Leseproben aus: Jaume Cabré, Senyoria



S. 60 ff, 184 ff., 236 ff.



[1] In einem Hotel in Barcelona wird eine französische Sängerin ermordet aufgefunden. Die Gerüchte überschlagen sich. (S. 60 ff.)

[2] Der - für den Leser offensichtlich völlig unschuldige - Andreu Perramon wird des Mordes angeklagt und zum Tod verurteilt. Bestimmte Personen haben ein starkes Interesse daran. (S. 184 ff.)

[3] Die Barceloneser Oberschicht gibt sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: auf festlichen Gelagen das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel zu spielen. (S. 236 ff.)





[1]

In einem Hotel in Barcelona wird eine französische Sängerin ermordet aufgefunden. Die Gerüchte überschlagen sich. (S. 60 ff.)

Auf der Rambla hatte sich vor dem Eingang zum Hostal Quatre Nacions ein Grüppchen Schaulustiger versammelt, betrachtete die Fassade des Gebäudes und philosophierte. In der Aufregung über die Nachrichten achtete niemand darauf, daß der kriechende Nebel in die Knochen drang, auch wenn der Regen kurz zuvor aufgehört hatte, und man knöcheltief im Schlamm watete, in den die feuchte Witterung der letzten Tage die Straßen verwandelt hatte. Und wenn schon. Schließlich hatte man gehört, daß A gehört hatte, er habe von B gehört, und nun wartete man begierig auf Neuigkeiten oder neue Versionen der Neuigkeiten. Auf jeden Fall wußten alle, daß sie gehört hatten, es werde erzählt, daß die Französin, diese Sängerin - ach ja, eine französische Sängerin? Ja, also daß die zerstückelt worden ist. Na so was! Ja doch! Was du nicht sagst! Und wo? Hier. Hier? Ja, im Hostal. Donnerwetter! Und was hatte sie hier zu suchen, die Französin? Na, was wohl – gesungen hat sie. Ah ja. Hier im Hostal? Was sagt die Frau da? Anscheinend ist hier eine singende Französin zerstückelt worden. Da brat mir einer einen Storch! Und woher weißt du das, Mariona? Jeroni hat es mir erzählt, der arbeitet im Hostal. Ach so, im Hostal ist das passiert? Ja. Das will ich sehen. Vergiß es, die lassen dich sowieso nicht rein, siehst du die Soldaten nicht? Na so was. Zerstückelt? So richtig kleingehackt? Glaub ich nicht! Doch, ich schwör’s! Was erzählt die Frau da? Jemand hat eine singende Spanierin in Stücke gehackt. Französin! Ja, Französin, meinte ich doch. O Gott, O Gott. Und wer? Keine Ahnung. Jetzt waren es schon sechzehn, zwanzig, fünfundzwanzig, die eine Lungenentzündung in Kauf nahmen, um ihre Meinung kundzutun, ohne wirklich etwas Neues zum Gespräch beizutragen außer Details wie: Also, wenn sie wirklich zerstückelt worden ist, möchte ich nicht diejenige sein, die saubermacht. Ich habe gehört, der Mörder ist entkommen. Was weißt du schon! Ich habe gehört, es waren zwei und man hat sie erwischt. Zwei Matrosen. Nein, es waren Diebe, ist doch klar, so eine ausländische Sängerin hat bestimmt einen Haufen Geld dabei. Aber nein: Es waren Matrosen. Jesses Maria! Da sieht man’s, was er ihr genutzt hat, ihr Haufen Geld. Ja, so ist das: Wem die Stunde schlägt ... Tja, meine Liebe, wen’s erwischt, den erwischt’s. Also, ich gehe. Wohin? Auf den Markt, zur Boqueria. Wart noch ein bißchen, dann komme ich mit. Wer hat denn gesagt, daß sie ausgeraubt worden ist? Ich. Ach, und stimmt das auch? Natürlich, sonst würd ich’s ja nicht sagen. Zwei Matrosen aus Mallorca. Was sind das nur für Zeiten, mein Gott, jetzt kann man nachts nicht mal mehr auf die Straße gehen! Na ja, aber die hier ist ja drinnen ermordet worden. Um so schlimmer! Nirgendwo ist man mehr sicher. Recht hast du. Als ich klein war, konnte man durch die ganze Stadt gehen ... Das ist nur, weil sie die Stadtmauern einreißen. Ach was! Gesindel haben wir hier auch so genug! Eine Französin war sie, hast du gesagt? Wer? Na, die Frau, die zerstückelt worden ist. Was? Eine Frau ist zerstückelt worden? Wo? Nun waren es schon über dreißig Alleswisser, die auf der Rambla vor dem Hostal dem Wetter trotzten, und die Mörder waren drei Matrosen von der Indomable. Nein, richtig zerstückelt worden ist sie nicht. Also, Eulàlia sagt ... Welche Eulàlia? Na, die von den Pocs. Ach die! Sieh mal, da ist sie ja! He, Eulàlia, was sagst du denn zu diesem Unglück? Ich hab nur gesagt, daß sie nicht zerstückelt worden ist. Na also, was erzählen diese Weiber hier denn für einen Unsinn! Zerstückelt, also wirklich ... Was die Leute so reden! Und was ist nun wirklich passiert? Sie haben ihr bloß Arme und Beine abgeschnitten. Und den Kopf, hab ich gehört. Ja, das stimmt: den Kopf auch. Na, wenn das nicht zerstückelt ist, meine Liebe, dann weiß ich nicht ... Während sie noch darüber diskutierten, ob dieses Gemetzel technisch betrachtet als Zerstückelung durchging, rollte eine schwarze Kutsche, gezogen von einem alten, kurzatmigen Pferd, bleigrau wie der Tag, durch das Tor von Ollers und fuhr die Rambla hinunter bis vor das Hostal. Auf jede Form verzichtend, stürzte Don Rafel, der dürre Gerichtspräsident, heraus, daß die Kutsche wackelte. Als Zugabe kletterte der ehrenwerte Staatsanwalt der Strafkammer, der stämmige Don Manuel d’Alòs, hinterdrein, und beiden Herren folgten, aus dem Nebel aufgetaucht wie aus dem Nichts, Sekretär Rovira und der oberste Gerichtsdiener. Nach einem abschätzigen Blick auf die nunmehr knapp vierzig eifrig rätselnden Untertanen Seiner Majestät stiegen sie die drei Stufen zum Eingang des Quatre Nacions hinauf. He, Mariona, wer sind denn diese vier? Die sind wohl von der Stadtwache. Aber nein! Das ist doch der vom Gericht, so ein ganz Großkopferter. Ach, Richter sind das? Was weiß ich! Für mich sieht einer von denen aus wie der andere. Also, ich glaube, die sind von der Polizei. Habt ihr die gesehen, die da eben reingegangen sind? Gerade haben wir über sie geredet.

Schnaufend erklomm Sa Senyoria die Treppe, den Kopf mit der Perücke wie zum Angriff gesenkt. Der flinkere, weil jüngere Staatsanwalt sah sich gezwungen, auf dem ersten Treppenabsatz anzuhalten. Hin- und hergerissen zwischen morbider Neugier und Höflichkeit dem Gerichtspräsidenten gegenüber, den er haßte, der aber schließlich sein Vorgesetzter war, wartete er ungeduldig, daß Don Rafel wieder zu Atem kam.

»Nun?« fragte er einen Soldaten, der auf dem Absatz Wache hielt. Der junge Bursche stand stramm: »Ich weiß von nichts, Senyor, ich habe sie nicht gesehen. Es heißt, man hat ihr den Kopf abgeschnitten.« »Das heißt enthauptet.« »Man hat ihr den Kopf enthauptet, Senyor.«


nach oben



[2]

Der - für den Leser offensichtlich völlig unschuldige - Andreu Perramon wird des Mordes angeklagt und zum Tod verurteilt. Bestimmte Personen haben ein starkes Interesse daran. (S. 184 ff.)

Gerichtsverhandlungen sind öffentlich - was allerdings nicht heißt, daß jedermann zugelassen wäre. Teresa mußte auf der Plaça Sant Jaume warten, an die Wand der Kirche gelehnt. So harrte sie den ganzen Morgen in Kälte und Ungeduld aus, ohne sich zu regen oder den Eingang des Gerichtsgebäudes auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, aus Furcht, Andreu zu verpassen, wenn er herausgebracht wurde. Sie wollte, daß er sie sah, wollte, daß er bemerkte, wie sie ihm winkte und eine Kußhand zuwarf, wollte ihn spüren lassen, daß sie ihn von ganzem Herzen liebte und daß er sich nicht einsam zu fühlen brauchte, Andreu, dein Vater tut, was er kann, ich weiß ja, daß du sie nicht getötet hast; und sie wollte nicht, daß er im Gefängnis fror und Angst haben mußte, ach Andreu, wenn du wüßtest, wie sehr ich dich liebe.

Auf der Plaça Sant Jaume waren nur wenige Menschen unterwegs. Vielleicht nahm Teresa auch einfach niemanden wahr, weil sie unentwegt auf den Eingang starrte, und hörte nichts, weil das Schluchzen ihrer Seele jeden anderen Laut erstickte. Aber sie hätte sowieso nicht hören können, wie der vorsitzende Richter, nachdem Andreu nochmals seine Unschuld beteuert hatte, die Verkündung des Urteils mit den mahnenden Worten an das verirrte Schaf beendete, alles Klagen über die Folgen unseres Tuns sei vergebens, wir müßten diese bedenken, bevor wir unsere Missetaten begehen; andernfalls wäre unsere Gesellschaft skrupellosen Subjekten hilflos ausgeliefert, die ihr Eigenwohl über das Gemeinwohl stellen, wäre wehrlos gegenüber Verbrechen aller Art, der Mißachtung, der Gewalt und des Verrats an den hehren Prinzipien, die auf der Autorität und Güte Seiner Majestät Carlos IV. beruhen. In vierundzwanzig Tagen wird das Urteil vollstreckt. Gott sei Deiner armen Seele gnädig. All dies konnte Teresa nicht hören, wegen des Schluchzens ihrer Seele und weil sie draußen auf dem Platz stand und die Verhandlung im zweiten Stock auf der anderen Seite des Gebäudes stattfand. Nicht einmal Andreu bekam sie zu Gesicht; sie hatte tatsächlich geglaubt, ein zum Tode Verurteilter dürfe durch das Hauptportal gehen, wo doch jedermann wissen sollte, daß das Galgenfutter durch die Gasse von Sant Sever und den Carrer de la Pietat zum Gefängnis geführt wurde. Teresa sah Magistraten, hohe Beamte und die verschiedensten Angestellten in Kutschen davonfahren oder zu Fuß enteilen, achtete aber nicht weiter auf sie. Sie hielt einzig Ausschau nach Andreu und seinem traurigen Gesicht. Als Meister Perramon zu ihr kam und sie schon an seinem Blick erkannte, daß vom Marquis nichts zu erhoffen war, sagte sie daher zu ihm, sie hätten Andreu noch nicht gebracht und sie verstehe nicht, wieso das so lange dauere. So warteten sie noch zwei weitere Stunden, bis sie einsahen, daß die Wege einer so vornehmen und eindrucksvollen Einrichtung wie des Königlichen Gerichts unerforschlich waren und daß Andreu irgend etwas zugestoßen sein mußte.

Er hatte das Mittagessen nicht angerührt. Wozu auch, da er schon so gut wie tot war. Außerdem war sein Magen angefüllt mit kompakter, bitterer, würgender Angst. Die Luke in der Tür ging auf, und trotz der Dunkelheit erkannte er dahinter ein öliges Lächeln, schenkte ihm aber keine Beachtung; wozu auch, wo er doch bereits tot war. Gleichgültig hörte er, wie der Gefängniswärter die bei den Türen aufschloß, um das ölige Lächeln einzulassen. Hochwürden Joan Terricabres, der Gefängnispfarrer, der seit zehn Jahren an der Plaça del Blat seinen Dienst tat - ein begehrtes Amt, da es auf Lebenszeit vergeben wurde - und während dieser Zeit siebenundfünfzig Todeskandidaten betreut hatte (von denen nur sechs seinen geistlichen Beistand verweigert hatten, eine glänzende Bilanz), betrat die Zelle. In einer Hand trug er eine gewaltige Kerze, in der anderen ein schwarzes, zerfleddertes Büchlein, im Gesicht sein Lächeln. Kaum hatte Andreu erkannt, wer da soeben hereingekommen war, warf er sich dem Geistlichen zu Füßen, Hochwürden, ich bin unschuldig, das Ganze ist ein Irrtum, und der Pfarrer dachte, noch so einer, der glaubt, er könne mich über den Löffel barbieren, alle - oder fast alle - sagt ihr das gleiche. Andreu fuhr fort, Hochwürden, es ist wahr, ich habe einen Teil der Nacht mit dieser Frau verbracht (ach Gott, die ewiggleiche Sünde, wie ist das Fleisch so schwach, und warum nur, O Herr, können die Menschen nicht sein wie die Engel, dann hätte das Böse auf Erden ein Ende, immer wieder ist es das sechste Gebot), aber als ich ging, da war sie noch quicklebendig, Hochwürden, und was danach passiert ist, davon weiß ich nichts! Hochwürden Joan Terricabres überwand seinen Widerwillen und tätschelte dem armen Sünder beruhigend die Schulter, bereue deine Missetaten, mein Sohn, und Gott wird dir gnädig sein; und Andreu erwiderte, aber Hochwürden, wenn ich doch diese Sünde gar nicht begangen habe!, und er, was den Herrn am meisten schmerzt, mein Sohn, ist fehlende Reue. Du hast gesündigt, hast ein Leben genommen, ohne das Recht dazu zu haben. Glaubst du etwa, du wärst der König? Oder bist du vielleicht Richter? Nein, mein Sohn, der Mensch darf nicht töten: Gott will es nicht. Und Andreu, noch verzweifelter: Hochwürden, ich habe in meinem Leben viele Sünden auf mich geladen, sehr viele, aber ich habe niemanden getötet. Niemals, Hochwürden. Und Hochwürden Joan Terricabres dachte, O nein, nicht schon wieder die alte Leier, und tätschelte ihm noch mal die Schulter, mein Sohn, es hilft doch nichts, wenn du deine Schuld nicht eingestehst. Oder glaubst du, die Justiz weiß nicht, was sie tut? Andreu hörte auf zu greinen, und ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Dann zog er die Nase hoch.

»Raus mit Euch.«

»Was sagst du, mein Sohn?«

»Verschwindet.«

Andreu stand auf. Zu der würgenden Angst in seinem Magen gesellte sich blinde, unbändige Wut.

»Du verweigerst den Trost des Herrn?«

»Schert Euch zum Teufel.«

Der siebte. Das war nun der siebte, der sich ihm widersetzte. Aber Hochwürden Terricabres, ein Mann von eherner Entschlossenheit, sagte sich grimmig, daß dieser Verurteilte schließlich noch nicht tot war und in den Tagen bis zur Hinrichtung einiges geschehen konnte, und wenn nicht, dann soll er sich vorsehen. Sein öliges Lächeln ließ er in der Zelle zurück.


nach oben



[3]

Die Barceloneser Oberschicht gibt sich ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: auf festlichen Gelagen das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel zu spielen. (S. 236 ff.)

»Manche behaupten sogar«, rief Kommandant Cisneros mit fettriefenden Lippen, ein Fleischbröckchen am Kinn und die Gabel mit der Putenkeule schwenkend, »daß diese Tiere eine Seele haben.« Er prustete los, brach dann jäh ab und schlug die Zähne in die Keule. Mühsam ein Rülpsen unterdrückend, wies er mit der Keule auf Don Rafel. »Ich frage mich«, philosophierte er, »wie wohl die Seele dieses Tieres schmeckt.«

Sa Senyoria lachte. Kommandant Cisneros widerte ihn an; er hielt ihn für einen Zuchtbullen jener nutzlosen Rasse von Militärs, die in kriegerischen Auseinandersetzungen aufgrund des Gewichts ihrer Orden wie des Umfangs ihrer Bäuche zu nichts zu gebrauchen waren. In der Tafelrunde waren sie reichlich vertreten. Aber schließlich handelte es sich um Kommandant Cisneros, den engsten Vertrauten des Militärgouverneurs, und mit solchen Leuten verscherzte man es sich lieber nicht. Und vier Plätze weiter links saß auch Seine Exzellenz Don Pere Caro de Sureda-Valero i Maça de Liçana, blickte zufrieden auf den Grund seines Glases und lauschte dem gackernden Gelächter der beiden Damen zu seiner Rechten und Linken, von denen eine unter dem Tisch mit ihm füßelte. Also lachte Sa Senyoria, nachdem er sich ein wenig zurückgelehnt hatte, damit ein Diener sein Glas nachfüllen konnte, noch einmal und sagte, und wie mag erst die Seele eines Kopfsalats oder eines Kohlkopfs aussehen, Kommandant Cisneros, und dieser lachte blöde ho, ho, ho und spuckte dabei, so daß Don Rafel sein Weinglas in Sicherheit brachte. Erneut packte ihn eine unbestimmte Angst, und um sich abzulenken, wandte er sich seiner Putenkeule zu. Ihm war wieder eingefallen, was er bislang verdrängt hatte. Mit energischem Kopfschütteln schob er die üblen Gedanken beiseite. Dafür reckte er nun ein weiteres Mal den Hals, um einen Blick auf die Baronin von Xerta zu erhaschen, seine unerreichbare Gaietana, die drei Plätze rechts von ihm saß. Sein armes Täubchen hatte Oberst Cobos zum Tischnachbarn, zu dessen Ehren das Bankett stattfand, da er nach einer Blitzkarriere zum Militärkorps bei Hofe geschickt wurde (mit dem Rang und den Bezügen eines Generals). Er erläuterte Gaietana anhand des abgenagten Gerippes eines halben Kaninchens gerade voller Begeisterung die Strategie, mit der während des Großen Krieges die Stadt Cervera verteidigt worden war - oder hatte er Figueres gesagt? Don Rafel ahnte nicht, daß der gute Wein aus Sant Sadurní Donya Gaietana bereits in wohligen Halbschlaf hatte sinken lassen, so daß sie kaum noch mitbekam, was der rotwangige Oberst ihr mit rauher Stimme zu erklären versuchte. Dieser wies besorgt zum wiederholten Male auf die vierte Kaninchenrippe, um zu verdeutlichen, daß die Bastion von Santa Maria bei weitem die schwächste war. Der Baronin von Xerta konnten die Schwächen der Bastionen von Cervera gestohlen bleiben (oder war es Figueres gewesen?). Sie hatte vielmehr ein waches Auge auf ihren Gatten, der dümmlich lächelnd ein unbekanntes Offiziersliebchen anglotzte, eine jener billig aufgetakelten zweitklassigen Tänzerinnen, die sich ihr Geld auf einer Bühne verdienten, während ihnen der Totengräber schon die Grube aushob. Der Baron jedoch war hin und weg von ihr. Als sie sicher sein konnte, daß ihr Mann völlig abgelenkt war, nahm die junge Baronin von Xerta ... ah nein: Es war Solsona gewesen. Nicht Cervera und auch nicht Figueres, sondern Solsona, und der Generalstab hatte sich an der Vorderpfote des Kaninchens gesammelt ... nahm die junge Baronin von Xerta also mit Vergnügen einen stattlichen Leutnant mit grünen Augen und blondem Schnauzer in Augenschein. Sie hob ihr Weinglas an den Mund, wie um sich dahinter zu verbergen, und verschlang den Leutnant mit ihren Blicken, während der französische Abschaum davonstob, vom massiven Gegenangriff der Verteidiger der Kaninchenkeule verschreckt. Im Geiste zog sie den Leutnant mit dem blonden Schnauzer und den grünen Augen aus und kam zu dem Schluß, daß er zweifellos ein prächtiges, aufmüpfiges, nimmermüdes Teil sein eigen nannte. Nachdem Donya Gaietana sich mit einem raschen Blick vergewissert hatte, daß ihr Mann noch immer die Hupfdohle anhimmelte, ließ sie das Glas sinken und nahm sich ein Stück Bratwurst, während die Franzosen ihr Heil in der Flucht suchten und die Verteidiger von - na so was, nun war es auf einmal Manresa - stolz die Standarte reckten und Seiner Majestät, dem gehörnten Carlos, ewige Treue schworen. Mit einer anzüglichen Geste schob sich die Baronin die Bratwurst in den Mund, biß aber noch nicht ab, sondern musterte den Leutnant mit dem blonden Schnauzer, dem prächtigen Teil und den grünen Augen provozierend. Endlich - das war weiß Gott ein schweres Stück Arbeit gewesen - nahm der Leutnant die Bemühungen der Baronin wahr und war gleich Feuer und Flamme. Sieh an, das kleine Luder, dachte er, macht mir schöne Augen, während dieser Trottel von Oberst ihr die Ohren vollquasselt. Der Leutnant lächelte verhalten und angelte unter dem Tisch mit seinem Fuß nach dem ihren, doch der Tisch war zu breit. Donya Gaietana, die seine Absicht erahnte, biß in die Wurst und lächelte zurück. Der Oberst, der gerade eben von dem Gerippe auf- und sie ansah, glaubte, sie lächle über einen Scherz, den er über die Franzosen gemacht hatte, und beglückwünschte sich im stillen für seinen feinen Humor, der bei den hübschen Damen so gut ankam. Donya Gaietana hob das Glas und wünschte sich den jungen Leutnant in ihr Bett. Sie trank genüßlich einen Schluck, und als sie das Glas senkte, kreuzte sich ihr Blick mit den traurigen Krötenaugen des schmierigen Don Rafel, und sie lachte in sich hinein. Im Grunde genommen war sie stolz darauf, daß dieser Mann ihr wie ein Hündchen folgte. Es bewies, welche Macht sie besaß, und das, obwohl Don Rafel, wie ihr Gatte einmal mißmutig hatte verlauten lassen, ein einflußreicher Mann war - und das als Niemand ohne Titel, einzig aufgrund seines Postens als Gerichtspräsident. Sie wußte, daß Don Rafel ihr von ferne nachspionierte. Zuerst hatte sie eher zufällig bemerkt, daß er vom Fenster seines Hauses zu ihr herüberspähte; dann hatte sie mitbekommen, wie er sich ungeschickt hinter den Vorhängen verbarg, um sie zu beobachten. Und seit neuestem benutzte er zu ihrer größten Erheiterung das Teleskop. Hätte Don Rafel gewußt, daß sie um seine Beobachtungen durch das Fernrohr wußte, er wäre wohl vor Scham im Erdboden versunken. Donya Gaietana hingegen war sich nicht sicher, ob er nicht doch wußte, daß sie wußte, daß er sie durchs Teleskop beobachtete, und diese Ungewißheit gab der ganzen Sache erst den rechten Kitzel. Sie hatte nämlich beschlossen, das Spiel mitzuspielen und sich seinen Blicken aus der Ferne darzubieten, schob die Vorhänge zurück, wenn sie sich zur Mittagsruhe legte, ließ sich in gespielter Erschöpfung mit hochgeschobenen Röcken aufs Bett sinken, zeigte mal ihre schlanke, schneeweiße Fessel, mal ihre Unterwäsche, was Sa Senyoria sicherlich schier um den Verstand brachte. Das ist die Macht der Frauen, dachte sie, während sie den Gerichtspräsidenten ansah und sich mit der Zunge über die feuchten Lippen fuhr. Don Rafel, der zu ihr hinübersah, verschluckte sich am Wein und mußte sich die Serviette vor den Mund halten, um nicht laut loszuhusten. Natürlich ahnte Donya Gaietana nicht, welches Kopfzerbrechen Sa Senyoria das schwerwiegende Problem der Bildumkehr bereitet hatte, bis er es mit Doktor Dalmases′ Hilfe glücklich lösen konnte. Als der Hustenanfall vorüber war, sah Don Rafel die Baronin wieder an, tat es ihr in einer unwillkürlichen Geste seelischer Verbundenheit nach, hob sein Glas und trank. Dabei stellte er sich vor, es sei ein leidenschaftlicher Kuß und der Wein der Hauch der Liebe, der sie verband. Was für ein Glück, daß Donya Marianna die Gesellschaft der Klageweiber von der Bruderschaft vorgezogen hatte! Don Rafel antwortete, ja, natürlich, auf eine Frage seines linken Tischnachbarn, eines Militärtechnikers mit Dackelblick, ohne zu wissen, was dieser gefragt hatte. Der Militärtechniker wunderte sich über diese vollkommen sinnlose Antwort, zuckte die Achseln und versank wieder in Schweigen.

Nach dem Dessert, als die Augen der Gäste vom Wein und mühsam gezügeltem Begehren glänzten, ging man in die Salons, um sich, je nach Belieben, an Likör, Kaffee und Zigarren gütlich zu tun. Und nun begann, wie auf ein vereinbartes Zeichen, die Jagd: Die Blicke suchten sich, die Körper fanden einander, mit kaum verhohlenem Eifer. Manche agierten plump wie der unsägliche Baron von Xerta, der dasaß und dümmlich lächelnd die Brüste der Tänzerin anglotzte. Andere verzweifelt, wie Don Rafel, der Donya Gaietana nirgendwo finden konnte. Und schließlich gab es Leute wie die Baronin, die in einem abgelegenen Gang, der zum Abort führte, heftig mit dem Leutnant mit dem blonden Schnauzer und den grünen Augen knutschte und sich dabei behutsam tastend davon überzeugte, daß er tatsächlich hervorragend ausgestattet war.

Auf seiner ziellosen Odyssee hatte Don Rafel schon sechs oder sieben Räume durchquert, wobei er diskret darüber hinwegsah, daß die Marquise von Sentmenat albern kichernd eine Hand auf den strammen Schenkel eines Fähnrichs legte und der berühmte Architekt Don Arcadi Oliva, ein frommer Mann), die Brüste der Comtesse von Creixells begrapschte, die befriedigt lachte. O ja, die Schonzeit war vorbei, aber dem hoffnungslosen Jäger Don Rafel war die Beute entschlüpft. Wo war nun sein Gebaren als stolzer Orion? Wo der Schwung des Eroberers? Vielleicht fehlte es ihm seit der Geschichte mit der armen Elvira einfach an Elan, und er war nicht mehr der alte. Schließlich beschloß er seufzend, den Abort aufzusuchen.

Müde schlurfende Schritte warnten das entflammte Liebespaar vor der drohenden Entdeckung. Kaum waren sie auseinandergefahren und der Leutnant in die Dunkelheit des Ganges zurückgewichen, da fand sich Donya Gaietana Aug in Auge mit Don Rafel, der sie anstarrte wie eine Erscheinung.

»Baronin«, stammelte er. Natürlich konnte er ihr nicht sagen, daß er sie verzweifelt gesucht hatte, noch daß er auf dem Weg zum Abort war und es ziemlich eilig hatte.

»Don Rafel ...«, stotterte auch die Baronin und verstummte. Das Wissen, daß der Leutnant sie aus der Dunkelheit heraus beobachtete, ließ ihre Kopfhaut kribbeln. Einen Moment lang überlegte sie, wie spaßig es sein könnte, ihn zu provozieren, indem sie sich mit dem Gerichtspräsidenten einließ, doch nein: Der Mann war ihr einfach zu widerlich.

»Baronin«, wiederholte der Gerichtspräsident verwirrt. Er trat auf sie zu, packte ihre Hand und küßte sie leidenschaftlich. »Seit Monaten denke ich nur an Euch ...«

Als die Baronin die feuchten Küsse auf ihrer Hand spürte, war es um ihre Beherrschung geschehen, und sie prustete los. Don Rafel stockten Herzschlag und Harndrang, und das Blut gefror ihm in den Adern, als er die ganze Wucht dieser grausamen Demütigung empfand. Für einen kurzen Moment haßte er die Baronin; dann haßte er sich selbst dafür, daß er sich ihr in diesem unpassenden Augenblick offenbart hatte. Er ließ Donya Gaietanas Hand fahren, als hätte er sich daran verbrannt, und floh ohne ein Wort den dunklen Korridor hinunter, das Lachen der Baronin noch im Ohr. Rasch zog sich der Leutnant in den Abort zurück, um dem Gerichtspräsidenten nicht zu begegnen, doch dieser, krebsrot im Gesicht, kam ihm hinterher. Er sah einen jungen Militär, der sich an einem Nachttopf zu schaffen machte, knöpfte sich, noch immer schäumend vor Wut über die Demütigung, die Hose auf, packte wutentbrannt sein Glied und suchte sich gleichfalls einen Nachttopf. Als er sich mit kräftigem Strahl erleichterte, bemerkte er, wie der Rücken des Leutnants heftig zuckte, bis endlich das lange zurüückgehaltene Lachen hervorbrach. Don Rafel dachte, daß das Leben manchmal wirklich absurd war. Worüber lachte der Kerl?

Das Fest war immer noch in vollem Gange. Dennoch ging Don Rafel zu Oberst Cobos, wünschte ihm viel Glück bei Hofe und näherte sich dann unterwärfig dem Militärgouverneur, fand diesen jedoch von kichernden Damen umringt, die alles, was er sagte, ungeheuer amüsant zu finden schienen. Also teilte er dem Feldadjutanten Seiner Exzellenz mit, er müsse leider gehen, die Pflicht rufe, und kehrte dem Gouverneurspalast mit seinem Geschrei und Gelächter, den verstohlen funkelnden Blicken, Donya Gaietana und der Scham über ihr grausames Lachen den Rücken. Wütend, traurig, verzweifelt und liebeskrank verkroch er sich in seine Kutsche.


nach oben




         
         
         
         
     
Ausdrucken