Leseprobe aus: Blaise Cendrars, Die rote Lilie



S. 386 ff.








Mama, Mama!

Die gemeinste Stimme, die ich je in meinem Leben gehört habe, war wohl die feierliche und durch das Radio sanfte Stimme Ferdonnets, des Verräters von Stuttgart, der während des Drôle de guerre ganz Frankreich lauschte, vermutlich aus Widerspruchsgeist und ohne zu ahnen, dass die einschmeichelnde Stimme dieses falschen Fuffzigers den Armeen, Tropf um Tropf, ein lähmendes Gift einträufelte, wie man dann im Juni 1940 gesehen hat, als es nichts mehr zu lachen gab und der Widerspruchsgeist nicht mehr half und ganz Frankreich betäubt in sprachloser Bestürzung versank.

Ich hatte die erschreckenden Auswirkungen der auf die menschliche Stimme angewandten Maschine eines nebligen Tages Ende Dezember ermessen können, 1939, als wir, Amerikaner, Engländer, Australier und ich, alles Kriegskorrespondenten, die unvollendeten Kasematten und die unbewaffneten Blockhäuser in der Umgebung der Rheinbrücke bei Kehl besichtigten und am anderen Rheinufer eine dröhnende, von einem Lautsprecher übermittelte Stimme voller germanischer Laute, die auf dem Wasser des Flusses widerhallten, und harter Konsonanten, die vom Nebel nicht gemildert wurden, uns namentlich aufrief und auf englisch und französisch alles aufzuzählen begann, was in unseren Festungen fehlte, die Kanonen, die optischen Geräte, die Ermittlungsgeräte, und uns während unseres Besuches überallhin begleitete wie ein Gerichtsvollzieher, der vor dem Konkurs ein amtliches Protokoll aufnimmt und ein Inventar aufstellt.

Ein Freund, der 1937 in Madrid beide Beine verloren hatte und eine Nacht lang in den tragischen Stacheldrahtverhauen des Campus hing, bevor man ihm Hilfe bringen konnte, hatte mir schon von der Nacht des Grauens erzählt, die er durchlitten hatte, nicht wegen der tackenden Maschinengewehre, der Granaten, die zwischen seinen Beinen explodierten, sondern wegen einer sprechenden Maschine, die, sagte er, die ganze Nacht über nicht aufgehört hatte, Propagandaslogans zu spucken, und dazwischen Paso döble, Schlagermelodien, Blasmusik und Josephine Bakers Stimme, die auf französisch ihren berühmten Refrain sang:

J'ai deux amours
Mon pays et Paris ...


Eine halluzinierende Melodie, die die Folter meines unglücklichen Freundes hunderttausendfach verstärkte, dessen Blut strömte und dessen Hirn tanzte und sich drehte und wand, um zu verstehen, was die Maschine sagte, um dann nicht im Fieber wegzudämmern, sondern von einem kreisenden Scheinwerfer geblendet und von der Musik davongetragen. Die Zähne, der Fächer, die Federn, die Beine, die Augen Josephines und der tosende Applaus. Als er wieder zu sich kam, glaubte er sich im Varietetheater. Man hatte ihn amputiert. Er war in der Klinik. Die Stille war unerträglich. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er ein Krüppel ohne Beine war. Da begann er zu schreien, versetzte das ganze Krankenhaus, el lazareto de sangre, in helle Aufregung.

Der schauderhafteste Schrei überhaupt und der sich nicht mit einer Maschine zu bewehren braucht, um einem das Herz zu durchbohren, ist der nackte Ruf eines kleinen Kindes in der Wiege: „Mama! Mama!", den tödlich verwundete, fallende Männer ausstoßen, die man nach einem fehlgeschlagenen Angriff zwischen den Linien zurücklässt, da man in wildem Durcheinander zurückweicht. „Mama! Mama!" Und es dauert nächtelang und will kein Ende nehmen, denn tagsüber schweigen sie oder rufen ihre Kameraden beim Namen, was zwar pathetisch ist, aber weniger grauenerregend als die Klage in der Nacht: „Mama! Mama!" Und die Stimme wird immer schwächer, denn sie sind von Nacht zu Nacht weniger zahlreich; und der Schrei wird immer matter, denn ihre Kräfte nehmen von Nacht zu Nacht ab, weil die Verletzten sich entleeren ... bis auf dem Schlachtfeld nur noch ein einziger atemlos flüstert: „Mama! Mama!", denn der zu Tode Getroffene will noch nicht sterben und vor allem nicht dort und auch nicht so, von allen verlassen ... Und dieser schwache, instinktive Schrei aus der Tiefe des gemarterten Fleisches, auf den man angespannt lauscht, ist so grauenvoll anzuhören, dass man Salvenfeuer auf die Stimme abgibt, um sie zum Verstummen zu bringen, um sie für immer zum Verstummen zu bringen ... aus Erbarmen ... aus Wut ... aus Verzweiflung ... aus Ohnmacht ... aus Ekel ... aus Liebe, o meine Mutter!

Der Tod ... Die Geburt... Wozu?

Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich? Weshalb nur kamen Knie mir entgegen, wozu Brüste, dass ich daran trank?
Hiob, 3, 11,12



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