Leseproben aus: Annie Dillard, Der freie Fall der Spottdrossel
S. 11 ff., 70 ff., 99 ff., 290 ff. (Die Seitenangaben beziehen sich auf die ursprüngliche Ausgabe bei Klett-Cotta)
[1] Der berühmt gewordene Anfang des Buches (S. 11 ff.)
[2] Der Einaugenfalter - ein besonders grausames Beispiel menschlicher Dummheit (S. 70 ff.)
[3] Gedanken über Bäume (S. 99 ff.)
[4] Der Schluss, Annie Dillards großes Loblied auf die Schöpfung (S. 290 ff.)
[1]
Der berühmt gewordene Anfang des Buches (S. 11 ff.)
1. Kapitel
Himmel und Erde ein Scherz
Ich hatte mal einen Kater, eine alte Kämpfernatur, der oft mitten in der Nacht durch das offene Fenster neben meinem Bett sprang und auf meiner Brust landete. Ich wurde halb wach. Er steckte mir seinen Schädel unter die Nase und schnurrte und stank nach Urin und Blut. In manchen Nächten knetete er mir mit seinen Vorderpfoten kräftig die nackte Brust und streckte sich dabei, als ob er sich die Klauen schärfen oder eine Mutter melken wollte. Und manchmal wachte ich morgens im Hellen auf und sah, daß mein Körper über und über mit blutigen Pfotenspuren bedeckt war; ich sah aus wie mit Rosen bemalt.
Es war heiß, so heiß, daß der Spiegel sich warm anfühlte. Benommen wusch ich mich vor dem Spiegel, und mein verdrehter Sommerschlaf hing noch an mir wie Seetang. Was für ein Blut war das, und was für Rosen? Es hätte die Rose der Vereinigung sein können, das Blut des Mordes, oder die Rose der nackten Schönheit und das Blut einer unsagbaren Opferung oder Geburt. Das Zeichen an meinem Körper hätte ein Erkennungszeichen sein können oder ein Schandfleck, der Schlüssel zum Himmelreich oder das Kainszeichen. Ich war mir nie sicher. Ich war mir nie sicher, während ich mich wusch und das Blut verlief, blaß wurde und schließlich verschwand, ob ich mich gereinigt oder das Blutzeichen des Passahfestes ausgelöscht hatte. Wir erwachen, wenn wir überhaupt je erwachen, umgeben von Geheimnis, Todesraunen, Schönheit, Gewalt ... "Als ob wir einfach hier unten hingesetzt wären", sagte neulich eine Frau zu mir, "und kein Mensch weiß warum."
Das sind Morgengedanken, Bilder, die du träumst, während die letzte Welle dich auf den Sand ins helle Licht und an die warme Luft spült. Du erinnerst dich an Druck und an einen eingerollten Schlaf, in dem du weich gebettet lagst wie eine Muschel in ihrer Schale. Aber die Luft härtet deine Haut; du richtest dich auf; du verläßt den hellen Strand, um eine schattige Landspitze zu erkunden, und bald schon verlierst du dich im grünen Unterholz, versunken und ohne dich zu erinnern.
Ich denke immer noch an diesen alten Kater, wenn ich morgens aufwache. Inzwischen geht es zahmer zu; ich schlafe bei geschlossenem Fenster. Den Kater und unsere Rituale gibt es nicht mehr, und mein Leben hat sich verändert, aber es bleibt die Erinnerung an eine Kraft, die mir mitspielte. Ich wache erwartungsvoll auf in der Hoffnung, etwas Neues zu erleben. Wenn ich Glück habe, macht mich ein unbekannter Vogelruf munter. Ich ziehe mich hastig an und stelle mir vor, daß draußen tausend Alken flattern, oder Flamingos. Heute morgen war es eine Brautente, unten am Fluß. Sie flog davon.
Ich wohne an einem Fluß, Tinker Creek, in einem Tal in den Blue Ridge Mountains von Virginia. Die Klause eines Anachoreten nennt man hierzulande einen "anchor-hold"; manche dieser "festen Anker" waren einfache Hütten, die an einer Kirche klebten wie Seepocken an einem Felsen. In meiner Vorstellung ist das Haus, in dem ich lebe, auf diese Weise am Rand des Tinker Creek verankert. Es verankert mich am Felsengrund des Flusses selbst und hält mich sicher in der Strömung wie ein Schiffsanker im Strom des niederfließenden Lichts. An diesem Ort ist gut sein; er bietet viel Stoff zum Denken. Die Flüsse - Tinker und Carvin's Creek - sind ein bewegtes Geheimnis, jeden Augenblick neu. Ihr Geheimnis ist das Rätsel der unaufhörlichen Schöpfung und der Vorsehung mit allem, was das bedeutet: Unsicherheit des Sehens, die Grausigkeit des Starren, die Auflösung der Gegenwart, die Feinheit des Schönen, der Zwang zur Fruchtbarkeit, die Unfaßbarkeit des Freien, die Unzulänglichkeit des Vollkommenen. Die Berge - Tinker und Brushy, McAfee's Knob und Dead Man - sind ein unbewegtes Geheimnis, das älteste überhaupt. Es ist das einfache Geheimnis der Schöpfung aus nichts, der Materie selbst, aller Dinge überhaupt. Berge sind riesig, ruhevoll, bewahrend. Du kannst einem Berg deine Seele überantworten, und der Berg wird sie hüten und einhüllen und nicht zurückwerfen, wie manche Flüsse es tun. Die Flüsse sind die Welt mit all ihrer Aufregung und Schönheit; dort wohne ich. Aber die Berge sind Heimat.
[2]
Der Einaugenfalter - ein besonders grausames Beispiel menschlicher Dummheit (S. 70 ff.)
Ich hege nicht die Absicht, irgend wen mit all meinen Kindheitserinnerungen zu quälen. Auch will ich keineswegs gegen meine alten Lehrer zu Feld ziehen, die mich mit unvergeßlicher Dusseligkeit in die Welt der Natur eingeführt haben, eine Welt der Chitinpanzer, in der unversöhnliche Wirklichkeiten herrschen. Der Einaugenfalter hat es nie geschafft, Vergangenheit zu werden; er kriecht noch immer in jenem überfüllten, klaren Becken an der Lippe des großen Wasserfalls herum. Er ist so gegenwärtig wie dieser blaue Schreibtisch und diese Messinglampe, wie dieses nachtschwarze Fenster vor mir, durch das ich nicht einmal mehr die weißen Fäden sehen kann, an denen die Eikapseln in der Hecke hängen, sondern bloß mein eigenes blasses, erstauntes Gesicht.
Als ich zehn oder elf war, brachte meine Freundin Judy die Puppe eines Einaugenfalters mit. Es war Januar, an den Fensterscheiben in der Klasse klebten ausgeschnittene Schneeflocken. Die Lehrerin behielt die Puppe den ganzen Vormittag in ihrem Schreibtisch und holte sie erst hervor, als wir vor der Pause unruhig wurden. In einem Buch bekamen wir gezeigt, wie der ausgewachsene Falter aussehen würde; er würde wunderschön sein. Mit einer Flügelspanne von bis zu fünfzehn Zentimetern ist der Einaugenfalter einer der wenigen Riesenseidenspinner Amerikas, viel größer etwa als ein Riesen- oder Tigerschwalbenschwanz. Die gigantischen Flügel des Falters sind mit einem dicken warmbraunen Samt überzogen, mit schmalen aquarellfarbenzarten Rändern in Blau und Rosa. Ein sensationelles "Auge", riesengroß, und von Tiefblau in ein beinahe lichtdurchlässiges Gelb übergehend, prangt in der Mitte beider Hinterflügel. Der Effekt ist der einer maskulinen Herrlichkeit, die man bei Schmetterlingen sonst nicht kennt, einer zu Kraft entfalteten Zartheit. Der Einaugenfalter auf dem Bild sah aus wie ein mächtiger Waldgeist, eine lebendige Essenz des Laubwaldes, fremdhäutig und braun, mit aufgerissenen blinden Augen. Und dieser riesige Falter steckte in dem blassen Kokon. Wir klappten das Buch zu und widmeten uns dem Kokon. Es war ein zu einem unförmigen ovalen Bündel genähtes Eichenblatt; Judy hatte es in einem Haufen gefrorener Blätter gefunden.
Wir reichten die Puppe herum; sie war schwer. Als wir sie in den Händen hielten, wurde das Tier drinnen warm und bewegte sich. Wir waren begeistert und schlössen sie fester in die Fäuste. Die Larve begann heftig zu zucken, mit ergreifenden Stößen. Wer ist da? Ich kann das Rucken noch heute fühlen, wie es ungestüm durch die Dämmung aus gesponnener Seide und Blatt drang, ungestüm durch die jahrealte Hülle gegen meine gekrümmte Handfläche pochte. Wir reichten sie immer weiter herum. Als sie wieder bei mir ankam, war sie heiß wie ein aufgebackenes Brötchen; sie sprang mir fast aus der Hand. Die Lehrerin griff ein. Sie legte die immer noch heftig arbeitende, zuckende Puppe in das stets bereitstehende Steingutgefäß.
Sie wollte raus. Sie war jetzt nicht mehr zu bremsen, auch wenn erst Januar war. Ein Ende des Kokons wurde feucht und mit wütendem Stoßen und Zerren langsam aufgerissen. Der Kokon als Ganzes wand sich und warf sich auf dem Boden der Schale von einer Seite auf die andere. Die Lehrerin wird blaß, die Klasse wird blaß, ich werde blaß: Ich entsinne mich bloß noch des Kampfes dieses Wesens darum, zum Falter zu werden oder dabei zu sterben. Als es schließlich hervorkam, war es ein triefnasser Klumpen. Es war ein Männchen; seine langen Fühler waren dicht gefiedert und so breit wie sein dicker Hinterleib. Sein Leib war sehr plump, fast drei Zentimeter lang mit einem kräftigen Pelz. Sein Kopf war von einem grauen pelzartigen Plüsch bedeckt; eine lange, braune, pelzartige Behaarung floß von seiner breiten Brust über den pelzigbraunen, gegliederten Hinterleib. Seine vielgelenkigen hellen starken Beine waren zottelig wie Bärenbeine. Er stand stocksteif da, aber er atmete.
Er konnte die Flügel nicht ausbreiten. Der Platz reichte nicht. Der chemische Stoff, mit dem seine Flügel wie mit einem Lack überzogen waren, machte sie steif, trocknete und ließ die Flügel aushärten, wie sie waren. Er war ein Monstrum in einem Steingutgefäß. Auf seinem Rücken klebten die gigantischen Flügel als verkrüppeltes Gebilde aus willkürlich aufgeworfenen Falten und Furchen, zerknittert wie ein schmutziges Papiertaschentuch, steif wie Leder. Sie machten ihn zu einem einzigen Albtraum, einem immer noch von hilflosen, panischen Zuckungen gequälten Klumpen.
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist die Pause. Die Schule lag in Shadyside, einem lauten Wohnviertel in Pittsburgh. Alles spielte auf dem eingezäunten Spielplatz Völkerball oder auf dem gepflasterten Schulhof bei den Schaukeln Nachlaufen. Neben dem Spielplatz führte eine lange Auffahrt bergab zum Bürgersteig und bis an die Straße. Irgendwer - es muß die Lehrerin gewesen sein - hatte die Motte ausgesetzt. Ich stand an der Auffahrt, allein, stockstill, aber ich zitterte. Irgendwer hatte dem Einaugenfalter die Freiheit geschenkt, und er hatte sich auf den Weg gemacht.
Er schob sich unendlich langsam beharrlich über den Asphalt der Auffahrt bergabwärts. Die abscheulichen knittrigen Flügel lagen festgeklebt und eingefaltet auf seinem Rücken, mittlerweile vollkommen still wie ein zusammengefallenes Zelt. Es klingelte zweimal; ich mußte gehen. Der Falter entfernte sich die Auffahrt entlang, zog schleppend von dannen. Ich ging; ich rannte hinein. Der Einaugenfalter kriecht immer noch die Auffahrt entlang, kriecht gebeugt über die Auffahrt, kriecht auf sechs pelzigen Beinen die Auffahrt entlang, für immer.
[3]
Gedanken über Bäume (S. 99 ff.)
Ich sitze unter einer Platane am Tinker Creek. Es ist Vorfrühling, einen Tag nachdem ich das Hündchen gestreichelt habe. Ich bin zur Mittagszeit an den Fluß gekommen - hinterm Haus, am Ende des Gartens -, um die leise Erwärmung in der Luft zu spüren, echte Sonnenwärme, und zuzuschauen, wie neues Wasser den Fluß herunterkommt. Erwarte nicht mehr als das und ein paar schweifende Gedanken. Ich bin auf die Gegenwart aus, das Präsens; ich halte die Augen auf und bin mit jedem Jahr mehr darauf erpicht. Wer welche zu verkaufen hat, hat leichtes Spiel, oder glaubst du nicht, daß ich alles, was ich habe, dafür geben würde? Thomas Merton schrieb in seinem Gethsemane Journal: "Vorschlag zur Korrektur des Vaterunser: ‘Dein Reich komme’ streichen und durch ‘Schenke uns Zeit!’ ersetzen." Dabei ist Zeit das eine, was uns geschenkt ist, und wir sind der Zeit geschenkt. Die Zeit wirbelt uns herum. Wir wachen ständig aus einem Traum auf, an den wir uns nicht erinnern, schauen uns staunend um und schlafen wieder ein, endlose Jahre lang.
Mein einziges Ziel ist es, wach zu bleiben, den Kopf oben zu behalten, die Augen aufzuhalten, mit Streichhölzern, zur Not mit Bäumen.
Zu meinen Füßen rauscht der gut fünf Meter breite Fluß über ein paar flache Sandsteinfelsen zwischen verstreuten Wackersteinen. Ich habe Glück; der Fluß ist an dieser Stelle der Steine wegen laut und wild. Im Sommer und im Herbst, wenn er wenig Wasser führt, kann ich von Stein zu Stein ans andere Ufer springen. Stromauf steht eine Lichtwand, die durch glatte, quer zum Fluß verlaufende ebenmäßige Sandsteinstufen in einzelne Balken unterteilt ist. Stromab wird das strudelnde Wasser vor mir still, erstirbt plötzlich wie ausgelöscht und verschwindet um eine sommers wie winters von überhängenden Tulpenbäumen, Robinien und Osagedornen beschattete Biegung. Überall, wo ich hinschaue, stehen am Fluß Bäume, deren aufragende Stämme vor dem Wasser und dem Gras den jähen Anstieg des Landes an dieser Stelle betonen. Im Fluß kann sich das Auge ausruhen, er ist ein Hafen, eine Brust; die beiden steilen Ufer steigen aus dem Fluß auf wie Schwingen. Selbst die Krone der Platane kann an keiner Seite über den Rand gucken.
Meine Freundin, die Lyrikerin Rosanne Coggeshall, ist der Ansicht, sycamore - Platane - sei das in sich schönste Wort der englischen Sprache. Diese Platane ist alt; unten, wo das Hochwasser vieler Jahre den Stamm umspült hat, ist die Rinde immer staubig. Wie viele Platanen hat auch diese etwas Schrulliges, eine Neigung zu Höhenflügen und Auswüchsen. Ihr Stamm steht beängstigend schief über dem Fluß, und aus diesem Stamm ragt ein langer, dünner Ast, der ohne Verzweigungen hoch über das gegenüberliegende Ufer hinausschießt. Im Fluß spiegelt sich die gesprenkelte Außenseite des Astes selbst gegen die höchsten Wolken blaß, und dieses Bild wird in seinem Verlauf über den Fluß weißlich hell und schmaler, zerreißt über den Schnellen und verschmilzt wieder zitternd und fleckig, wie ein gigantisches urzeitliches Reptil unter dem Wasser.
Ich möchte über Bäume nachdenken. Bäume haben eine merkwürdige Beziehung zum Thema des gegenwärtigen Moments. Viele der erschaffenen Dinge im Universum leben länger als wir, sogar länger als die Sonne, aber sie entziehen sich meinem Denken. Ich lebe mit Bäumen. Es gibt Lebewesen, die unter unseren Füßen leben, und welche über unseren Köpfen, doch Bäume bewohnen ziemlich überzeugend die selbe Luftschicht wie wir und erstrecken sich außerdem eindrucksvoll in beide Richtungen, nach oben wie nach unten, wo sie Felsen rasieren und Luft fächeln, sich eben außer Reichweite ihren wahren Aufgaben widmen. Für einen Blinden ist der Inbegriff von Größe ein Baum. Sie haben ihre kräftigen Körper und besonderen Fähigkeiten; sie speichern Süßwasser; sie halten aus. Diese Platane über mir, unter mir am Tinker Creek ist ein typischer Fall; ihr Anblick setzt in meinem Kopf ein ganzes Bündel unterhaltsamer Gedanken in Gang, die mir allesamt so präsent sind wie der Druck dieser Grashalme an meiner Haut am Ellbogen. Ich möchte das Thema Gegenwart angehen, indem ich vorführe, wie das Bewußtsein durch die labyrinthischen Bahnen des Geistes flitzt und schlendert und dabei immer wieder, sei es noch so flüchtig, durch die Sinne geistert: "Wenn nur ein einziger Baum aufrecht und fest im Wald stünde, würden alle Geschöpfe zu ihm kommen, um sich an ihm zu reiben und Halt unter den Füßen zu finden." Doch solange ich in Gedanken bleibe, gleitet mein Fuß unter Bäumen aus; ich falle, oder ich tanze.
Platanen gehören zu den letzten Bäumen, die grün werden; im Herbst sind sie die ersten, die ihre Blätter abwerfen. Sie bereiten sich mit ihren flachen grünen Blättern - tellergroßen Blättern -eine Zeitlang süße Nahrung und wedeln dann wild mit ihren langen weißen Armen. Im alten Rom verehrten Männer die Platane - in Gestalt ihrer örtlichen Variante, der Morgenländischen Platane -, indem sie Wein an ihre Wurzeln gössen. Und ich habe gelesen, daß Xerxes mit seinem schwerfälligen Heer tagelang haltmachte, um die Schönheit einer einzelnen Platane ausgiebig zu genießen.
Du bist Xerxes in Persien. Dein Heer ist über eine weite, aride Rumpfebene verstreut ... du rufst alle deine traurigen Hauptleute zusammen und gibst den Befehl zum Halt. Du hast den Baum gesehen, in dem die Lichter brennen, stimmt's? Du mußt ihn gesehen haben. Xerxes, in einer Ebene vom Donner gerührt, aller Ehrgeiz mit einem Schlag verflogen. Die Feuersalve bringt jedes Heer im Nu zum Stehen. Deine Männer wissen nicht, was sie davon halten sollen; sie stützen sich auf ihre Speere und lutschen Flaschenkürbisrinde. Auf dieser platten Ebene fängt nichts den Blick, nichts als eine Senke, glutheißer Himmel, ein bißchen Riedgras auf der Leeseite windzerfressener Felsen, ein armseliges Band Buschweiden an einem schlummernden Wasserlauf ... und die Platane. Du hast sie gesehen; du stehst immer noch stumm in Betrachtung versunken da, innerlich jubelnd, tagelang nur hin und wieder daran denkend, dir zum Schutz vor der Sonne den Kopf zu bedecken.
"Er ließ ihre Form auf eine Goldmünze prägen, damit sie ihn sein Leben lang an den Baum erinnerte." Deine Zähne klappern; es ist kurz vor Sonnenaufgang, und du bist für einen Moment aus deiner Benommenheit erwacht. "Goldschmied!" Der Goldschmied ist schlaftrunken, mißmutig. Er macht Feuer in seiner Esse, er wickelt seine halbvergessene Zange und den Griffel aus den staubigen Baumwollappen, er wartet auf die Sonne. Wir sollten alle einen Goldschmied haben, der überall mitkommt. Aber keine um den Hals getragene Goldmünze, das weißt du genau, Xerxes, nicht wahr, kann die frohe Stunde wiederbringen, die Lichter dein Leben lang brennen lassen, immerzu gegenwärtig. Pascal sah sie. Er griff zu Papier und Stift; er schrieb das eine Wort: FEU; er trug den Zettel sein Leben lang eingenäht in seinem Hemd. Ich weiß nicht, was Pascal gesehen hat. Ich habe eine Zeder gesehen. Xerxes sah eine Platane.
Diese Bäume rühren mich an. Die Vergangenheit steckt einen Finger in einen Riß in der Haut der Gegenwart und zieht. Ich entsinne mich, wie Platanen in der Stadt wuchsen - und vermutlich immer noch wachsen -, in Pittsburgh, selbst an den verkehrsreichsten Straßen. Ich habe früher Stunden im Garten verbracht und in Gott weiß was für Gedanken versunken an der gefleckten Rinde einer Platane gepult, daß der Rasen von getrockneten Lappen und Streifen übersät und der Stamm auf Augenhöhe feucht, dünnhäutig und gelb war - bis mich jemand hinter dem Küchenfenster dabei erwischte und ich merkte, was ich tat, erstaunt mein Werk betrachtete und dachte: oh je, diesmal habe ich die Platane sicher umgebracht.
Hier in Virginia erreichen die Bäume ungeheure Ausmaße, vor allem im Tiefland an Flußufern. Es ist schwer zu begreifen, wie ein und derselbe Baum sowohl in der schlechten Luft an Pittsburghs Penn Avenue und knietief im Tinker Creek stehend gedeihen kann. Dabei habe ich, jetzt wo ichs mir überlege, es natürlich nicht anders gemacht. Weil die primitive Rinde einer Platane nicht elastisch ist, sondern reißt, wird sie im Wachstum kontinuierlich abgestoßen; von weitem gesehen wirkt eine Platane, als würde sie mit wachsender Höhe bleicher und verletzlicher; die nackten obersten Zweige stehen weiß vor dem Himmel.
[4]
Der Schluss, Annie Dillards großes Loblied auf die Schöpfung (S. 290 ff.)
Thomas Merton schrieb: "Es besteht immer eine Versuchung, mit dem kontemplativen Leben zu spielen, indem man nette kleine Standbilder baut." Es besteht immer eine kolossale Versuchung, mit dem Leben überhaupt zu spielen, indem man nette kleine Freundschaften schließt, nette kleine Mahlzeiten kocht und Reisen macht, endlose nette Jahre lang. Es ist so realistisch, so augenscheinlich moralisch, einfach von den fluß- und winddurchströmten Spalten zurückzutreten und, durchaus zu Recht, zu sagen: Ich habe diese Gnade nicht verdient, und dann bis zum Ende seiner Tage an der Grenze zum Zorn dahinzuschmollen. Ich denke nicht daran, es so zu machen. Dazu ist die Welt, wo man hinschaut, zu wild, zu gefährlich und bitter, extravagant und bunt. Wir machen Heu, wo wir juchhe machen sollten. Wir wecken Tomaten ein, wo wir Radau schlagen und Lazarus aufwecken sollten.
Hesekiel verurteilt falsche Propheten als solche, die "nicht in die Bresche getreten sind". Die Breschen, die Spalten, die Einschnitte sind's. Die Spalten sind der Seele einzige Heimat, die Höhen und Breiten so blitzsauber und karg, daß die Seele sich erstmals selbst entdecken kann wie ein einstmals Blinder, der von seinen Verbänden befreit wird. Die Spalten sind die Felsklüfte, in die du dich hockst, um hinter Gott herzusehen; sie sind die Risse in den Bergen und zwischen Zellen, durch die der Wind peitscht, die eisigen, sich verengenden Fjorde, die sich in die Klippen des Mysteriums einschneiden. Geh hinein in die Abgründe. Wenn du sie finden kannst; auch sie verschieben sich oder verschwinden gar. Pirsche dich an die Spalten an. Quetsche dich in einen Spalt im Boden, winde dich hinein und erschließe - mehr als einen Ahorn - eine Welt. So sollst du den heutigen Nachmittag verleben und den morgigen Vormittag und den morgigen Nachmittag. Verlebe den Nachmittag. Du kannst ihn nicht mitnehmen.
Ich lebe in Ruhe und Frieden und in Zittern und Zagen. Manchmal träume ich. Alice interessiert mich am meisten dort, wo sie den Keks ißt, der sie kleiner macht. Ich würde mich gern schälen oder schälen lassen, bis ich selbst auch durch die kleinste Ritze passe, einen Spalt im Himmel, von dem ich genau weiß, daß er da ist. Ich suche derzeit nach dem Keks. Manchmal öffne ich mich wie eine aufgeschnittene Frucht. Oder ich bin porös wie ein alter Knochen oder lichtdurchlässig, eine gefärbte Kondensation der Luft wie eine Aquarell-Schattierung, und ich schaue mich um und bin verwirrt, weil ich glaube, daß ich keinen Schatten werfe. Manchmal reite ich einen bockenden Glauben und halte mich mit einer Hand fest, während ich mit der andern in der Luft herumfuchtle, und wie jeder Wagehals gebe ich die Sporen, weil ich Blut will, einen wilderen Ritt, mehr.
Es gibt keine Garantie in der Welt. Ja, natürlich, was du brauchst, wirst du sicher bekommen, das versichert dir felsenfest die denkbar sicherste Garantie mit den schlichtesten, wahrsten Worten: klopf an, suche, bitte. Aber du mußt das Kleingedruckte lesen. "Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt." Das ist der Haken. Wenn du es erwischen kannst, wird es kommen und dich erwischen, gleich, an welchem Spalt, gleich, wie hoch droben, und du wirst zurückkommen, denn zurückkommen wirst du, wenn auch womöglich so verwandelt, daß du dich kaum wiedererkennst - sabbernd und entrückt. Das Reinigungswasser hinterläßt, auch als feinste Sprenkel, unauslöschliche Flecken. Hast du, bevor es dich erwischte, gedacht, daß du, sagen wir, dein Leben brauchtest? Glaubst du, daß du dein Leben behalten wirst oder die anderen Dinge, an denen du hängst? Aber nein. Du bekommst alles, was du brauchst. Aber nicht, wie die Welt gibt. Du erlebst, wie dir jedesmal, wenn du gebetet hast, zuteil wurde, was deine Seele braucht, und du hast gelernt, daß die unerhörte Garantie eingehalten wird. Du erlebst, wie andere Geschöpfe sterben, und du weißt, daß auch du sterben wirst. Und eines Tages geht dir auf, daß du das Leben gar nicht brauchst. Offensichtlich. Und dann bist du weg. Du hast endlich verstanden, daß du es mit einem Wahnsinnigen zu tun hast.
Ich glaube, die Sterbenden beten zuletzt nicht "bitte", sondern "danke", wie ein Gast seinem Gastgeber an der Tür dankt. Die Leute, die aus einem Flugzeug fallen, rufen auf dem ganzen Weg durch die Luft danke, danke; und unten auf den Felsen stehen die Kühlwagen für sie bereit. Gott spielt nicht. Das Universum ist nicht zum Scherz geschaffen, sondern in vollem, unbegreiflichem Ernst. Von einer Macht, die unergründlich geheim und heilig und flüchtig ist. Daran ist nichts zu machen, du kannst sie nur ignorieren oder sehen. Und dann gehst du furchtlos deiner Wege, ißt, was du essen mußt, und wächst, wo du kannst, wie der fahrende Mönch, der genau weiß, wie verwundbar er ist, der keinen Trost unter Menschen sucht, die nicht wissen, daß sie sterben müssen, und der seine Vision von Unermeßlichkeit und Macht in seinem Gewand trägt wie eine glühende Kohle, die ihn weder verbrennt noch wärmt, doch von der er sich um keinen Preis trennt.
Ich hatte einmal einen Kater, eine alte Kämpfernatur, der durch das offene Fenster neben meinem Bett sprang und mir mit kaum eingezogenen Krallen die Brust knetete. Ich habe blutige Wunden davongetragen, bin übel zugerichtet, ausgewrungen, geblendet, gebeutelt worden. Ich schmecke früh morgens Salz auf meinen Lippen; ich überrasche meine Augen im Spiegel, und sie sind Asche, oder feurige Sprosse, und ich starre entsetzt oder tief Luft schöpfend in sie hinein. Der Planet wirbelt allein und träumend dahin. Macht brütet, braust und schießt nieder. Der Planet und die Macht treffen mit einem Schock aufeinander. Sie verschmelzen und taumeln, Blitze, Bodenbrände; sie trennen sich stumm, willfährig, und berühren sich aufs neue mit Fauchen und Gebrüll. Der Baum, in dem die Lichter brennen, lodert hell auf, und die guß-steinernen Berge läuten.
Emerson hat es gesehen. "Mich träumte, ich schwebte aus freiem Willen im großen Äther, und ich sah diese Welt ebenfalls dahinschweben, nicht weit von mir, aber zur Größe eines Apfels geschrumpft. Dann nahm ein Engel sie in die Hand und brachte sie zu mir und sagte: ‘Das mußt du essen.’ Und ich aß die Welt." Ganz. Das Feine, Gescheckte, Angenagte, Vielgestaltige und Freie. Die Priester Israels boten das Schwingopfer und das Hebopfer zusammen dar, aus freiem Willen, in vollem Bewußtsein, als Dank. Sie schwangen, sie hoben, und keine der beiden Gesten war ohne die andere vollständig, und beide sagten großen Auges und scharfen Blickes Dank. Geh deiner Wege, iß das Fett und trink den Wein, sagte die Glocke. Ein Alchimist des sechzehnten Jahrhunderts schrieb vom Stein der Weisen: "Man findet ihn auf dem freien Land, im Dorf und in der Stadt. Er ist in allem, was Gott geschaffen hat. Mägde werfen ihn auf die Straße. Kinder spielen mit ihm." Die Riesenwanze hat die Welt gegessen. Und wie Billy Bray gehe ich meinen Weg - und mein linker Fuß sagt: "Ehre sei Gott", und mein rechter Fuß sagt: "Amen" - hinein in den Schattenfluß und wieder hinaus, stromauf und stromab, und tanze verzückt, entrückt, zu den zwei silbernen Posaunen des Lobs.