Leseproben aus: Elias Canetti, Die Blendung



S. 40 ff., 116 ff., 196 ff., 489 ff.



[1] Beginn des 3. Kapitels "Konfuzius, ein Ehestifter". Von der hier aufgeführten Rede der Haushälterin sagte Canetti, er habe sie wörtlich von einer seiner Wiener Vermieterinnen gehört (S. 40 ff.)

[2] Therese, wie Kien ebenfalls ernüchtert von der Ehe mit Kien, wendet sich einem Möbelverkäufer zu. Sie geht mit ihm in ein Restaurant. (S. 116 ff.)

[3] Inzwischen hat die Haushälterin Therese das Sagen in der ehelichen Wohnung. Kien flüchtet sich in den realen Irrsinn: er wird zu einer steinernen Statue. (S. 196 ff.)

[4] Kiens Bruder, der in Paris lebende Psychiater Georges Kien wird vorgestellt (S. 489 ff.)




[1]

Beginn des 3. Kapitels "Konfuzius, ein Ehestifter". Von der hier aufgeführten Rede der Haushälterin sagte Canetti, er habe sie wörtlich von einer seiner Wiener Vermieterinnen gehört (S. 40 ff.)


Konfuzius, ein Ehestifter

In gehobener Laune kehrte Kien nächsten Sonntag von seinem Spaziergang heim. An Sonntagen waren die Straßen um diese frühe Zeit leer. Ihren freien Tag traten die Menschen mit Schlaf an. Dann warfen sie sich in ihre besten Kleider. Vor dem Spiegel verbrachten sie die ersten wachen Stunden in Andacht. Während der übrigen erholten sie sich von ihren Fratzen an andern. Zwar war jeder sich selbst der Beste. Aber um es zu beweisen, ging man unter Mitmenschen. Wochentags schwitzte oder schwatzte man für sein Brot. Sonntags schwatzte man umsonst. Mit dem Ruhetag war ursprünglich ein Schweigetag gemeint. Was aus dieser wie aus allen Institutionen geworden war, ihr genaues Gegenteil, sah Kien mit Spott. Er hatte für einen Ruhetag keine Verwendung. Denn er schwieg und arbeitete immer.

Vor seiner Wohnungstür fand er die Haushälterin. Offenbar wartete sie schon lange auf ihn.

»Der junge Metzger vom zweiten Stock war da. Sie haben's ihm versprochen. Sie sind schon zu Hause, hat er gesagt. Das Stubenmädchen hat gesehen, wie jemand Großer über die Treppe geht. In einer halben Stunde kommt er wieder. Er will nicht stören, es ist nur wegen dem Buch.«

Kien hatte nicht hingehört. Als das Wort »Buch« fiel, wurde er aufmerksam und erfaßte nachträglich, worum es sich handelte. »Er lügt. Ich habe nichts versprochen. Ich habe gesagt, daß ich ihm Bilder aus Indien und China zeigen werde, wenn ich einmal Zeit habe. Ich habe nie Zeit. Schicken Sie ihn weg!«

»Die Leute werden gleich unverschämt. Ich bitt Sie, das ist eine saubere Rasse. Der Vater war ein gewöhnlicher Arbeiter. Das möcht ich wissen, wo der sein Geld her hat. Aber das kommt davon. Jetzt heißt es immer: Alles für die Kinder. Es gibt keine Strenge mehr. Frech sind die Kinder, es ist nicht zum glauben. In der Schule spielen sie immerwährend und gehen mit dem Lehrer spazieren. Ich bitt Sie, wie war das zu unserer Zeit! Wenn ein Kind nichts hat lernen wollen, haben's die Eltern aus der Schule genommen und in die Lehre gegeben. Zu einem strengen Meister, damit es was lernt. Heut ist nichts mehr los. Ja, wollen die Menschen vielleicht arbeiten? Es gibt keine Bescheidenheit mehr. Schauen Sie sich die jungen Leute nur an, wenn sie am Sonntag spazierengehen. Jedes Arbeitermädel muß eine neue Bluse haben. Ich bitt Sie, wozu brauchen sie denn das teure Zeug? Sie gehen ja eh alle baden und ziehen's wieder aus. Und mit den Burschen baden s' zusammen. Wo hat's das früher gegeben? Die sollen lieber was arbeiten, das wär viel gescheiter. Ich sag immer, wo nehmen die das Geld dazu her? Es wird ja alles von Tag zu Tag teurer. Die Kartoffeln kosten bereits das Doppelte. Ist es ein Wunder, wenn die Kinder frech werden? Die Eltern erlauben ihnen alles. Früher haben s' den Kindern ein paar Ohrfeigen heruntergehaut, rechts und links. Da hat ein Kind parieren müssen. Es ist nicht mehr schön auf der Welt. Solang sie klein sind, lernen sie nichts, und wenn sie groß sind, arbeiten sie nichts.« Kien, erst gereizt, weil sie ihn mit einer langen Rede aufhielt, spürte bald eine Art erstauntes Interesse für ihre Worte. Diese ungebildete Person legte so viel Wert aufs Lernen. Sie hatte einen guten Kern in sich. Vielleicht seit sie täglich mit seinen Büchern umging. Auf andre ihres Standes hatten die Bücher nicht abgefärbt. Sie war empfänglicher, vielleicht sehnte sie sich nach Bildung.

»Sie haben ganz recht«, sagte er, »es freut mich, daß Sie so vernünftig denken. Lernen ist alles.«

Sie hatten inzwischen die Wohnung betreten. »Warten Sie!« befahl er und verschwand in die Bibliothek. Mit einem kleinen Band in der Linken kehrte er zurück. Während er aufblätterte, stülpte er die schmalen, strengen Lippen nach außen um. »Hören Sie!« sagte er und winkte sie etwas weiter weg. Was da kam, erforderte Raum. Mit einem Pathos, der zur Schlichtheit des Textes in grellem Gegensatz stand, las er:

»Mein Lehrer gebot mir, alltäglich dreitausend Lettern und allabendlich weitere tausend zu schreiben. An den kurzen Wintertagen ging die Sonne früh unter, und ich hatte meine Aufgabe noch nicht vollbracht. Ich trug mein Täfelchen auf die Veranda, welche gegen Westen lag, und schrieb dort zu Ende. Spätabends, wenn ich das Geschriebene durchsah, konnte ich gegen meine Müdigkeit nicht mehr ankämpfen. Da stellte ich hinter mir zwei Wassereimer auf. War meine Schläfrigkeit zu groß, so zog ich mein Kleid aus und goß mir den ersten Eimer über. Ausgezogen setzte ich mich an die Arbeit zurück. Dank dem kalten Wasser blieb ich einige Zeit frisch. Allmählich wurde ich wieder warm, und mich schläferte aufs neue. Da verwandte ich den anderen Eimer. Mit Hilfe zweier Güsse konnte ich meine Pflicht fast immer erfüllen. In jenem Winter ging ich in mein neuntes Jahr.«

Angeregt und voller Bewunderung klappte er das Buch zu. »So hat man früher gelernt. Ein Stück aus den Jugenderinnerungen des japanischen Gelehrten Arai Hakuseki.« Therese war während der Vorlesung näher gerückt. Ihr Kopf gab den Takt zu seinen Sätzen an. Das lange linke Ohr streckte sich von selbst den Worten, wie er sie frei aus dem Japanischen übersetzte, entgegen. Unwillkürlich hielt er das Buch etwas schräg; sicher sah sie die fremden Zeichen und bewunderte die Flüssigkeit seines Vortrags. Er las, als hätte er ein deutsches Buch in der Hand. »Nein so was!« sagte sie, er war fertig, sie atmete tief. Ihr Staunen belustigte ihn. Sollte es zu spät sein, dachte er, wie alt mag sie sein? Lernen kann man immer. Mit einfachen Romanen müßte sie beginnen.

Da läutete es heftig. Therese öffnete. Der kleine Metzger steckte die Nase herein. »Ich darf!« rief er laut, »der Herr Professor hat es erlaubt!« »Bücher gibt's nicht!« schrie Therese und schlug die Tür zu. Draußen tobte der Junge. Er stieß Drohungen aus; er war so zornig, daß man kein Wort verstand. »Bitte, er will gleich die ganze Hand. Auf einmal sind Flecken drin. Der ißt auf der Stiege sein Butterbrot.«

Kien stand auf der Schwelle zur Bibliothek; der Junge hatte ihn nicht bemerkt. Freundlich nickte er der Haushälterin zu. Er sah es gern, wenn man die Interessen seiner Bücher wahrte. Sie verdiente einigen Dank: »Falls Sie einmal etwas lesen möchten, dürfen Sie sich ruhig an mich wenden.«

»Ich bin so frei, ich hätt schon lang drum bitten wollen.«

Die griff aber zu, wenn es um Bücher ging! Sonst war sie doch nicht so. Bisher hatte sie sich bescheiden aufgeführt. Er dachte nicht daran, eine Leihbibliothek einzurichten. Um Zeit zu gewinnen, erwiderte er: »Gut. Ich werde morgen etwas für Sie heraussuchen.« Dann setzte er sich an die Arbeit. Sein Versprechen beunruhigte ihn. Zwar staubt sie die Bücher täglich ab und hat noch keines beschädigt. Aber abstauben und lesen ist zweierlei. Sie hat dicke, rohe Finger. Zartes Papier will zarte Behandlung. Ein harter Einband hält mehr als empfindliche Blätter aus. Und ob sie überhaupt lesen kann? Sie ist weit über fünfzig, sie hat sich Zeit gelassen. Einen spätlernenden Greis nannte Plato seinen kynischen Gegner Antisthenes. Jetzt tauchen spätlernende Greisinnen auf. Sie will ihren Durst an der Quelle löschen. Oder schämt sie sich vor mir, weil sie gar nichts weiß? Wohltätigkeit, gut, aber nicht auf fremde Kosten. Warum sollen die Bücher die Zeche bezahlen? Ich zahle ihr ein hohes Gehalt. Das darf ich, es ist mein Geld. Ihr Bücher auszuliefern, wäre feig. Ungebildeten gegenüber sind sie wehrlos. Ich kann nicht dabeisitzen, während sie liest.



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[2]

Therese, wie Kien ebenfalls ernüchtert von der Ehe mit Kien, wendet sich einem Möbelverkäufer zu. Sie geht mit ihm in ein Restaurant. (S. 116 ff.)


Der Tod

Auf dem Heimweg machte Therese ihrer Empörung Luft. Sie ladet den Menschen ein, und zum Dank wird er frech. Hat sie vielleicht was von ihm wollen? Sie hat das nicht nötig, fremden Männern nachzurennen. Sie ist eine verheiratete Frau. Sie ist kein Dienstbot', der mit jedem Mann geht.

Im Gasthaus hat er erst die Speisekarte genommen und gefragt, was er uns bestellen soll. Sie war so dumm und hat darauf gesagt: »Aber zahlen tu ich.« Was der sich alles bestellt hat. Sie würde sich ja jetzt noch vor den Leuten schämen. Er hat geschworen, er ist ein besserer Mensch. Es ist ihm auch nicht an der Wiege gesungen worden, daß er ein armer Angestellter sein muß. Sie hat ihn getröstet. Da hat er gesagt, ja, dafür hat er bei den Frauen Glück, aber was hat er schon davon? Er braucht ein Kapital, es muß kein großes sein, weil jeder sein eigener Herr sein will. Die Frauen haben kein Kapital, bloß Ersparnisse, schäbige, mit solchen Bagatellen fängt man kein Geschäft an, ein anderer vielleicht, er nicht, weil er aufs Ganze geht, mit Dreck läßt er sich nicht abspeisen.

Bevor er mit dem zweiten Schnitzel anfängt, nimmt er ihre Hand und sagt: »Das ist die Hand, die mir zu meinem Glück verhelfen wird.«

Dabei kitzelt er sie. So schön kitzeln kann der Mensch. Das hat ihr noch niemand gesagt, daß sie ein Glück ist. Und ob sie sich beteiligen möchte an seinem Geschäft?

Woher er denn auf einmal das Geld dazu hat?

Da hat er gelacht und gesagt: Das Kapital gibt ihm seine Geliebte.

Sie spürt, wie sie einen roten Kopf kriegt vor Wut. Wozu hat er eine Geliebte, wenn sie da ist, sie ist auch noch ein Mensch!

Wie alt die Geliebte ist? hat sie gefragt

. Dreißig, hat er gesagt.

Ob sie schön ist? hat sie gefragt.

Die Schönste von allen, hat er gesagt.

Da hat sie ein Bild von der Geliebten sehen wollen.

»Gleich, bitte sehr, auch damit kann ich dienen.« Auf einmal steckt er ihr den Finger in den Mund, so einen schönen, dicken Finger hat er, und sagt: »Das ist sie!«

Wie sie drauf nichts antwortet, zupft er sie am Kinn, so ein zudringlicher Mensch, macht unterm Tisch was mit seinem Bein, drückt fest, tut man das, und schaut ihr in den Mund und sagt: Er ist in einem glücklichen Liebestaumel, und wann er die prachtvollen Hüften ausprobieren darf. Sie soll sich auf ihn verlassen. Er versteht was vom Geschäft. Bei ihm geht nichts verloren.

Da hat sie gesagt, sie liebt die Wahrheit über alles. Sie muß es ihm gleich gestehen. Sie ist eine Frau ohne Kapital. Ihr Mann hat sie aus Liebe geheiratet. Sie war eine einfache Angestellte wie er. Ihm kann sie's ja sagen. Mit dem Ausprobieren muß sie schaun, wie sie's einrichtet. Sie möcht ja auch gern. Die Frauen sind so. Sie ist sonst nicht so, aber sie macht ihre Ausnahmen. Der Herr Grob soll nicht glauben, daß sie auf ihn angewiesen ist. Auf der Straße schaun ihr alle Männer nach. Sie freut sich schon drauf. Punkt zwölf geht der Mann schlafen. Er schläft gleich ein, er ist so genau. Sie hat ein besonderes Zimmer, wo früher die Wirtschafterin geschlafen hat. Jetzt ist die nicht mehr im Haus. Sie kann den Mann nicht leiden, weil sie ihre Ruh' haben will. Der Mensch ist so zudringlich. Dabei ist er gar kein Mann. Drum schläft sie allein in dem Zimmer, wo früher die Wirtschafterin war. Um 12 ¼ geht sie mit dem Haustorschlüssel hinunter und macht ihm auf. Er braucht keine Angst zu haben. Der Hausbesorger schläft fest. Der ist so müd von seiner Arbeit am Tag. Sie schläft ganz allein. Das Schlafzimmer kauft sie nur, damit die Wohnung nach was aussieht. Sie hat immer Zeit. Sie wird es so einrichten, daß er jede Nacht kommt. Eine Frau will auch was vom Leben haben. Auf einmal ist man vierzig, und die schöne Zeit hat ein Ende. Gut, hat er gesagt, er schafft seinen Harem ab. Wenn er liebt, tut er alles für eine Frau. Sie soll sich revanchieren, wie es sich gehört, und den Mann um das Kapital bitten. Er nimmt es nur von ihr, von keiner andern Frau, weil das höchste Glück ihm heute nacht bevorsteht, die Liebesseligkeit.

Sie liebt die Wahrheit über alles, macht sie ihn aufmerksam, und muß es ihm gleich gestehn. Ihr Mann ist geizig und gönnt niemandem was. Der gibt nichts aus der Hand, nicht einmal ein Buch. Wenn sie ein Kapital hätt, sie tät es sofort in sein Geschäft. Ihm glaubt eine jede aufs bloße Wort, und zu so einem Menschen hat jede Vertrauen. Er soll doch kommen. Sie freut sich schon drauf. Zu ihrer Zeit gab es ein schönes Sprichwort, das hieß: »Kornmt Zeit, kommt Rat.« Jeder muß einmal sterben. Das ist bei den Menschen so. Er kommt jede Nacht um 12 ¼, und das Kapital ist auf einmal da. Sie hat den alten Mann nicht aus Liebe geheiratet. Man muß auch an seine Zukunft denken.

Da gibt er das eine Bein unterm Tisch weg und sagt: »Schon gut, liebe Frau, aber wie alt ist der Mann?«

Vierzig vorüber, das weiß sie genau.

Da gibt er das zweite Bein unterm Tisch auch weg, steht auf und sagt: »Erlauben Sie mal, das find ich empörend!«

Er soll doch weiteressen, bittet sie ihn. Sie kann nichts dafür, aber der Mann sieht wie ein Skelett aus und ist bestimmt nicht gesund. Jeden Morgen beim Aufstehn denkt sie: Heut ist er tot. Wenn sie hereinkommt und ihm das Frühstück bringt, lebt er noch. Ihre Mutter selig war auch so. Mit dreißig war sie schon krank, und mit vierundsiebzig ist sie gestorben. Und da ist sie erst noch verhungert. Dem zerlumpten Weib hätt's niemand geglaubt. Da legt der interessante Mensch Gabel und Messer zum zweitenmal hin und sagt: Er ißt nicht weiter, er fürchtet sich.

Erst hat er nicht sagen wollen, warum, dann tut er den Mund doch auf und meint: Wie leicht ist ein Mensch vergiftet! Da sitzen wir beide glücklich beisammen und kosten beim Diner die wonnige Nacht aus. Der Wirt oder ein Kellner schüttet aus Neid so ein verstecktes Pulver ins Essen, und wir sind beide im kühlen Grab. Da ist die Liebe ausgeträumt, bevor wir noch in der Seligkeit mittendrin waren. Er glaubt aber doch nicht, daß die das tun, weil es in einem öffentlichen Lokal herauskommt. Wenn er verheiratet wär, hätt er immer Angst. Einer Frau ist alles zuzutrauen. Er kennt die Frauen besser als seine Tasche, inwendig und auswendig, nicht nur die Hüften und Schenkel, obwohl die das Beste an einer Frau sind, wenn man sich drauf versteht. Die Frauen sind tüchtig. Erst warten sie, bis ihnen das Testament garantiert paßt, dann machen sie mit dem Mann, was sie wollen, und reichen über der frischen Leiche dem treuen Geliebten die Hand zum Ehebunde. Der revanchiert sich natürlich, und nichts kommt heraus.
Sie hat aber gleich eine Antwort gewußt. Das tut sie nicht. Sie ist eine anständige Frau. Manchmal kommt es doch heraus, und dann wird man eingesperrt. Einsperren gehört sich nicht für eine anständige Frau. Es wär vieles schöner, wenn man nicht gleich eingesperrt würde. Man darf sich nicht rühren. Kaum kommt was heraus, schon ist die Polizei da und sperrt einen ein. Die nehmen keine Rücksicht darauf, daß eine Frau das nicht aushält. Die müssen in alles ihre Nase hereinstecken. Was geht die das an, wie eine Frau mit ihrem Mann lebt? Die Frau muß sich alles gefallen lassen. Die Frau ist kein Mensch. Dabei ist der Mann zu nichts zu gebrauchen. Ist das ein Mann? Das ist ja kein Mann. Um so einen Mann ist es nicht schad'. Am besten wärs noch, der Geliebte nähm eine Hacke und gäb ihm damit eine über den Kopf, wenn er schläft. Aber er sperrt sich ja nachts immer ein, weil er Angst hat. Der Geliebte soll schaun, wie er es selber macht. Er sagt ja, es kommt nichts heraus. Sie tut das nicht. Sie ist eine anständige Frau.

Da unterbricht sie der Mensch. Sie soll nicht so laut schrein.

Das bedauerliche Mißverständnis tut ihm leid. Sie wird doch nicht behaupten wollen, daß er sie zu einem Giftmord angestiftet hat? Er ist eine herzensgute Seele und tut keiner Fliege was zuleid. Drum haben ihn die Frauen alle zum Fressen gern.

»Die wissen was gut ist!« hat sie gesagt.



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[3]

Inzwischen hat die Haushälterin Therese das Sagen in der ehelichen Wohnung. Kien flüchtet sich in den realen Irrsinn: er wird zu einer steinernen Statue. (S. 196 ff.)


Da erstarrte Kien. Er preßte die dürren Beine eng aneinander. Seine Rechte legte sich zur Faust geballt aufs Knie. Unterarm und Oberschenkel hielten einander in Ruhe. Mit dem linken Arm verstärkte er seine Brust. Leicht hob sich der Kopf. Seine Augen blickten ins Weite. Er versuchte sie zu schließen. An ihrer Weigerung erkannte er sich als ägyptischen Priester von Granit. Er war zur Statue erstarrt. Die Geschichte hatte ihn nicht verlassen. Im alten Ägypten fand er sicheren Unterschlupf. Solange die Geschichte zu ihm hielt, war er nicht umzubringen.

Therese behandelte ihn wie Luft, wie Stein, verbesserte er.

Langsam wich seine Furcht einem starken Gefühl der Ruhe. Vor Stein wird sie sich hüten. Wer wäre so dumm, sich an Stein die Hand zu verletzen? Er gedachte der Kanten seines Körpers. Stein ist gut, Steinkanten sind besser. Seine Augen, scheinbar ins Unendliche gerichtet, prüften die eigene Gestalt auf Einzelheiten. Er bedauerte, sich so wenig zu kennen. Das Bild, das er von seinem Körper hatte, war mager. Er wünschte sich einen Spiegel auf den Schreibtisch her. Unter der Haut seiner Kleider hätte er gern gesteckt. Wäre es nach seiner Wißbegier gegangen, er hätte sich splitternackt ausgezogen und eine exakte Musterung vorgenommen, Knochen um Knochen wäre besehen und aufgehetzt worden. Oh, er ahnte allerlei von geheimen Ecken, harten scharfen Spitzen und Kanten! Seine Beulen ersetzten ihm einen Spiegel. Dieses Weib empfand vor einem Gelehrten keine Scheu. Sie hatte es gewagt, ihn zu berühren, als wäre er ein gewöhnlicher Mensch. Man züchtigte sie, indem man sich selbst in einen Stein verwandelte. An dessen gewaltiger Härte wurden ihre Pläne zuschanden.
Täglich wiederholte sich nun das gleiche Spiel. Kiens Leben, unter den Fäusten seiner Frau zerfallen, durch ihre, durch seine eigene Habgier von den neuen und den alten Büchern losgelöst, bekam eine wahre Aufgabe. Des Morgens stand er drei Stunden vor ihr auf. Er hätte diese stillste Zeit zum Arbeiten verwenden können. Das tat er auch, aber was er früher unter Arbeit verstand, war weit weggerückt und auf eine bessere Zukunft verschoben. Er sammelte die Kräfte, deren er zur Ausübung seiner Kunst bedurfte. Ohne Muße keine Kunst. Unmittelbar nach dem Schlaf erzielt man selten vollendete Leistungen. Man muß sich auflockern; frei und unbefangen trete man an seine Schöpfung heran. So verbrachte Kien beinahe drei Stunden in Muße vor seinem Schreibtisch. Er ließ sich mancherlei durch den Kopf gehen, doch wachte er darüber, daß es ihn nicht allzusehr von seinem Gegenstand entferne. Dann, wenn der Uhrzeiger in seinem Hirn (dieser letzte Rest eines gelehrten Netzes über der Zeit) Lärm schlug, weil es gegen neun ging, begann er langsam zu erstarren. Er spürte, wie die Kälte sich durch seinen Körper verbreitete, und schätzte sie nach ihrer gleichmäßigen Verteilung ab. Es gab Tage, da die linke Leibeshälfte rascher erkaltete als die rechte; das versetzte ihn in ernstliche Unruhe. »Hinüber!« befahl er, und Ströme von Wärme, von der rechten entsandt, machten den Fehler auf der linken gut. Seine Fertigkeit im Erstarren steigerte sich von Tag zu Tag. Sobald er den steinernen Zustand erreicht hatte, prüfte er die Härte des Materials, indem er mit den Schenkeln einen leichten Druck gegen den Stuhlboden ausübte. Diese Härteprobe dauerte nur wenige Sekunden, ein längerer Druck hätte den Stuhl zermalmt. Als er später für dessen Schicksal fürchtete, verwandelte er auch ihn zu Stein. Ein Sturz tagsüber, in Gegenwart der Frau, hätte die Starrheit zu Lächerlichkeit erniedrigt und bitter geschmerzt. Granit ist schwer. Auch wurde die Probe durch eine verläßliche Empfindung für den Härtegrad nach und nach überflüssig.

Von neun Uhr vormittags bis sieben Uhr abends verharrte Kien in seiner unvergleichlichen Stellung. Auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch, immer dasselbe. Er würdigte es keines Blickes. Seine Augen waren ausschließlich in der Ferne beschäftigt. Die Frau brachte so viel Klugheit auf, ihn während seiner Darbietung nie zu stören. Sie bewegte sich eifrig im Zimmer. Er begriff, wie sehr das Wirtschaften ihr zur zweiten Natur geworden war und unterdrückte ein unpassendes Lächeln. Um die monumentale Figur aus dem alten Ägypten machte sie einen weiten Bogen. Sie bot ihr weder Essen noch Beschimpfungen an. Kien verbat sich Hunger und andere leibliche Beschwerden. Um sieben jagte er Wärme und Odem durch den Stein, der sich rasch belebte. Er wartete, bis Therese in der entferntesten Ecke des Zimmers war. Für ihren Abstand hatte er ein untrügliches Gefühl. Dann sprang er auf und verließ schnell das Haus. Während .er im Gasthaus sein einziges Mahl zu sich nahm, schlief er vor Ermüdung beinahe ein. Er verbreitete sich über die Schwierigkeiten des verflossenen Tages und nickte, wenn ihm ein guter Einfall für morgen kam, zustimmend mit dem Kopf. Jeden, der es sich zutraue, ihm die Statue nachzumachen, forderte er zum Wettbewerb heraus. Niemand meldete sich. Um neun lag er zu Bett und schlief.

Auch Therese fand sich allmählich in die beschränkten Verhältnisse. Sie schaltete frei in ihrem neuen Zimmer, ohne daß sie jemand störte. Des Morgens fuhr sie, bevor sie sich Strümpfe und Schuhe anzog, zärtlich über den Teppich hin und her. Es war der schönste in der ganzen Wohnung, die Blutflecken sah man nicht mehr. Ihrer alten Hornhaut tat es wohl, vom Teppich gestreichelt zu werden. Solang sie mit ihm in Berührung war, glitten ihr lauter schöne Bilder durch den Kopf. Gestört wurde sie wieder vom Mann, der ihr nichts vergönnte.

Kien hatte es in seinem leisen Wesen zu solcher Virtuosität gebracht, daß selbst der Stuhl, auf dem er saß, ein altes, eigensinniges Stück, nur selten knarrte. Die drei- oder viermal täglich, da der Sessel sich in der Stille um so bemerkbarer machte, waren ihm sehr peinlich. Er hielt sie für die ersten Anzeichen von Ermüdung und überhörte sie darum geflissentlich.

Therese witterte auf ein Knarren hin sofort Gefahr, unterbrach ihr Glück, glitt eilig zu ihren Schuhen und Strümpfen, zog sie an und setzte die Gedankenreihe des Vortages fort. Die großen Sorgen fielen ihr ein, von denen sie immerwährend geplagt war. Sie behielt den Mann nur aus Mitleid zu Hause. Sein Bett nahm ja wenig Platz ein. Sie brauchte die Schlüssel zum Schreibtisch. Da lag nämlich sein kleines Bankbuch drin. Solang sie das Bankbuch mit dem Rest nicht hatte, gönnte sie ihm noch einige Tage das Dach über dem Kopf. Vielleicht erinnerte er sich einmal daran und schämte sich, weil er immer so gemein zu ihr war. Regte sich etwas in seiner Umgebung, so zweifelte sie an der Erwerbung des Bankbuchs, die ihr sonst sicher schien. Von einem Stück Holz, was er die meiste Zeit über war, fürchtete sie keinen Widerstand. Dem lebenden Mann traute sie das Schlimmste zu, selbst Diebstahl an ihrem Bankbuch.

Gegen Abend stieg die Spannung bei beiden auf ein hohes Maß. Er nahm den spärlichen Rest seiner Kräfte zusammen, um nicht zu früh zu erwarmen. Sie wurde wütend bei der Vorstellung, daß er gleich wieder ins Gasthaus ging, wo er fraß und soff, von ihrem sauer verdienten Geld, obgleich sowieso fast nichts mehr da war. Wie lange lebte der Mensch schon drauflos und brachte kein Geld nach Hause?

Ein Mensch hat ein Herz. Ist sie ein Stein? Man muß das arme Vermögen retten. Die Verbrecher sind hinterher wie die Wilden, ein jeder will gleich was haben. Die schämen sich nicht. Sie ist ein Weib allein. Der Mann, statt ihr zu helfen, säuft. Er ist schon zu gar nichts mehr nütz'. Früher hat er Papiere vollgeschrieben, die sind ihr Geld wert. Jetzt ist er auch dazu zu faul. Ja, führt sie denn hier ein Armenhaus? Er soll in die Versorgung gehen. Unnütze Esser kann sie nicht brauchen. Er bringt sie noch an den Bettelstab. Den soll er lieber selber behalten. Sie bedankt sich für so ein Vergnügen. Dem gibt auf der Straße niemand was. Arm sieht er aus, aber kann er vielleicht schön bitten? Der denkt ja nicht dran. Bitte, da muß er verhungern. Man wird schon sehen, wie es ihm geht, wenn ihre Güte ein Ende hat. Ihre Mutter selig ist auch verhungert, und jetzt verhungert ihr der Mann!



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[4]

Kiens Bruder, der in Paris lebende Psychiater Georges Kien wird vorgestellt (S. 489 ff.)


Ein Irrenhaus

An einem aufregend warmen Abend des Spätmärz schritt der berühmte Psychiater Georges Kien durch die Säle seiner Pariser Anstalt. Die Fenster waren weit offen. Zwischen den Kranken spielte sich ein zäher Kampf um den beschränkten Platz an den Gittern ab. Ein Kopf stieß gegen den anderen. Mit Beschimpfungen wurde nicht gespart. Fast alle litten an der unheimlichen Luft, die sie tagsüber im Garten, manche buchstäblich, geschlürft und geschluckt hatten. Als die Wärter sie in ihre Schlafsäle zurückholten, waren sie unzufrieden. Sie wollten noch mehr Luft, keiner gab seine Müdigkeit zu. Bis zur Schlafenszeit holten sie sich an den Gittern, was vom Abend zu spüren war. Hier glaubten sie der Luft, die ihre hellen, hohen Räume erfüllte, noch näher zu sein.

Nicht einmal der Professor, den sie liebten, weil er schön und gütig war, störte sie bei ihrer Beschäftigung auf. Hieß es sonst, er kommt, so scharten sich die meisten Insassen eines Saales zusammen und liefen ihm entgegen. Für gewöhnlich riß man sich um seine Berührung, sei es mit der Hand oder mit Worten, wie heute um die Fensterplätze. Der Haß, den so viele gegen die Anstalt in sich trugen, wo man sie unrechtmäßig festhalte. entlud sich nie über den jungen Professor. Erst seit zwei Jahren war er auch dem Namen nach Direktor der weitläufigen Anstalt, die er früher nur in Wirklichkeit geleitet hatte, der gute Engel eines teuflischen Vorgesetzten. Wer sich vergewaltigt glaubte oder es wirklich war, schob die Schuld auf den allmächtigen, wenn auch inzwischen verstorbenen Vorgänger.

Dieser hatte die offizielle Psychiatrie mit der Hartnäckigkeit eines Irren vertreten. Er hielt es für seine eigentliche Lebensaufgabe, das riesige Material, über welches er verfügte, als Stütze für gangbare Bezeichnungen zu verwenden. In seinem Sinne typische Fälle ließen ihn nicht schlafen. Er hing an der Fertigkeit des Systems und haßte Zweifler. Menschen, besonders Geisteskranke und Verbrecher, waren ihm gleichgültig. Eine gewisse Lebensberechtigung gestand er ihnen zu. Sie lieferten Erfahrungen, aus denen Autoritäten die Wissenschaft erbauten. Er selbst war eine Autorität. Über die Aufbauer pflegte er, ein mürrischer und wortkarger Mensch, eindringliche Reden zu halten, die Georges Kien, sein Assistent, notgedrungen und vor Scham über so viel Beschränktheit kochend, von Anfang zu Ende und von Ende zu Anfang, stundenlang, stehend, anhörte. Wo eine härtere Meinung gegen eine weichere stand, entschied sich der Vorgänger für die härtere. Den Kranken, die ihn bei jedem Rundgang mit derselben alten Geschichte belästigten, sagte er: »Ich weiß alles.« Seiner Frau gegenüber beklagte er sich bitter über den beruflichen Umgang mit solchen Unzurechnungsfähigen. Ihr offenbarte er auch seine geheimsten Gedanken über das Wesen der Geisteskrankheiten, Gedanken, die er der Öffentlichkeit nur vorenthalte, weil sie für das System zu grob und einfach, also gefährlich seien. Verrückt, sagte er mit großem Nachdruck und blickte seine Frau durchdringend und durchschauend an, sie errötete, verrückt werden eben die Menschen, die immer nur an sich denken. Irrsinn ist eine Strafe für Egoismus. Drum kommt in den Anstalten das größte Gesindel des Landes zusammen. Gefängnisse tun denselben Dienst, aber die Wissenschaft braucht Irrenhäuser als Anschauungsmaterial. Anderes hatte er seiner Frau nicht zu sagen. Sie war um dreißig Jahre jünger als er und verschönte seinen Lebensabend. Die erste Frau war ihm durchgebrannt, bevor er sie, wie später die zweite, in die eigene Anstalt steckte, als unheilbar egoistisch. Die dritte, gegen die er außer seiner Eifersucht nichts im Schilde führte, liebte Georges Kien.

Ihr verdankte er seine rasche Karriere. Er war groß, stark, feurig und sicher; in seinen Zügen lag etwas von jener Weichheit, die Frauen benötigen, um sich bei einem Manne heimisch zu fühlen. Wer ihn sah, nannte ihn den Adam des Michelangelo. Er verstand es sehr gut, Intelligenz mit Eleganz zu verbinden. Seine glänzende Begabung wurde durch die Politik seiner Geliebten zu genialer Wirksamkeit gesteigert. Als sie sicher war, daß niemand anderer Nachfolger ihres Mannes in der Anstaltsleitung werden könne als eben Georges, ging sie für ihn durch einen Giftmord, über den sie sogar schwieg. Seit Jahren hatte sie ihn bedacht und vorbereitet; er gelang. Der Mann starb unauffällig. Georges wurde sofort zum Direktor ernannt und heiratete sie aus Dankbarkeit für ihre früheren Dienste; vom letzten hatte er keine Ahnung.



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