Text der Kurzgeschichte "Eiszeit"

Veröffentlicht in der Anthologie "Wandlungen", August 2007




(Der Text entstand im Frühjahr 2007 im Zusammenhang mit einem Schreibwettbewerb der Zeitschrift "Federwelt")


Eiszeit

von Werner Friedl



Lisa schreckte aus dem Schlaf hoch. Hannes stand neben ihrem Bett.

"Was machst du hier?"

"Mir ist kalt."

Es hatte einen späten Wintereinbruch gegeben, Anfang April, draußen lag Schnee, und die Heizung war – wie jede Nacht – abgeschaltet.

"Was soll das, warum nimmst du keine Wärmflasche?" Lisa war ungehalten. Sie schaute auf den Wecker, es war gerade hell genug, die Uhrzeit zu erkennen: kurz nach fünf. Viel zu früh zum Aufstehen. Warum war sie so erschrocken, wer außer Hannes sollte schon hier sein? Na ja, es war schon eine Weile her, dass er in ihr Zimmer gekommen war. Eigentlich waren sie kein Paar mehr.

"Die ist ausgelaufen, das ganze Bett ist nass. Kann ich zu dir rein?" Hannes klapperte hörbar mit den Zähnen.

Lisa rückte an den Rand ihres Betts. "Aber benimm dich", brummte sie.

"Sicher. Mir ist nur kalt." Hannes legte sich neben Lisa ins Bett und zog die Decke, die er mitgebracht hatte, über sich. "Danke", sagte er. "Gute Nacht."

Lisa brummte ebenfalls ein "’Nacht" und drehte sich auf ihre Seite. Es war ihr nicht unangenehm, Hannes neben sich zu spüren, auch wenn von ihm jetzt eine gewisse störende Kälte ausging. An Kälte hatten sich beide leidlich gewöhnt. Lisa dachte an den baldigen Abschluss ihres dreijährigen Projekts. "Gesucht: Das Einfamilienhaus mit dem geringsten Energieverbrauch. 1. Preis: zehntausend Euro." So hatte es damals in Sonne, Wasser, Wind, der Leib-und-Magen-Zeitschrift für alternative Häuslebauer verheißungsvoll gestanden. "Da machen wir mit!" hatte Hannes gesagt, und auch Lisa war sofort dafür: das war ihr Wettbewerb! Energiesparen war zu ihrer beider Leidenschaft geworden, seit sie sich vor zwei Jahren das kleine Haus am Rand des Schwarzwalddorfes zusammengespart hatten. Sie hatten Dach und Wände gehörig isoliert, Türen und Fenster mit dreifachem Thermoglas versehen, eine Holzheizung mit Wärmespeicher, ausgeklügelter Energierückgewinnungstechnik und tausend sonstigen Raffinessen eingebaut und sich einen großen Warmwasserkollektor und ein Dutzend Photovoltaikpaneele aufs Dach gesetzt. Das alles hatte eine Stange Geld gekostet, da kam dieser Wettbewerb gerade recht. Die Zeitschrift hatte ein Punktesystem entwickelt, mit dessen Hilfe man unterschiedliche Hausgrößen, Brennstoffarten, Bewohnerzahlen, die Ungleichheit des Wetters und andere individuelle Eigenheiten miteinander verrechnen konnte, so dass eine Vergleichbarkeit gewährleistet war. Wer sich beteiligen wollte, musste sich damit einverstanden erklären, dass alle Strom-, Gas- und sonstigen Energieabrechnungen sowie entsprechende Einkaufsbelege während der Dauer des Wettbewerbs unangemeldet von der Redaktion überprüft werden durften. Darüber hinaus waren im ganzen Haus Kontrollinstrumente und Messsonden aller Art installiert worden. Sonne, Wasser, Wind brachte in jeder Ausgabe Reportagen über den aktuellen Stand des Energieverbrauchs der Teilnehmer und berichtete detailliert über die neuesten Aktionen zur Reduzierung des Öl-, Gas- Holz- oder Stromverbrauchs. Regelmäßig wurden Rankings veröffentlicht, welcher Haushalt an erster, zweiter, dritter Stelle lag.

Lisa und Hannes lagen von Anfang an gut im Rennen. Zusammen mit einem älteren Ehepaar vom Niederrhein und einer Familie aus dem Thüringer Wald bildeten sie bald eine uneinholbare Spitzengruppe, in der sie am Ende des ersten Winters sogar mit drei Punkten Vorsprung vor den Thüringern die Führung übernahmen. Die Situation beflügelte ihre Phantasie, und sie fanden immer neue Möglichkeiten zum Einsparen von Energie: Geduscht wurde nur noch kalt, das war ja auch gesund, es gab oft kalte Platte am Abend und Kerzen waren doch viel romantischer als Glühlampen. Im zweiten Sommer meldete Hannes den Stromanschluss ab und montierte dafür ein weiteres Dutzend Solarzellenplatten aufs Dach, das nun südseitig gänzlich in silberdurchzogenem Blau glitzerte, unterbrochen nur durch die schwarzen Felder der Kollektoren. Lisa war nicht überzeugt, ob die hauseigene Stromversorgung auch für sämtliche Bedürfnisse ausreichen würde. Sie fürchtete einen Ausfall der komplizierten Heizung mit ihren Pumpen und Steuergeräten, die allesamt auf Elektrizität angewiesen waren. Hannes hingegen war absolut durchdrungen von den technischen Highlights seiner selbstentworfenen Anlage, tüftelte nächtelang an Wasserpumpen, Steuermodulen und Wechselrichtern herum und schien wie besessen von der Idee der autarken Energieversorgung. Als sich im zweiten Winter des Wettbewerbs eines Abends die Heizungssteuerung bei zwölf Grad unter Null mit einem leisen Knall verabschiedete, war dies ein ernster Prüfstein für ihre Beziehung. Hannes machte sich zwar sofort und ohne sich eine Pause zu gönnen an die Arbeit, und es gelang ihm schließlich, nach zwei durchfrorenen Tagen und Nächten die Anlage wieder in Gang zu setzen, eine gewisse Spannung zwischen ihm und Lisa aber blieb zurück.

Eine herbe Enttäuschung bedeutete es für Lisa und Hannes, als sie gegen Ende des zweiten Winters Sonne, Wasser, Wind entnahmen, dass sie auf den dritten Platz zurückgefallen waren, von dem sie beinahe noch von einer Familie aus dem Chiemgau verdrängt worden wären, die sich eine Turbine in den kleinen Wasserfall hinter ihrem Haus eingebaut hatte. Zwar war in der Ausgabe ein hübsches Foto von ihrem Häuschen mit den funkelnden Solarzellen abgedruckt, aber sowohl das Ehepaar vom Niederrhein als auch die Thüringer Familie hatten sich einen klaren Punktevorsprung vor ihnen erkämpft. Da man bei den Thüringern kein Geld für Photovoltaik hatte, waren die Elektrogeräte auf Hand- beziehungsweise Fußbetrieb umgestellt worden: Das Bild zeigte einen fröhlich strampelnden Vater auf einem Hometrainer, den er zu einem Generator umgebaut hatte. Davor kurbelte die kleine Tochter an einem dynamobetriebenen Radio und die Mutter winkte aus dem Hintergrund mit einer handbetätigten Taschenlampe. Richtig alarmierend aber wirkte auf sie das Bild des Ehepaars vom Niederrhein. Die beiden strahlten zufrieden aus ihrem Sofa inmitten eines gut bürgerlich eingerichteten Wohnzimmers. Der Mann trug eine Pelzmütze nach russischer Art, dazu einen Mantel mit Fellkragen und einen Wollschal. Die Hände steckten in Fäustlingen und die Füße in Moonboots, wie sie vor dreißig Jahren Mode gewesen waren. Seine Frau, die sich bei ihm eingehakt hatte, war in eine Kombination aus Anorak und Skihose gekleidet, und ihre blonden Haare lugten unter einer Strickmütze hervor. Auch sie trug Schal und Handschuhe.

Lisa lag wach. Im Zimmer war es kalt, natürlich, und die ungewohnte Gesellschaft in ihrem Bett ließ sie nicht einschlafen. Hannes bewegte sich nicht. Was sollte aus ihrer Beziehung werden? Wenn es dieses blöde Projekt nicht gäbe, wäre sie wahrscheinlich schon ausgezogen, aber sie wollte Hannes jetzt, kurz vor dem Ende, nicht im Stich lassen. Das Ganze war ja zu Anfang durchaus attraktiv und auch irgendwie richtig gewesen, aber dann hatte sich alles immer mehr zu Hannes’ persönlichem Abenteuerspiel entwickelt. Seine Technikbesessenheit, die sie zuerst faszinierend, später eher fragwürdig und schließlich nur noch kindisch gefunden hatte, stand jetzt zwischen ihnen. Als im Herbst innerhalb einer Woche ein Blitz die Steuerung der Solaranlage zerstört, ein Marder das Kabel zu den Speicherbatterien zernagt und ein Ganove zwei Solarplatten vom Dach abmontiert hatte, wollte Lisa aufgeben. Nicht so Hannes. Für ihn schienen diese Vorfälle offenbar erst recht ein Ansporn zu sein. Sein wilder Ehrgeiz hatte Lisa entsetzt und sie hatte sich innerlich von dem – wie sie jetzt fand – hirnverbrannten Projekt zurückgezogen. Auch von Hannes. Sie dachte daran, wie sie von diesem absurden Foto des niederrheinischen Paars gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen gewesen war. Aber weder sie noch Hannes hatten damals einen längeren Kommentar abgegeben, so als ob sie sich beide nicht sicher gewesen wären, wie der andere reagieren würde.

In drei Monaten würde der Sieger feststehen. Lisa fröstelte. Konnte sie wirklich Hannes allein die Schuld für den gegenwärtigen Zustand ihrer Beziehung geben? Sie hatte Lust auf eine Tasse Tee und setzte sich auf.

"Lisa?" Hannes war aufgewacht. Falls er überhaupt geschlafen hatte. Seine Stimme hatte nichts Erschreckendes mehr.

"Ich mach mir einen Tee. Wenn’s nicht zuviel Energie verbraucht." Auf Hannes’ leises Lachen als Antwort war sie nicht vorbereitet.

"Hast du schon die neue Sonne, Wasser, Wind gelesen?" fragte er.

"Nein, warum?"

"Den Preis können wir vergessen." Hannes’ aufgeräumte Stimmung verwirrte Lisa.

"Was heißt das?"

"Das heißt, dass die Niederrheinischen fünfzig Extrapunkte gekriegt haben, weil sie jetzt viel mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen. Sie haben sich ein Windrad in den Garten gestellt und liefern Strom ans E-Werk. Am Niederrhein weht viel Wind."

"Ach." Lisa wusste nicht, was sie erwidern sollte. "Dann muss halt der zweite Preis reichen", sagte sie.

"Die Thüringer bauen gerade etwas Ähnliches. Sie graben ein Loch für eine gigantische Wärmepumpe, den Strom liefert das Fahrrad. Und im Chiemgau hat man sich eine zehnmal so große Turbine zugelegt, die Strom fürs halbe Dorf liefert. Wir haben nur noch die Möglichkeit, sie alle mit irgendeiner Wahnsinnsidee zu übertrumpfen, oder ..." Hannes beendete den Satz nicht und schaute Lisa an.

"... oder das Projekt grandios scheitern zu lassen", sagte Lisa.

"Es scheitert doch überhaupt nicht", sagte Hannes, "wir haben schließlich das Häuschen mit dem ganzen Schnickschnack und das ist doch auch was. Ich meine, wir könnten einfach etwas unverkrampfter sein. Dann gewinnen eben die anderen."

"Aber war es nicht ein Lebenstraum von dir, diesen Preis zu gewinnen?" Lisa rückte etwas näher an ihn heran.

"Schon, na ja." Hannes seufzte. "Zuletzt hab ich aber nur noch wegen dir durchgehalten. Eigentlich wollte ich schon bei dem Marder alles hinschmeißen. Ist doch verrückt, so einen kranken Ehrgeiz hinzulegen, oder?"

Lisa schaute ihn einen Moment groß an, dann prusteten sie beide los.

"Komm unter meine Decke", sagte Lisa, "da können wir vielleicht etwas Energie zurückgewinnen."


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