Leseprobe aus: Bruce Chatwin, Traumpfade



SZ-Bibliothek-Ausgabe, S. 31






Die Pintupi waren der letzte "wilde Stamm", der aus der Westlichen Wüste herausgeholt und mit der Zivilisation der Weißen bekannt gemacht wurde. Bis zum Ende der fünfziger Jahre hatten sie nach wie vor vom Jagen und Sammeln nackt in den Sandbergen gelebt, genau so, wie sie mindestens zehntausend Jahre lang gejagt hatten.

Sie waren ein sorgloses, aufgeschlossenen Volk, nicht den strengeren Initiationsriten der sesshafteren Stämme unterworfen. Die Männer jagten Känguruhs und Emus. Die Frauen sammelten Samen, Wurzeln und essbare Maden. Im Winter nahmen sie Zuflucht hinter einem Windschutz aus Spinifex; und noch in der sengenden Hitze hatten sie meistens Wasser. Ein paar kräftige Beine schätzten sie höher ein als alles andere, und sie lachten unentwegt. Die wenigen Weißen, die mit ihnen wanderten, waren erstaunt, dass ihre Babys so dick und gesund waren.

Die Regierung vertrat jedoch die Ansicht, dass diese Steinzeitmenschen gerettet werden müssten - im Notfall für Christus. Außerdem wurde die Westliche Wüste für Bergbauunternehmungen gebraucht, möglicherweise für Kernwaffenversuche. Es erging der Befehl, die Pintupi in Armeelastwagen zu sammeln und sie auf regierungseigenen Farmen anzusiedeln. Viele wurden nach Popanji gebracht – eine Siedlung westlich von Alice Springs –, wo sie an Seuchen starben, mit den Männern anderer Stämme stritten, zur Flasche griffen und sich gegenseitig erstachen.

Selbst in Gefangenschaft erzählen Pintupi-Mütter wie alle guten Mütter auf der ganzen Welt ihren Kindern Geschichten über die Entstehung der Tiere: Wie der Ameisenigel seine Stacheln bekam ... Warum der Emu nicht fliegen kann ... Warum die Krähe so glänzend schwarz ist ... Und so wie Kipling seine Just-So-Stories mit eigenen Federzeichnungen illustrierte, so malt die Aborigine-Mutter Zeichnungen in den Sand, um die Wanderungen der Traumzeit-Heroen zu illustrieren.

Sie erzählt ihre Geschichte in schnellen, abgehackten Ausbrüchen und zeichnet gleichzeitig die "Fußspuren" des Ahnen nach, indem sie mit dem ersten und dem zweiten Finger, immer einem nach dem anderen, in einer doppelten punktierten Linie über den Boden fährt. Sie wischt jede Szene mit dem Handteller fort und zeichnet schließlich einen Kreis und eine Linie, die durch ihn hindurchführt – ähnlich wie ein großes Q.

Das kennzeichnet die Stelle, wo der Ahne, von den Mühen der Schöpfung ermüdet, "zurück ins Innere" gegangen ist.

Die für Kinder angefertigten Sandzeichnungen sind nur Skizzen oder "offene Versionen" von wirklichen Zeichnungen, die die wirklichen Ahnen darstellen und die nur bei geheimen Zeremonien gemalt und nur von den Eingeweihten gesehen werden dürfen. Trotzdem lernen die jungen Menschen anhand dieser "Skizzen", sich in ihrem Land, in seiner Mythologie und seinen Schätzen zurechtzufinden.

Vor einigen Jahren, als die Gewalttätigkeit und die Trunkenheit überhand zu nehmen drohten, kam ein weißer Berater auf den Gedanken, den Pintupi Malmaterial zur Verfügung zu stellen und sie zu veranlassen, ihre Träume auf Leinwand zu übertragen.

Als Ergebnis entstand im Handumdrehen eine australische Schule abstrakter Kunst.

         
         
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