch Klaus und Jean Erhardt84
  Heute muss es sich vor Touristen in Sicherheit bringen:  
 
Letzte Umkehrmöglichkeit Anlieger frei Privatparklatz (nur für die Bewohner von Bardou) Neuer Parkplatz für Wanderer 1 km vor Bardou
‘Letzte Umkehrmöglichkeit’ sagt das Schild
– was nicht stimmt (aber abschreckt)
Anlieger frei Privatparklatz
(nur für die Bewohner von Bardou)
Neuer Parkplatz für Wanderer 1 km vor Bardou.
Das Gekritzel unten am Pfosten bedeutet: "Wo ist der Abfallkorb?"
  84 aus dem Buch von Klaus Erhardt: Bardou – ein Pionierleben im Haut Languedoc, Frankfurt a.M. 2005

(siehe auch hier)
 

Mit solchen Schildern, so hilfreich sie sind, macht man sich wenig Freunde. Und wie das Gekritzel (rechts Bild) zeigt, ist die Servicementalität auch hier der Normalfall. Seinen Abfall aus der Natur wieder mit nach Hause zu nehmen, fällt manchem gar nicht ein.
   
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Dienstag,
19. Dezember 2017
Den dritten Teil des aktuellen Schreibprojekts so gut wie beendet ( siehe Eintrag vom 18.11.17). Von allen drei Teilen gibt es hier Leseproben.


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  Ein Sonnentag nach Regen, und wie vor zwei Jahren leuchten die Eichen. Sie brauchen den Winter und das Sterben um sich herum, um sich in Szene setzen zu können.    
 
Eichen im Dezember Eichen im Dezember Eichen im Dezember Eichen im Dezember
   
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Donnerstag,
14. Dezember 2017
Die Welt des Spitzensports und hier besonders die des Radsports sorgt immer wieder für Erheiterung. Jetzt wurde bekannt, dass der Radrennprofi Christopher Froome bei einer Dopinguntersuchung vor der Spanien-Rundfahrt positiv getestet wurde. Und zwar auf Salbutamol, ein Mittel, das auch ich im Giftschrank habe, für Notfälle, falls sich mein Asthma nicht mehr mit dem normalerweise eingenommenen Mittel beherrschen lassen sollte. Ich brauche Salbutamol nie. Froome erklärt, er leide seit seiner Jugend an Asthma, deswegen müsse er Salbutamol einnehmen. Nach den Dopingregeln ist ihm dies auch erlaubt.

Salbutamol erweitert die Bronchien und führt zu einer verstärkten Luft- und Sauerstoffzufuhr. Die Wirkung ist eine Leistungssteigerung.

Großartig. Vielleicht sollte ich das Salbutamolspray aus dem Schrank holen und mich zur nächsten Spanien-Rundfahrt anmelden. Wahrscheinlich hätte ich Chancen.

Radsportfans kann man offenbar jeden Schmarrn und Betrug andrehen.
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Montag,
11. Dezember 2017
Meine Frühstückszeitung Le Monde Diplomatique überrascht mich mit einem Artikel über Bernard Mandeville (1670 – 1733).
Unter der Überschrift Les prospérités du vice (Wohlstand des Lasters) bringt sie einen ganzseitigen Artikel über diesen etwas obskuren Sozialtheoretiker.

Der Vorspann:
Seit dem deutschen Soziologen Max Weber und seinem Buch "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" stellt man sich den Kapitalismus als asketisch, rigoros, autoritär, puritanisch und patriarchal vor. Jetzt, fast ein Jahrhundert später, täuscht man sich, wie die Lektüre und Wiederentdeckung von Bernard Mandeville zeigt, Arzt und Philosoph des 18. Jahrhunderts, und seiner "Bienenfabel".
Diese Bienenfabel ist Mandevilles bekanntestes Werk. Sie wird einerseits als Satire angesehen, enthält andererseits durchaus ernstgemeinte Betrachtungen. Die Kernaussage ist (Auszug aus dem Artikel):
Private Laster erzeugen öffentliches Wohl, nicht nur, weil sie moralische Hindernisse beseitigen, die durch erbauliche Geschichten von Generation zu Generation weitergetragen werden (...), sondern auch, weil sie durch das Freisetzen des Appetits einen Überfluss mit sich bringen, von dem man annimmt, er werde innerhalb der Gesellschaft schon von oben nach unten durchsickern. Das ist es, was den Übergang vom Zustand des Mangels in einen solchen des Überflusses verspricht. Mandeville zögert auch nicht zu behaupten, Krieg, Diebstahl, Prostitution und Unzucht, Alkohol und Drogen, zügellose Gewinnsucht, Umweltverschmutzung (um ein zeitgenössisches Wort zu verwenden), Luxus etc., würden tatsächlich zum allgemeinen Wohl beitragen. Alle diese üblen Dinge gereichen, wie er formelhaft wiederholt, der Zivilgesellschaft zum Wohl.
Der Artikel schließt mit den Sätzen:
Indem man dem Mandeville‘schen Konzept seinen Platz wieder vollständig zurückgibt und sich von der Weber’schen Vorstellung befreit, entdeckt man, dass der berühmte "Neue Geist des Kapitalismus", genüsslich und hedonistisch, vielleicht viel älter ist als man glaubt: er wurde als das ursprüngliche Programm des Kapitalismus an den Anfängen der industriellen Revolution formuliert.
Link zum Artikel (französisch)

Link zu einer Übersetzung der "Bienenfabel" aus dem Jahr 1705

Mandeville hat sein Konzept aus einem völlig anderen Geist heraus entworfen als zum Beispiel Goethe, wenn er im Faust von der Macht spricht, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Ich staune, was mir alles an Material zufliegt, seit ich mich mit dem Projekt über das Böse beschäftige.


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  Wenigstens hat sich nach zwei deprimierend trüben Tagen der Himmel in der Abenddämmerung wieder geöffnet.   11. Dezember 2017, 17 Uhr 36
      11. Dezember 2017, 17 Uhr 36
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Sonntag,
10. Dezember 2017

Die alten Tagebücher

19. 1. 1980

Ich muss ein Stück in der Zeit zurückspringen, zu einem Ausflug mit den Kibbuz-Volonteers ans Tote Meer. Die Episode ist zu gut, um übergangen zu werden.
(...)

Die Gegend ums Tote Meer gehört zu den eindrucksvollsten Landschaften, die ich je gesehen habe. Es ist in der Tat eine tote Gegend, von Ein Gedi und wenigen anderen Oasen abgesehen. Steine, Geröll, Sand, gespenstisch kahle rötliche Berge, und dazu dieses tiefblaue Meer mit seinen Inseln aus Salzkristallen. Der Salzgehalt beträgt etwa das Zehnfache des Mittelmeers, das ja ohnehin schon relativ stark salzhaltig ist, verglichen mit den großen Ozeanen. So wurde das Bad im Toten Meer auch zu einem besonderen Erlebnis: Absolute Unmöglichkeit, unterzugehen. Du kannst dich da reinlegen, alle Viere in die Höhe strecken, dabei Zeitung lesen oder irgendwelchen Unsinn machen und liegst dabei so sicher im Wasser wie in einem weichen Bett. Das Wasser, das auf der Haut zurückbleibt, ist wie ein dicker, öliger Film, und wenn ihn die Sonne weggetrocknet hat, bist du von einer schneeweißen Salzschicht bedeckt.

Am Abend Fest in Masada. Gesänge und Geblödel in einem halben Dutzend Sprachen, Besäufnis hat Ruven stellvertretend für den Kibbuz spendiert. Andrew hat nach jeder laut gegrölten Darbietung ganz selige Augen bekommen und gemeint: "Oh, they are rreally naice these people ..." Tanz und Rausch bis nach Mitternacht, und nie werde ich Ruvens erste Frage am Morgen vergessen: "One question: Who pissed on the driver? Was it me?" – Er war es nicht, aber er war sich zurecht nicht ganz sicher.

(...)

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Samstag,
9. Dezember 2016
Erste Sätze (23)


Hans Henny Jahnn, Fluss ohne Ufer (1. Teil, Das Holzschiff, veröffentlicht 1949)

Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar.
 
Der Satz ist der Beginn eines der rätselhaftesten Werke der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert, der insgesamt mehr als zweitausend Seiten umfassenden Romantrilogie Fluss ohne Ufer, geschrieben in den Jahren 1935 bis 1947. Dieses Werk hat eine Fülle von literaturwissenschaftlichen, rezensorischen, interpretatorischen, journalistischen und persönlichen Texten aller Art inspiriert. Auch ich bin ihm seit einiger Zeit gewissermaßen verfallen, nicht zuletzt, weil ich in ihm ständig Bezüge zu meinem derzeitigen Projekt über das Böse finde.
   
 
Einige ausgewählte Links zu H. H. Jahnn und dem Fluss ohne Ufer:

Wikipedia-Eintrag zu H. H. Jahnn

Beitrag des Journalisten und Literaturkritikers Ulrich Greiner in "Text und Zeit", anlässlich Jahnns hundertstem Geburtstag (1994). In einem Kurzeintrag über Jahnn weist er vorsorglich darauf hin, die kleine Gemeinde seiner Verehrer war und ist von sektiererischen Zügen nicht frei. Davon kann man sich bei Recherchen im Netz leicht überzeugen.

Dissertation von Nanna Hucke über Fluss ohne Ufer mit dem Titel "Die Ordnung der Unterwelt" (2009)

Video von Peter Rühmkorf und Paul Kersten über H. H. Jahnn (1975)
   

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Freitag,
8. Dezember 2017
Oft sind die Nachrichten so, dass man entweder abschalten oder verzweifeln möchte. Nicht so heute: mindestens zweimal dachte ich: geht doch!

Erstens: In die Verhandlungen über den Brexit (der dümmsten politischen Entscheidung seit der römische Kaiser Caligula sein Lieblingspferd zum Consul ernannt hat, so neulich ein Radio-Kommentator) scheint plötzlich Vernunft eingekehrt zu sein: In den wichtigsten Fragen, nämlich dem Status der in Großbritannien lebenden EU-Bürger und der Irisch-/Nordirischen Grenze hat man offenbar taugliche Vorschläge auf dem Tisch liegen. ( Bericht im DLF)

Zweitens: Trotz der mindestens ebenso dummen (und brandgefährlichen) Entscheidung Trumps, die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, gibt es Kräfte, die konstruktive Vorschläge für die Lösung des Israel-Palästina-Konflikts machen, diesem Krebsherd und Kern aller Katastrophen im Nahen Osten. Ein solcher Lichtblick ist die Initiative "Two states – one homeland" ("Zwei Staaten – ein Heimatland" Bericht im DLF)
Von den Politikern beider Seiten erwartet sich niemand mehr irgendetwas. Die Initiative schlägt ein Konföderationsmodell nach dem Vorbild der EU vor. Endlich! Ich erinnere an meinen Eintrag über die Nahost-Konferenz in Paris vom 16. Januar 2017.

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Mittwoch,
6. Dezember 2017
Ein Männlein steht im Walde ...



 
März 2008 Januar 2015 Dezember 2015 Februar 2016
März 2008 Januar 2015 Dezember 2015 Februar 2016
   
 
Januar 2017 April 2017 Dezember 2017
Januar 2017 April 2017 Dezember 2017
   
  Einst stand die kämpferische Gestalt mit hochgereckter Faust mitten im Wald, bereit jedem Eindringling entschlossen entgegenzutreten ...

... doch Jahr für Jahr fand sich kein rechter Gegner ...

... so stand und stand und stand der Kerl mit seiner Faust in Regen, Schnee und Wind ...

... bis so gut wie nichts mehr von ihm übrig war ...

... nur die Faust allein reckt sich noch einsam in die Höhe (es war eine Faust, sonst nichts ...)
   
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Samstag,
2. Dezember 2017
Der Winter kam auch hier überfallartig und für hiesige Verhältnisse viel zu früh. Es geht ein eiskalter Sturmwind bei null Grad und Schneetreiben. Die (Schein-)Mimose hinterm Haus hat ( schon wieder!) ihre Blütenstände zur Unzeit angesetzt. Sie wird fürchterlich gebeutelt.

Wenn das so weitergeht, war meine Vorstellung, mein Brennholzvorrat könnte den ganzen Winter reichen, eine ziemlich naive Illusion.

Gebeutelte Mimose
      Gebeutelte Mimose (Klick öffnet neues Fenster)
 
Blick am Morgen aus dem Schlafzimmerfenster ... und aus dem Stubenfenster Naive Illusion
Blick am Morgen aus dem
Schlafzimmerfenster
... und aus dem Stubenfenster Naive Illusion
   
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Sonntag,
26. November 2017
Der herzliche Empfang und das gute Leben geben Anlass zur Dankbarkeit. Schweinshaxen auf zweierlei Art: traditionell mit krachender Kruste und irgendwie indisch mit Linsen und Gemüse. Und mit Wein und Schnaps (pour faire le Trou Normand – funktioniert auch im Süden) und Blick von der Terrasse weit übers Land.

Und noch ein Gast isst mit: Vespa velutina ist nach zwei Jahren wieder da.


 
Schweinshaxen auf zweierlei Art Blick über Dorf und Land Mitesser: Vespa velutina, die asiatische Hornisse
Schweinshaxen auf zweierlei
Art
Blick über Dorf und Land Mitesser: Vespa velutina,
die asiatische Hornisse
   
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Samstag,
25. November 2017
Im Gegensatz zum trüben Winteranfang im Schwarzwald hat mich Südfrankreich mit glühenden Farben empfangen:



 
Auf der Autobahn bei Montpellier
Auf der Autobahn bei Montpellier (Klick öffnet ein neues Fenster)
 
 
Quitte Kirschbaum Kirschbaum Kastanie
Quitte Kirschbaum Kirschbaum Kastanie
   
 
Allerdings auch mit einem Ausfall der Internet- und Telefonverbindung (es hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre) – daher die Verspätung.
   
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Montag,
20. November 2017
Nun haben sie "Jamaika" also platzen lassen, die famosen Politiker. Wir werden nie die ganze Wahrheit über den Verlauf der Verhandlungen, besonders am gestrigen Sonntag, erfahren. Die FDP, heißt es, war's. Möglich ist es, dass diese überflüssigste aller Parteien, die gerade nach vierjähriger Pause wieder in den Bundestag gewählt wurde, ein Machtdemonstratiönchen aufführen wollte. Darin hat sie Übung: jahrzehntelang hat sie die Rolle als Zünglein an der Waage mit boshaftem Vergnügen gespielt. Dann doch bitte gleich Neuwahlen, damit diese Partei wieder zum Verschwinden gebracht werden kann.

Vielleicht war es aber auch ganz anders. Ich werde den weiteren Verlauf des Dramas aus der Ferne beobachten. Da die Engelstrompeten erfroren sind und ein trüber Winteranfang mich verscheucht, will ich wenigstens noch ein letztes Mal meinen Hut nehmen und in den Süden fahren.

Neuwahlen, wenn sie denn sein müssen, könnten eine Chance bieten: Das Lager, das man gemeinhin das linke nennt, könnte sich endlich dazu durchringen, völlig neue Konzepte anzubieten, nur so wäre eine Wiederholung des Wahlergebnisses vom 24. September vermeidbar: Vom Waffenexportstopp über soziale Reformen, die diesen Namen auch verdienen, bis zum bedingungslosen Grundeinkommen. Und das alles mit einer deutlichen Koalitionsaussage vor der Wahl.

Wenn halt der Sprung über den eigenen Schatten nicht so eine verdammt schwierige Übung wäre.





 
Erfrorene Engelstrompeten Trüber Winteranfang
Erfrorene Engelstrompeten Trüber Winteranfang
   
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Samstag,
18. November 2017
Ein paar Tage noch, dann werde ich zum (wahrscheinlich) letzten Mal die alljährliche Fahrt in den Winterschlaf antreten. An Schreibprojekten zum Mitnehmen gibt es:

  • Die Beendigung des dritten Teils der "Wegwerfwelt", einem Essay über das Böse (siehe die Einträge vom 14.12.16, vom 26.4.17 und vom 6.8.17)


  • Ein neues Projekt, dessen Ausgangspunkt eine Bemerkung von Gustave Flaubert ist, die er in einem Brief an seine Freundin Louise Colet vom 16. Januar 1852 gemacht hat:
    Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der Luft hält, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast kein Sujet hätte, oder bei dem das Sujet zumindest fast unsichtbar wäre, wenn das möglich ist. Die schönsten Werke sind jene, die die wenigste Materie enthalten; je mehr der Ausdruck sich dem Gedanken nähert, je enger das Wort daran haftet und verschwindet, umso schöner ist es. Ich glaube, dass die Zukunft der Kunst in dieser Richtung liegt.82
  • Diesen Gedanken, ein Buch über nichts zu verfassen, möchte ich verfolgen (nicht es selber schreiben!) und Beispiele finden, wo Schriftsteller ein solches Ziel ebenfalls vor Augen hatten und es in die Tat umzusetzen versucht haben. Flaubert war auch nicht der erste, den solche Vorstellungen heimgesucht haben: Bereits über ein halbes Jahrhundert zuvor hat Friedrich Schiller einen ähnlichen Gedanken – wenn auch vielleicht weniger radikal – formuliert:
    In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten. Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.83
    Und es gab andere, nach Flaubert. Vorläufig scheint mir die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ergiebige Ausbeute zu versprechen.

    82 FLAUBERT, Gustave: Briefe, Zürich 2005, S. 181


    83 SCHILLER, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 22. Brief, Stuttgart 2008, S. 88
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    Donnerstag,
    16. November 2017

    Die alten Tagebücher (21)

    3. und 4. April 1980

    Der fünfmonatige Aufenthalt im Kibbuz Ein Hashloshah ist zu Ende.
    Nueba/Neviot, 3.4.
    Den Kibbuz verlassen, endlich wieder ohne Pflichten. Wir haben uns mit Walter und Frédérique am Strand eingerichtet, das Zelt für unser Gepäck aufgestellt, davor ein Sonnendach aus Decken aufgebaut.
    Die erste Nacht noch unter einem amtlichen Schattenspender mit tausend anderen verbracht, hauptsächlich laute Israelis, die einem auf die Nerven gehen. Davor Eilat, Touristenpool (Maika wiedergesehen, durcheinander wie immer), davor der Trip der Kibbuzvolontäre, am Strand südlich von Eilat. Hier Tom getroffen, von ihm Essensmarken bekommen. Der Platz ist gut, wenn man sich vom Rummel abseilt. Zur Zeit ist Pessach (Ostern), ganz Israel ist hier scheint's versammelt.
    Eine traumhafte Gegend: Das türkisblaue glasklare Wasser des Roten Meeres, dahinter im Dunst die rötlichen Berge Saudi Arabiens, im Rücken die nackten Felsen des Sinai, dazu die Palmen von Nueba. Nur eben die Scheiß-Massen. Was aber auch seine Annehmlichkeiten hat. So wird z.B. Walter gleich mit ein paar kalten Bieren zurückkommen, es gibt kein Trinkwasserproblem, Verpflegung ist gesichert usw. Allein in der Wüste ist doch kein angenehmes Leben, nicht einmal ein Überleben.
    Die Beduinen (schöne Menschen!) stellen ihre geschmückten Kamele den Touristen zur Verfügung, wir haben uns für 60 IL unsere Rucksäcke herschaukeln lassen.
    Das Rom-Buch von Brinkmann)* angefangen, kurzer Brief an H.

    4.4.
    Merke beim Lesen des Brinkmann, daß ich beim Niederschreiben meiner eigenen Beobachtungen und Empfindungen praktisch immer beschönige. Ich wähle gleichsam einen Postkartenausschnitt aus meiner Umgebung und aus meinen Gedanken und halte ihn für das einzig Festhaltenswerte. Selbstzensur. Natürlich sieht auch er nur subjektiv, aber er ist genauer. Nicht, daß ich nicht sehen würde, was er sieht, nicht, daß ich es nicht bemerkenswert finden würde, aber bei mir bleibt es beim Bemerken, ich schreibe es nicht hin.

    _________________________________________

    )* BRINKMANN, Rolf Dieter: Rom, Blicke; Reinbek 1979

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    Samstag,
    11. November 2017
    Erste Sätze (22)


    Jaume Cabré, Das Schweigen des Sammlers (Jo confesso, 2011)

    Erst gestern Abend, als ich durch die regennassen Straßen von Vallarca spazierte, wurde mir bewusst, dass es ein unverzeihlicher Fehler war, in diese Familie hineingeboren zu werden.

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      Auch eine Art Tagebuch: ein Foto des unaufgeräumten Couchtisches   Couchtisch am frühen Abend des 11. November 2017
          Couchtisch am frühen Abend des 11. November 2017
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    Samstag,
    4. November 2017
    Eine der vielen Alterserscheinungen, die mich derzeit heimsuchen, besteht darin, dass Krankheiten, wie zum Beispiel eine einfache Erkältung, nicht mehr innerhalb von drei, vier Tagen vorbei sind.

    Kleine Nachlese aus den letzten zwei bis drei Wochen:


    1.11.2017: bild der wissenschaft meldet: Die Suizid-Neigung eines Menschen kann mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) erkannt werden. In einem Versuch zeigten suizidgefährdete Probanden andere Hirnaktivitätsmuster als die Personen einer Kontrollgruppe, die als psychisch gesund eingestuft wurden.

    Mir erschließt sich noch nicht der Nutzen dieses Ergebnisses. Um einem Menschen in einer suizidalen Situation beistehen zu können, unterzieht man ihn einer MRT-Untersuchung? Wie wär's denn mit therapeutischer Hilfe?



    30.10.2017: Der Deutschlandfunk meldet: Der russische Präsident Putin hat ein Mahnmal für die Opfer der Stalin-Ära eingeweiht. Millionen Menschen seien damals unter absurden Vorwürfen zu Volksfeinden erklärt worden, sagte Putin in Moskau. Für die politischen Repressalien gebe es keine Rechtfertigung.

    Und für die Repressalien der Putin-Ära? Man könnte zu diesem Thema oppositionelle Politiker ( Alexei Nawalny), Künstler ( Pussy Riot) oder ganze Volksgruppen ( Krimtataren) befragen. Sie würden der Aussage, dass es für politische Repressalien keine Rechtfertigung gebe, sicher zustimmen.



    3.11.2017: Spiegel online meldet: Polizei und Staatsanwaltschaft durchsuchen die Zentrale des Handelskonzerns Metro. Der Vorwurf lautet: Insiderhandel, also sich durch das Wissen um bevorstehende Maßnahmen einen finanziellen Vorteil verschafft zu haben. Der Aufsichtsratsvorsitzende Jürgen Steinemann kaufte sich für eine Million € Aktien seines Konzern, vier Wochen bevor Metro im März 2016 in zwei selbständige Unternehmen aufgespalten wurde, was die Börse mit einem Kurssprung quittierte. Gewinn für den Chef: 172.000,- €. Auch ein Mitglied des Vorstands hatte zum selben Zeitpunkt Aktien gekauft und abkassiert. Bei Metro weist man selbstverständlich alle Vorwüfe weit von sich. Ich aber verweise auf meinen Eintrag vom 9. April 2016 zum Stichwort Dreckspack.



    2.11.2017: Viele Medien, zum Beispiel auch die Süddeutsche Zeitung, melden: Donald Trump verhängt per Twitter die Todesstrafe über den Attentäter von New York. Was Trump dabei vermutlich nicht bedacht hat, ist die Tatsache, dass die Todesstrafe aus dem Täter (der bekennender IS-Anhänger ist) einen Märtyrer macht, welcher nach seinem Tod unverzüglich ins Paradies eingeht. 72 Jungfrauen warten dort auf ihn (Einzelheiten zu deren Beschaffenheit siehe ).
    Will Trump dies wirklich?

    72 Jungfrauen im Paradies
          72 Jungfrauen im Paradies.
    Quelle: wikiislam.net
           
      Und zum Abschluss noch eine Meldung vom heutigen Abend. Der Deutschlandfunk meldet: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff lehnt es ab, die deutschen Klimaziele für das Jahr 2020 einzuhalten (die in den Jahren 2009-2013 von einer schwarz-gelben Regierungskoalition aufgestellt worden waren!). Laut DLF sagte Lambsdorff, niemand könne die Vorgaben erreichen, ohne dass massiv energieerzeugende Betriebe und Industriebetriebe stillgelegt würden. Das käme einem industriellen Selbstmord gleich.

    Jetzt muss er noch erklären, was an einem industriellen Selbstmord der deutschen Wirtschaft schlimmer sein soll als an einem globalen Selbstmord des ganzen Planeten durch Überhitzung. Lambsdoff feiert morgen seinen 51. Geburtstag, wird also aller Voraussicht nach die ganz großen Klimakatastrophen nicht mehr erleben. Nach ihm die Sintflut. Kaum ist diese überflüssige Partei wieder im Bundestag, schon disqualifiziert sie sich aufs Neue.


    Genug, es reicht. Ich ziehe mich auf meine paar Quadratmeter in der Kratzbürste zurück. Unsere Baustelle ist auf der Zielgeraden, heute war zum Beispiel Aufräumtag, unter Mithilfe aller, auch der Jüngsten.
    Aufräumen im Kratzbürstenhof
          Aufräumen im Kratzbürstenhof
           
      Und die Engelstrompeten, die schönen, sind noch immer nicht erfroren. Gerade geben sie ihr Letztes.   Die Engelstrompeten geben ihr Letztes
          Die Engelstrompeten geben ihr Letztes
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    Sonntag,
    29. Oktober 2017
    Pause wegen





           
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    Samstag,
    14. Oktober 2017

    Die alten Tagebücher (20)
    (dieses Mal in Tateinheit mit den alten Träumen)

    24. 2. 1980

    C. ist für ein paar Wochen nach Deutschland geflogen um etwas Geld zu verdienen, ich bin im Kibbuz zurückgeblieben. Die "Argentines" sind eine Gruppe von Volonteers aus Argentinien, die für Wochen den Kibbuz unsicher machen und in unserem Wohn- und Schlafquartier vor allem durch ihre Lautstärke zu jeder Tages- und Nachtzeit unangenehm auffallen.
    (...)
    Telefongespräch von C. hat nicht geklappt, konnte sie auch nicht zurückrufen, Apparat funktioniert nicht. Ich hoffe, sie schickt ein Telegramm mit ihrer Ankunftszeit. Gestern nacht noch letzter Auftritt der "Argentines". Gebrüll und leichte Schlägerei morgens um vier. Ich muß einen am Kragen packen, so geht's zu. Thanks goodness, daß sie verschwinden.
    Nachträge: Zwei Träume, der erste: Theater, ein Ein-Personenstück wird geschrieben/geprobt. Er schneidet sich nach und nach Teile seines Körpers ab, Füße, Beine, Hände, Arme, bis nur noch der Rumpf übrigbleibt. Diese Idee gäbe vielleicht tatsächlich ein Theaterstück ab.
    Der zweite: In einer modernen Stadt, meiner Stadt, bricht ein Krieg aus. Düsenjäger fliegen knapp über die Dächer, richten mit Überschallknallen Schäden an, werfen dann Bomben. Panik bricht aus. C. ist dabei, sie ist schwanger, wir kaufen gerade Kleider für sie. Ich habe Kinder im Alter von ca. 10 Jahren, Kinder, auf die ich stolz bin, sie erinnern mich an M. und A. Ich schicke das Mädchen über die nahe Grenze (Schweiz/Italien) um etwas zu besorgen, freue mich an dem Gefühl, mich in dieser gefährlichen Situation auf die Kinder verlassen zu können.
    Ich möchte wieder "mein" Leben führen. Hier im Kibbuz, wie auch vorher unterwegs, bin ich dazu nicht in der Lage. Mein Leben findet anders/anderswo statt. Und ich möchte es aus meinem Kopf in die Wirklichkeit entlassen. Es wird wieder besser werden, sobald C. wieder bei mir ist. Sie ist Teil meines Lebens, schon praktisch unverzichtbar geworden. Es wird Zeit, daß wir zusammen etwas aufbauen.
    Spät noch Briefe an C. und Mutter (kurz).

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    Freitag,
    13. Oktober 2017
    Auch in Österreich ist Wahlkampf, noch bis zu diesem Wochenende. Es gibt dort ähnliche Konstellationen wie in Deutschland: eine schwache Sozialdemokratie (SPÖ) eine (relativ) solide konservative Partei (ÖVP) und sehr populäre Populisten auf der rechten Seite (FPÖ), die in den Umfragen sogar deutlich vor der SPÖ rangieren. Auch in Österreich sind die Flüchtlinge ein zentrales Wahlkampfthema. ÖVP und FPÖ überbieten sich gegenseitig in Flüchtlingsfeindlichkeit. Die Zeit schreibt dazu: Wahl in Österreich – Die Wahl zwischen rechts und rechts?

    Ein Highlight war heute in den Informationen am Abend des Deutschlandfunks eine Aussage des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz (ÖVP) bezüglich der Leistungen für Flüchtlinge. (Er war schon früher durch intelligente Lösungen der Flüchtlingsfrage aufgefallen). Kurz will eine "Mindestsicherung, die einseits gedeckelt ist, die andererseits aber auch für Flüchtlinge – für anerkannte Flüchtlinge – deutlich niedriger ist, weil sie noch nie ins System eingezahlt haben."

    Die Flüchtlinge hätten besser vor ihrem Asylantrag, am besten schon in Syrien oder Afghanistan, monatliche Beiträge in die österreichische Sozialversicherung einbezahlt, will uns Kurz damit sagen. Man muss nur blöd genug argumentieren, damit man (nicht nur in Österreich) gewählt wird.

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    Sonntag,
    8. Oktober 2016
    Erste Sätze (21)


    Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1944)

    Ich habe meiner Person niemals so viel Wichtigkeit beigemessen, daß es mich verlockt hätte, anderen die Geschichten meines Lebens zu erzählen.

    (Eine solche Zurückhaltung würde man sich öfter wünschen – man muss nur mal bei amazon nach Autobiographien "berühmter Persönlichkeiten" suchen)

    Stefan Zweig hatte gute Gründe, aus seinem Leben zu erzählen. Er fährt fort:
    Viel musste sich ereignen, unendlich viel mehr, als sonst einer einzelnen Generation an Geschehnissen, Katastrophen und Prüfungen zugeteilt ist, ehe ich den Mut fand, ein Buch zu beginnen, das mein Ich zur Hauptperson hat oder – besser gesagt – zum Mittelpunkt.
    Das Buch erschien 1944 in einem schwedischen Verlag, zwei Jahre, nachdem der Autor sich – in Verzweiflung über das Grauen seiner Zeit – das Leben genommen hatte. (Siehe auch den Ausschnitt über den Kleidercodex der Frauen in Europa vor dem Ersten Weltkrieg)
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    Samstag,
    7. Oktober 2017
    Am vergangenen Dienstag, dem 3. Oktober, sendete der Deutschlandfunk ein Hörspiel, die "Traumprotokolle" von Theodor W. Adorno. In der Hauptsache bestand dieses Hörspiel aus aufgezeichneten Träumen des Autors. Der Sender schrieb dazu: Adorno notierte seine Gedanken über Träume Anfang 1956. Die Bedeutung des motivischen Zusammenhangs der Träume ließ ihn eine Reihe von ihnen auswählen und für eine Publikation vorbereiten, die zu seinen Lebzeiten nicht mehr erschien.

    Da ist mir eingefallen, dass auch ich meine Träume seit vielen Jahren in meinen Tagebüchern notiert habe. Ein Hörspiel kann ich nicht daraus machen, aber "eine Reihe von ihnen auswählen und für eine Publikation vorbereiten".

    In der Veröffentlichung intimer Erlebnisse und Gefühle, wie Träume sie darstellen, steckt ein gewisses Risiko – wenigstens hätte ich dies noch vor ein paar Jahren so gesehen. Heute erzählt jeder im Netz die intimsten Begebnisse, Risiken schwinden mit der Zahl derjenigen, die sie eingehen. Und Altes, längst Vergangenes zu veröffentlichen, hat nur noch historischen Wert. Oder?

    Ich beginne mit dem November 1999. Wie Adorno habe ich "für die Publikation nur die empfindlichsten sprachlichen Mängel korrigiert".

    Meine damalige Situation: Die Trennung von C., meiner Frau, war seit etwa eineinhalb Jahren im Gang.

    27.11.1999

    Bin im Gebirge, auf einem Hof oder einer Hütte, auch andere sind da; schöne Gebirgslandschaft; es führt eine Seilbahn rauf, auch Fahrwege. Ich will bergab gehen, die Seile der Seilbahn, die in die Tiefe führen, sind über mir sichtbar. Plötzlich gerate ich an einen immer steiler werdenden Abgrund, merke, daß es plötzlich in die Tiefe abbricht, gerade noch kann ich anhalten, muß äußerst aufpassen, daß ich auf dem Geröll nicht ausrutsche. Rufe nach meinem Freund (Christoph v. H.), er erkennt meine Lage und wird mir ein Seil herablassen. Ich sage mir, daß ich nicht hastig sein muß, ich kann mir den ganzen Tag Zeit lassen, um äußerst vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter wieder nach oben auf sicheres Gelände zu gelangen.
    Und am folgenden Tag, 28.11.1999:

    Mit ein paar Leuten (wer?) in einem einsamen Haus im Wald. Wir wohnen dort nicht, können es aber vorübergehend benutzen. Da kommt eine Gruppe Fremder, 3, 4 Leute, auch eine Frau mit Kleinkind ist dabei; sie benehmen sich sehr distanzlos, setzen sich an den Tisch, schenken sich Kaffee ein, gehen im Haus umher usw.
    Nach kurzer Zeit wird mir das zu bunt, ich empfinde es als Unverschämtheit und bitte die Menschen scharf, das Haus zu verlassen; man macht keine Anstalten, zu folgen. Ich bitte die anderen aus meiner Gruppe mehrmals, mir doch zu helfen die Fremden rauszuwerfen, aber es ist eine seltsam gelähmte Stimmung. Ich frage einen, was er da macht, warum er mir nicht hilft, er sagt, er rührt Hefe an. Als man schließlich doch langsam aufbricht, wollen die anderen uns/mir noch alle möglichen Dinge andrehen, z.B. einen Koffer, irgendwelches Papier usw.


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    Sonntag,
    1. Oktober 2017
    Gesichtsverhüllung in Österreich ab heute unter Strafe, meldet der Deutschlandfunk: In Österreich dürfen muslimische Frauen ihre Gesichter von heute an nicht mehr verhüllen. Das Verbot betrifft vor allem Trägerinnen von Burkas oder Niqabs.

    Anlass für mich, an einen Text von Stefan Zweig (auch er war Österreicher) aus dem Jahr 1940 zu erinnern, in dem er vom Kleider- und Verhaltenscodex für europäische Frauen erzählt, wie er bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein in der bürgerlichen Welt selbstverständlich war. Auch Europa war (ist?) keineswegs völlig frei von Maßnahmen, die einerseits Frauen den herrschenden patriarchalischen Regeln unterwerfen, andererseits aber von den Frauen als völlig selbstverständlich hingenommen werden.

    Hier der entsprechende Ausschnitt:
    (...) Schon die Männermode der hohen steifen Kragen, der ›Vatermörder‹, die jede lockere Bewegung unmöglich machten, der schwarzen schweifwedelnden Bratenröcke und der an Ofenröhren erinnernden Zylinderhüte fordert zur Heiterkeit heraus, aber wie erst die ›Dame‹ von einst in ihrer mühseligen und gewaltsamen, ihrer in jeder Einzelheit die Natur vergewaltigenden Aufmachung! In der Mitte des Körpers wie eine Wespe abgeschnürt durch ein Korsett aus Fischbein, den Unterkörper wiederum weit aufgebauscht zu einer riesigen Glocke, den Hals hoch verschlossen bis an das Kinn, die Füße bedeckt bis hart an die Zehen, das Haar mit unzähligen Löckchen und Schnecken und Flechten aufgetürmt unter einem majestätisch schwankenden Hutungetüm, die Hände selbst im heißesten Sommer in Handschuhe gestülpt, wirkt dies heute längst historische Wesen ›Dame‹ trotz des Parfüms, das seine Nähe umwölkte, trotz des Schmucks, mit dem es beladen war, und der kostbarsten Spitzen, der Rüschen und Behänge als ein unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit. Auf den ersten Blick wird man gewahr, daß eine Frau, einmal in eine solche Toilette verpanzert wie ein Ritter in seine Rüstung, nicht mehr frei, schwunghaft und grazil sich bewegen konnte, daß jede Bewegung, jede Geste und in weiterer Auswirkung ihr ganzes Gehabe in solchem Kostüm künstlich, unnatürlich, widernatürlich werden mußte. Schon die bloße Aufmachung zur ›Dame‹ – geschweige denn die gesellschaftliche Erziehung – das Anziehen und Ausziehen dieser Roben bedeutete eine umständliche Prozedur, die ohne fremde Hilfe gar nicht möglich war. Erst mußten hinten von der Taille bis zum Hals unzählige Haken und Ösen zugemacht werden, das Korsett mit aller Kraft der bedienenden Zofe zugezogen, das lange Haar – ich erinnere junge Leute daran, daß vor dreißig Jahren außer ein paar Dutzend russischer Studentinnen jede Frau Europas ihr Haar bis zu den Hüften entrollen konnte – von einer täglich berufenen Friseuse mit einer Legion von Haarnadeln, Spangen und Kämmen unter Zuhilfenahme von Brennschere und Lockenwicklern gekräuselt, gelegt, gebürstet, gestrichen, getürmt werden, ehe man sie mit den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und Jäckchen so lange umbaute und gewandete, bis der letzte Rest ihrer fraulichen und persönlichen Formen völlig verschwunden war. Aber dieser Unsinn hatte seinen geheimen Sinn. Die Körperlinie einer Frau sollte durch diese Manipulationen so völlig verheimlicht werden, daß selbst der Bräutigam beim Hochzeitsmahl nicht im entferntesten ahnen konnte, ob seine zukünftige Lebensgefährtin gerade oder krumm gewachsen war, füllig oder mager, kurzbeinig oder langbeinig; diese ›moralische‹ Zeit betrachtete es auch keineswegs als unerlaubt, zum Zwecke der Täuschung und zur Anpassung an das allgemeine Schönheitsideal künstliche Verstärkungen des Haars, des Busens oder anderer Körperteile vorzunehmen. Je mehr eine Frau als ›Dame‹ wirken sollte, um so weniger durften ihre natürlichen Formen erkennbar sein; im Grunde diente die Mode mit diesem ihrem absichtlichen Leitsatz doch nur gehorsam der allgemeinen Moraltendenz der Zeit, deren Hauptsorge das Verdecken und Verstecken war. (...)81
    Das ganze Kapitel, das sich mit der doppelten Moral der Kaiserzeit befasst und die Überschrift Eros Matutinus trägt, kann – wie auch das ganze Buch – hier beim Projekt Gutenberg gelesen und heruntergeladen werden.

    Gegen die doppelte Moral im Islam macht sich vor allem die Autorin und Anwältin Seyran Ateş stark.
    81 ZWEIG, Stefan: Die Welt von Gestern, Frankfurt am Main 2003, S. 91 f.; Erstausgabe Stockholm 1944
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