Leseprobe aus: Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung



S. 135 ff.

In dem Kapitel "Gedächtnis als konstruktiver Prozeß" legt Fried zentrale Überlegungen bezüglich der vielfältigen Aktivitäten des Gedächtnisses dar. Das folgende Kapitel (S. 140 ff. "Die Wahrnehmung als Erinnerungsprozess") zeigt, dass Verformungen und Manipulationen nicht erst beim Erinnern, sondern bereits bei der aktuellen Wahrnehmung einsetzen, somit bereits das, was überhaupt erinnert wird, schon den Verformungs- und Selektionsprozessen des Gedächtnisses unterliegt.


Gedächtnis als konstruktiver Prozeß


Das Gedächtnis gilt heute nicht mehr – wie für Aristoteles, das Mittelalter und die längste Zeit seitdem (auch noch für Hobbes) gleich Phantasie und Alltagsvernunft - als ein innerer Sinn. Auch die gleichfalls auf die Antike zurückgehende Ansicht wurde aufgegeben, es sei ein angehäufter Schatz (diese Metapher findet sich beispielsweise bei dem pseudo-ciceronianischen «Auctor ad Herennium»), ein gigantischer Speicher, in den Wissen passiv eingelagert werde und abrufbar zur Verfügung stehe. Die Metapher verträgt sich nicht mehr mit dem Wissen über die Funktionsweise neuronaler Netze. Das Gedächtnis agiert nicht als «Reizbeantwortungsmaschine». Die Erkenntnis setzt sich vielmehr durch, daß das Gedächtnis sich vornehmlich als kommunikativer und konstruktiver Prozeß manifestiert, der ererbte (genetische) und erlernte (kulturelle) Verhaltensmuster und Organisationsschemata ständig aktiver und wechselnde Umweltsignale beantwortender Neuronen in plastischer Vielfalt aktualisiert und in gewissen Grenzen, was mit deren Hilfe generiert wird, unbewußt oder bewußt zu 'sinnvollen Antworten' konstruiert. Vom ersten Lebenstag eines Menschen an, ja schon zuvor werden alle eingehenden Informationen aktiv und konstruktiv bald mehr, bald weniger aufwendig, aber nie identisch vom Gehirn verarbeitet, nämlich in aufzubauende existente neuronale Wechselwirkungen und ganze Netze derartiger Wechselwirkungen eingebunden. Ein Großteil der dabei ablaufenden Prozesse spielt sich im Millisekundenbereich ab.

Jedes Erlebnis, jede Frage, die einem Gehirn vorgelegt wird, löst eine Fülle neuronaler Assoziationen aus, die sich selbst strukturieren, ein Feuerwerk der Neuronen, das weithin unbewußt Wahrnehmungen und Erinnerungen steuert, sachliche Assoziationen weckt und Antworten vorgibt. Entscheidend ist danach immer das «Jetzt» der Hirnaktivitäten beim Eintreffen und internen Bewerten der Informationen. Erinnerung ist eine augenblickliche, nur begrenzt planbare oder bewußt steuerbare Aktivität des Hirns, keine Rückkehr in irgendeine, und sei es eine neuronale Vergangenheit. Derartige Aktivitätsabhängigkeit macht das Gedächtnis zugleich in hohem Maße modifikationsanfällig. Dem Historiker muß dies zu denken geben. Er kann von den Erinnerungszeugnissen, seinen «Quellen», nicht mehr verlangen, als das sie hervorbringende Hirn zu leisten vermochte.

Erlebnisse zergliedern sich in Informationen, die dem Hirn längst vertraut sind (alles, was schon enkodiert und gespeichert wurde), in Fremdes, Ungewohntes und Belangloses. Vertrautes, nämlich ein gleiches elektrochemisches Signal, wird von den je zuständigen Neuronen als Vertrautes registriert, ein Farbsignal vom «Farbgedächtnis», nämlich den dafür zuständigen Neuronen, als dieses Farbsignal, ein Formsignal vom «Formgedächtnis» als dieses Formsignal, ein Ton vom «Tongedächtnis» als dieser Ton, ein Geruch vom «Geruchsgedächtnis» als dieser Geruch; Fremdes wird aufmerksam geprüft, für den Augenblick Belangloses frühzeitig, im Sekundenmaß zur Seite gelegt. Jedes Objekt (von einigen wenigen wie Gesichtern abgesehen, für die hochspezialisierte Neuronen zuständig sind), jedes Erlebnis, jede Wahrnehmung wird auf diese Weise zur elektrochemischen Enkodierung in Einzelelemente zerlegt, in den fraglichen Hirnregionen enkodiert und als Abfolge neuronaler Aktivitäten gespeichert. Syntax, Semantik und Melodik eines Satzes etwa werden in unterschiedlichen Hirnregionen registriert, enkodiert und abgespeichert. Jeder Wahrnehmungsakt und spätere Erinnerung müssen diese Elemente wieder vereinen. Das aber gelingt, weil in der Zwischenzeit, zwischen Geschehen und Erinnerungsabruf sich gewöhnlich, und sei es nur leicht, die Operationsbedingungen des Hirns verändert haben, die während der Kodierung geherrscht hatten, in der Regel nur mit einem beträchtlichen Modulationsspielraum. Das Gedächtnis reagiert auf derartige Veränderungen mit veränderten Antworten. Es gebärdet sich somit als aktiver Konstrukteur im Gehirn, geradezu als Konstruktionskünstler.

Das aktuelle Umfeld, der situative Kontext, in dem es tätig wird, ist maßgeblich an Enkodierung, Speicherung und Abruf beteiligt. Inhalt und Operation sind dabei nicht zu trennen. Sensorische und semantische Merkmale werden verarbeitet; Umwelt, Erfahrung, Kenntnisse, aktuelle Sinnesreize ebenso, auch Erwartungs-, Handlungs- und Erklärungsmuster, neuronale Strukturen, das gesamte kontextuelle extra- und intrazerebrale Ensemble des Lernprozesses, wirken dabei mit den aktuellen Dispositionen der neuronalen Netze zusammen. Das ist bei Tieren wie bei Menschen, unterschieden allein nach dem Spielraum, den die Gattung zubilligt. Umweltliehe. körperliche und psychische Umstände bringen sich bei jeder Aktivierung des Gedächtnisses zur Geltung. Alle Information, die sich dasselbe angeeignet hat und abruft, wird durch die unbewußten und unsteuerbaren neuronalen Aktivitätsbedingungen bestimmt. Der Historiker hat das alles zu beachten. Er findet hier neurobiotische Grundlagen für das Verhalten eines John Dean ebenso wie für die Erinnerungskonstrukte eines Karl Löwith.*

Die Stimmungen und Umstände des Augenblicks, der unterschiedliche Appell an das limbisehe System, rufen somit nicht nur Erinnerungen auf; sie gestalten sie maßgeblich mit. Das gilt für Liebende und Trauernde, für jede dramatische Veränderung der äußeren Umwelt; zum Beispiel für Taucher. Hat man doch festgestellt, daß beim Tauchen Erlerntes abgetaucht leichter erinnert wird als über Wasser. Keine Erinnerung bleibt unveränderlich; jede ist unentwegt den konstruktiven Gedächtnisoperationen ausgeliefert, ist selbst, wenn auch in Grenzen, prozeßhaft und in ständiger Umformung. «Retrieval ... is probably one of the most vulnerable points in human memory» (A. Baddeley). Je ferner die Umstände im Kontext des Erinnerns von jenen des relevanten Erlebnisses sind, desto stärker kann sich die Verformung des Erinnerten zur Geltung bringen. Doch können auch hernach wieder zugehörige Engramme aufgerufen werden, welche die Erinnerung partiell wieder in größere Nähe zum ursprünglich enkodierten Erlebnis rücken. Das Verhältnis von Zutreffendem und nicht Zutreffendem ist somit ständig im Fluß. Das Gedächtnis agiert eben situativ.

Das alles konditioniert übrigens auch den Geschichtsschreiber – jenen in der Vergangenheit so gut wie jenen in der Gegenwart. Der Zeitpunkt, zu dem er seine Federn wetzt und sich an die Arbeit begibt, ordnet, lenkt und kontrolliert seine Erinnerungen – ganz unabhängig von den speziellen Intentionen, die er mit seiner Arbeit verfolgen mag, und zusätzlich zu ihnen. Zehn Jahre früher, zehn Jahre später also, ja, einen Tag früher oder später, morgens oder abends würde derselbe auf seine Erinnerungen angewiesene Chronist unter anderen Bedingungen schreiben, folglich sein Gedächtnis anders aktiviert und er selbst über das nämliche Geschehen jeweils anderes und auf andere Weise festgehalten haben, als er es zum Zeitpunkt seines Niederschreibens tatsächlich tat. Diese Einsicht ändert nichts am Wortlaut einer vorhandenen, aus mündlicher Erinnerung geflossenen Quelle, wohl aber zeitigt sie erhebliche Konsequenzen für deren Beurteilung und Interpretation, die sich ja oftmals auf das Verständnis eines einzigen Wortes kaprizieren. Denn der situative und kontextuelle Rahmen bringt sich damit nachdrücklicher zur Geltung, als das bislang gewöhnlich angenommen wurde.

So gilt es, Abschied zu nehmen von der naiven Annahme, daß Erlebnisse voneinander abgeschirmt und als ganze ungestört im Gedächtnis überdauern. Die Gründe für das irritierende Verhalten des Gedächtnisses sind in der trotz gewaltigen Speichervermögens begrenzten Speicherkapazität des menschlichen Gehirns zu suchen. Die unerschöpfliche Fülle der Einzelheiten dieser Welt müßte das Gedächtnis, würde es alles in unveränderter Intensität zu bewahren versuchen, hoffnungslos überfordern. Es muß, wie gesagt, bewerten und auswählen und eigenständig konstruieren. Allein das Wichtigste eines Erlebnisses gilt es festzuhalten, seinen essentiellen Kern.

Doch dieses Wichtigste ist nicht für jedes wahrnehmende und erinnernde Hirn und für jeden Augenblick seiner Aktivität identisch. Die Wertung unterliegt vielmehr momentanen Dispositionen, nicht dem Geschehen als solchem, auch nicht dem bewußt steuernden Willen des wahrnehmenden Menschen, jedenfalls beiden nicht allein. Langfristig enkodiertes Wissen, so zeigen neurophysiologische Experimente, bleibt dem Gedächtnis zwar dauerhafter eingeschrieben als die jüngsten Engramme; letztere sind für Modulationen besonders anfällig. Ein gestörter Enkodierungsprozeß aber löscht Gedächtnisspuren aus; und das gilt auch für den Abruf älterer Engramme. Tritt eine Störung vor dem Abruf des Erinnerten ein, bleibt das «gespeicherte» Wissen erhalten. Folgt sie einem solchen Wiederabruf wird es ausgelöscht; das einst Gewußte ist jetzt vergessen. Damit ist experimentell nachgewiesen, daß ein Erinnerungsprozeß das vorhandene Engramm auflöst, um es anschließend neu zu konstruieren. Das «Abgerufene» ist somit nicht mehr identisch mit dem früher «Abgespeicherten»; dieses wird vielmehr im Erinnern von dem neuen Engramm überschrieben. Im Erinnerungsprozeß aber wirken dieselben verformenden Faktoren wie bei der primären Wahrnehmung und können den neuen Engrammen eingeschrieben werden. In wel-chem Umfang das geschieht, entzieht sich dem Bewußtsein und ist nicht zu steuern. Wiederholte Erinnerungen erweitern das Verformungspotential.

Diskrepanzen in den Erinnerungen derselben Person an dieselben Geschehnisse verweisen somit auf Verschiebungen in der hirninternen Bewertungsskala eingehender, bereits enkodierter oder wieder abgerufener Geschehenssignale für das memorierende Hirn. Neuerliche Wertungen treten auch beim Abruf des Gespeicherten zutage. So formen, um nur darauf zu verweisen, die diesen Abruf auslösenden Informationen, etwa das die Erinnerungen weckende «Stichwort», oder die augenblickliche emotionale Befindlichkeit des Zeugen und mit ihnen Faktoren, auf die der Zeuge nur bedingt Einfluß nehmen kann, maßgeblich seine jeweiligen Explikate. Anders motiviert oder befragt, besser oder schlechter gelaunt, fröhlich oder traurig, satt oder hungrig hätte ein Zeuge zu demselben Geschehen mehr oder weniger und anderes erinnert und expliziert.

Derartige hirninduzierte Umwertung gilt keineswegs bloß für die Erinnerungen von Zeugen; sie findet sich selbstverständlich auch – was hier nur angedeutet sei – in deren Bewertung durch Historiker oder Richter, insofern diese nämlich auf ihre eigenen Gedächtnisdaten angewiesen sind, um fremde wahrzunehmen und zu beurteilen. Ein Richter könnte freilich durch weitere Befragung Gegenerinnerungen und Paralle1erinnerungen herbeiführen und damit die Erinnerungskontrolle erleichtern. Der Historiker aber verfügt in der Regel nur über ein einziges und oftmals sehr knappes Erinnerungszeugnis ohne derartige Parallel- oder Gegenerinnerungen, die deshalb aber nicht unmöglich gewesen wären. Dieses Zeugnis hätte, obwohl vom nämlichen Erlebnis handelnd, in anderem Kontext ganz anders ausfallen können. So muß der Historiker seine Quellen auf diese anderen Möglichkeiten hin prüfen und dabei nach Indizien für jene im ersten Kapitel erwähnten Verformungsfaktoren Ausschau halten. Heisenbergs oder Löwiths Erinnerungen etwa unterlagen deutlich einer wachsenden Kanonisierung, was diese Erinnerungen nicht zutreffender machte.


* bezieht sich auf Beispiele nachgewiesener "falscher" Erinnerung in den Anfangskapiteln




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