Leseproben aus: Arno Geiger, Es geht uns gut



S. 7 f., 60 ff., 192 ff.



[1] Der Anfang des Buches (S. 7 ff.)

[2] Das Jahr 1938 ist der früheste Zeitpunkt der Familienchronik. Es ist das Jahr des "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich. Richard und Alma sind die Großeltern Philipps (vom Anfang des Buchs) (S. 60 ff.)

[3] 1962. Richards Zeit als Christlichsozialer Minister geht ihrem Ende zu. Seine Partei braucht oder will ihn nicht mehr. (S. 192 ff.)




[1]

Der Anfang des Buches (S. 7 ff.)

Montag, 16. April 2001

Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, daß die Toten uns überdauern. Kurz legt er den Kopf in den Nacken. Während er die Augen noch geschlossen hat, sieht er sich wieder an der klemmenden Dachbodentür auf das dumpf durch das Holz dringende Fiepen horchen. Schon bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, daß am Fenster unter dem westseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem Zögern warf er sich mit der Schulter gegen die Dachbodentür, sie gab unter den Stößen jedesmal ein paar Zentimeter nach. Gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter. Nach einem kurzen und grellen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Gestöber auslöste, stand die Tür so weit offen, daß Philipp den Kopf ein Stück durch den Spalt stecken konnte. Obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfaßte er mit dem ersten Blick die ganze Spannweite des Horrors. Dutzende Tauben, die sich hier eingenistet und alles knöchel- und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins, Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger (Tbc? Salmonellen?). Er zog den Kopf sofort wieder zurück, die Tür krachend hinterher, sich mehrmals vergewissernd, daß die Verriegelung fest eingeklinkt war.

Johanna kommt vom Fernsehzentrum, das schiffartig am nahen Küniglberg liegt, oberhalb des Hietzinger Friedhofs und der streng durchdachten Gartenanlage von Schloß Schönbrunn.

Sie lehnt das Waffenrad, das Philipp ihr Vorjahren überlassen hat, gegen den am Morgen gelieferten Abfallcontainer.

- Ich habe Frühstück mitgebracht, sagt sie: Aber zuerst bekomme ich eine Führung durchs Haus. Na los, beweg dich.

Er weiß, das ist nicht nur eine Ermahnung für den Moment, sondern auch eine Aufforderung in allgemeiner Sache.

Philipp sitzt auf der Vortreppe der Villa, die er von seiner im Winter verstorbenen Großmutter geerbt hat. Er mustert Johanna aus schmal gemachten Augen, ehe er in seine Schuhe schlüpft. Mit Daumen und Zeigefinger schnippt er beiläufig (demonstrativ?) seine halb heruntergerauchte Zigarette in den noch leeren Container und sagt:

- Bis morgen ist er voll.

Dann stemmt er sich hoch und tritt durch die offenstehende Tür in den Flur, vom Flur ins Stiegenhaus, das im Verhältnis zu dem, was als herkömmlich gelten kann, mit einer viel zu breiten Treppe ausgestattet ist. Johanna streicht mehrmals mit der flachen Hand über die alte, aus einer porösen Legierung gegossene Kanonenkugel, die sich auf dem Treppengeländer am unteren Ende des Handlaufs buckelt. - Woher kommt die? will Johanna wissen.

- Da bin ich überfragt, sagt Philipp.

- Das gibt's doch nicht, daß die Großeltern eine Kanonenkugel am Treppengeländer haben, und kein Schwein weiß woher.

- Wenn allgemein nicht viel geredet wird -.

Johanna mustert ihn:

- Du mit deinem verfluchten Desinteresse.

Philipp wendet sich ab und geht nach links zu einer der hohen Flügeltüren, die er öffnet. Er tritt ins Wohnzimmer. Johanna hinter ihm rümpft in der Stickluft des halbdunklen Raumes die Nase. Um dem Zimmer einen freundlicheren Anschein zu geben, stößt Philipp an zwei Fenstern die Läden auf. Ihm ist, als würden sich die Möbel in der abrupten Helligkeit ein wenig bauschen. Johanna geht auf die Pendeluhr zu, die über dem Schreibtisch hängt. Die Zeiger stehen auf zwanzig vor sieben. Sie lauscht vergeblich auf ein Ticken und fragt dann, ob die Uhr noch funktioniert.

- Die Antwort wird dich nicht überraschen. Keine Ahnung.

Er kann auch den Platz für den Schlüssel zum Aufziehen nicht nennen, obwohl anzunehmen ist, daß ihm der Aufbewahrungsort einfallen würde, wenn er lange genug darüber nachdächte. Er und seine Schwester Sissi, der aus dem Erbe zwei Lebensversicherungen und ein Anteil an einer niederösterreichischen Zuckerfabrik zugefallen sind, haben in den siebziger Jahren zwei Monate hier verbracht, im Sommer nach dem Tod der Mutter, als es sich nicht anders machen ließ. Damals war das Ministerium des Großvaters längst in anderen Händen und der Großvater tagelang mit Wichtigtuereien unterwegs, ein Graukopf, der jeden Samstagabend seine Uhren aufzog und dieses Ritual als Kunststück vorführte, dem die Enkel beiwohnen durften. Grad so, als sei es in der Macht des alten Mannes gestanden, der Zeit beim Rinnen behilflich zu sein oder sie daran zu hindern.

Philipp betrachtet zwei Fotos, die links und rechts der Pendeluhr arrangiert sind, ebenfalls über dem Schreibtisch. Johanna öffnet derweil den Uhrenkasten, um hineinzuschauen (wie eine Katze in eine finstere Stiefelöffnung schaut). Hinterher zieht sie am Aufbau des Schreibtischs kleinere Schubladen heraus.

- Wer ist das? fragt sie zwischendurch.

- Das rechts ist Onkel Otto.

Zum linken Foto sagt Philipp nichts, Johanna muß auch so Bescheid wissen. Aber er nimmt das Foto von der Wand, damit er es aus der Nähe betrachten kann. Es zeigt seine Mutter 1947, elfjährig, abseits der Dreharbeiten zum Film Der Hofrat Geiger, wie sie der Donau beim Fließen zusieht. Ein Ausflugsboot steuert flußabwärts, hinter Dieselqualm. Im Off singt Waltraud Haas zur Zither Mariandl-andl-andl.


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[2]

Das Jahr 1938 ist der früheste Zeitpunkt der Familienchronik. Es ist das Jahr des "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich. Richard und Alma sind die Großeltern Philipps (vom Anfang des Buchs) (S. 60 ff.)

Samstag, 6. August 1938

Er befindet sich im Dunkelsteiner Wald, tastet mit aufgestellten Lichtern die zurückweichenden und sich wieder aufbäumenden Straßenränder ab, an jeder Kreuzung auf dem brüchigen Fahrdamm rangierend, er wüßte gerne, wohin die Hinweisschilder gekommen sind und wer die wenigen vorhandenen Schilder verdreht hat und wofür das Bezahlen von Steuern gut sein soll, wenn nicht einmal auf die Beschilderung der Straßen Verlaß ist, und ob unter den neuen Herren vielleicht doch alles besser wird, breitere Straßen, hellerer Mond, bessere Orientierung. Auch die Grenzen der Phantasie haben sich unter dem Druck der Übermacht verschoben: Das große Reich der Ordnung und Gerechtigkeit hebt an. Na ja, denkt er, vorstellbar ist vieles, auch das Unwahrscheinliche, doch muß man von dem ausgehen, was wahrscheinlich ist, weshalb er an die nationalsozialistische Verheißung nicht recht glauben kann. Von glauben wollen ist noch nicht einmal die Rede. Klüger wäre es (zumindest träte der gewünschte Effekt verläßlicher ein), wenn er sich so schnell nicht wieder zu einer derartigen Zusammenkunft überreden ließe. Wobei: Ablehnen wäre auch schwer möglich gewesen aufgrund der Dienstreise und der zufälligen Anwesenheit in der Gegend. Die glücklose Suche nach einer halbwegs plausibel klingenden Ausrede hat ihn verlegen gemacht, so daß er sich kurzerhand zusagen hörte. Selbstverständlich werde er, allein aus Verbundenheit mit den werten (bedauernswerten) -.

(Stille.)

- Und wo genau soll das stattfinden?

Also ist er den Vertretern des niederösterreichischen Bauernbundes nach Ratzersdorf gefolgt, einem Flecken nördlich von Sankt Pölten, wo behördliche Störungen nicht zu befürchten sind, wie es hieß. Und alles wegen Geldangelegenheiten, um die Versorgung der Familien jener christlichsozialen Gesinnungsgenossen sicherzustellen, die seit dem Einmarsch in Dachau angehalten werden und von denen niemand vorherzusagen weiß, wann sie wieder freikommen. Richard versprach einen namhaften Betrag, und weil er dank dieser Zusage abkömmlich war, hielt ihn niemand zurück, als er sich verabschiedete, noch ehe er sein Bier getrunken hatte. Das war ihm dann auch wieder nicht recht. Wenigstens ein paar höfliche Einwände hätte er gerne gehört.

Jetzt irrt er seit gut einer halben Stunde durchs nächtliche Land, zwischen kleinsten, in Feldschneisen geduckten Ansiedlungen ohne jegliche Straßenbeleuchtung (was für ein Marktpotential, durchfährt es ihn). Wie Hasen springen die Häuser durchs Licht und zurück in die Deckung, wo man die Hand vor Augen nicht sieht. Von Bewohnern kein Zeichen, keine Menschenseele, alle im Bett. Das Kreuz schmerzt Richard, so spannt er den Oberkörper über den Lenker, den Hals langgestreckt, damit der Blick hinter den hastigen Scheinwerfern nicht zurückbleibt. Als an einer größeren Kreuzung wieder nur ein blecherner Pfeil mit Krems, aber nicht Sankt Pölten aus der Schwärze durchs Licht ruckt, nimmt er entnervt den Weg dorthin, weshalb er Wien erst kurz vor Mitternacht erreicht.

Lediglich Frieda ist noch auf, das Kindermädchen (das Hausmädchen, das Mädchen für alles). Sie sitzt in der Küche an dem mit Blech überzogenen Arbeitstisch und schreibt an einem Brief. Während sie ihre Schleifen malt, murmelt sie jedes Wort Silbe für Silbe vor sich hin. Richard, am Treppenabsatz, den Hut in der Hand, versucht mit schräggeneigtem Kopf aus dem in die Diele dringenden Gemurmel einzelne Wörter herauszulösen. Er horcht angestrengt, dabei wird ihm bewußt, daß man Wünsche haben kann, die einander direkt widersprechen: Den Wunsch, Alma nicht zu betrügen, und den Wunsch, in die Küche zu gehen und das Kindermädchen aufzufordern, den Brief später zu Ende zu schreiben. Er besinnt sich darauf, wie Frieda am Nachmittag vor seiner Abreise im Garten eine Decke ausgebreitet und sich in die Sonne gelegt hat, um im Freien den Schlaf nachzuholen, der ihr in der Nacht zuvor entzogen worden war. Sie schmierte sich mit Creme ein, und solange sie damit beschäftigt war, hatte Richard sie betrachtet, ihre kurzen dunkelblauen Hosen, das bunte, quergestreifte Ruderleibchen und das weiße, auf beiden Seiten verknotete Tuch am Kopf. Vorne ließ das Tuch einen Teil der roten Haare sehen, den Stolz der ganzen Person, auf der rechten Seite schaukelten die verknoteten Enden des Tuches vor Friedas kräftigen Brüsten. Jetzt, in der Erinnerung, kommen ihm ihre Brustwarzen wie runzlige Stielaugen vor, die ihm mit seltsamem Grimm über Tage hinweg und auf Umwegen über Ybbs und Ratzersdorf nachsehen bis hierher.

Was geschieht? Was in den letzten Monaten viel zu oft geschehen ist: Daß sich der Vizedirektor der städtischen Elektrizitäts-Werke mit einer Hutblume unmöglich macht, Dr. Richard Sterk, Ende dreißig, doch kraft seines Amtes und seiner Würde ein gereifter Mann, der um sein Versagen weiß und trotzdem nicht in der Lage ist, dem Ganzen ein Ende zu machen. Er kommt von diesem Mädchen nicht los, obwohl es allerhöchste Zeit wäre. Sooft er den Beschluß faßt, daß es das definitiv letzte Mal sein wird oder gerade ist oder war, so oft sehnt er den Augenblick herbei, an dem er erneut mit Küssen über diese kinderspeckige Weinviertler Molligkeit herfällt. Er will es und will es gleichzeitig nicht. Bereits mit dem warmen, rauhen Kleid in der einen Hand, wenn er unter Friedas Achseln riecht, wenn er mit der anderen Hand die Speckröllchen streichelt, dort, wo der Büstenhalter einschneidet (der rote Büstenhalter, der auf der Vorderseite heller ist als auf der Rückseite): Wenn er diesen BH öffnet und Friedas weiße Brüste herausquellen und Frieda ihm währenddessen die Namen ihrer zwölf Geschwister psalmodiert: Da schwört er dem Mädchen heftig ab, so wahr ich hier stehe, um es kurz darauf ebenso heftig zu nehmen. Diesmal dreht er sie herum, sie beugt sich bereitwillig nach vorn und die Sommernacht und das Zirpen der Heuschrecken und die Dünste der Küche und das Knallen einer Fliege am gekippten Fenster - und - und - die wie von einer obszönen Feuchtigkeit glänzenden Ausläufer von Friedas durchgebogenem, durchgedrücktem Rücken im Licht der Deckenlampe und das Erlöschen der Glanzpartikel, als Richard sich nochmals nach vorn beugt, um Friedas dicke Brüste zu berühren. Dann, mit den Händen ihre Hinterbacken auseinander- und hochschiebend, während Frieda in ihr rechtes Handgelenk beißt, weil ihr gerade ein Stöhnen ausgekommen ist, stößt er hastig in diese wohlig warme, hinter dem borstigen Haarbüschel versteckte Höhle hinein, von alles überflutender Lust getrieben und von nicht minder heftiger Reue geplagt. Mit dem beunruhigenden Unterschied, daß die Lust hinterher rasch abklingt, die Reue jedoch bleibt. Die Reue kommt mit, als Richard sich mit angehaltenem Atem neben Alma ins Bett schiebt. Sie nimmt nicht ab mit dem Rasierschaum, den Richard sich in der Früh aus dem Gesicht schabt, und sie bohrt in seiner Magengrube, während er im Amt telefonisch mitteilt, daß er an diesem Tag nicht kommen werde, weil er die Dienstreise genausogut daheim aufarbeiten könne. Das trifft sogar zu, ist ihm normalerweise trotzdem kein hinreichender Grund für eine englische Woche. Vielmehr hat er beschlossen, diesen Samstag mit Alma und den Kindern zu verbringen und nebenher einen Weg ausfindig zu machen, wie unauffällig beendet werden kann, was nie hätte beginnen dürfen. Er will nicht den Rest seines Lebens in solcher Unordnung verbringen, das fällt ihm nicht im Traum ein. Oft empfindet er eine solche Abscheu gegen sich, und weil er Abscheu gegen sich empfindet, auch eine Abscheu gegen Frieda, daß es ihn Überwindung kostet, sich im eigenen Haus von einem Zimmer ins nächste zu bewegen. Ich darf kein Doppelleben führen, ermahnt er sich beim Mittagessen. Das wiederholt er einige Male zur Bekräftigung, skandiert es mit je einem Löffel Frittatensuppe: Ich darf kein Doppelleben führen. Aber am Ende weiß er nicht, ob ihn der Gedanke schreckt oder - noch schlimmer - ob es ihm schmeichelt, daß ihm dieses Doppelleben seit fünfeinhalb Monaten, seit Ende Februar, besser (wenn auch nicht leichter) von der Hand geht, als er es sich zugetraut hätte.

Bisher tut Alma, als lebe sie ohne Verdacht. Richards spätes Heimkommen am Vortag hat sie gar nicht angesprochen, sich allerdings auch nicht nach dem Verlauf der Dienstreise erkundigt, was ihn doch kränkt. Es scheint niemanden allzuhart zu treffen, wenn er ein paar Tage außer Haus verbringt. Im Moment, wie Alma es nennt, ist er in der Tat nichts anderes als der Ernährer und Haushaltsvorstand. Und außerdem der Liebhaber des Kindermädchens. Kann gut sein, daß Alma mehr als nur eine Vermutung in diese Richtung hat, auch wenn sie nach außen hin vorgibt, die Zeichen zu mißdeuten. Neulich kreidete sie ihm an, neben der Arbeit zuwenig Gestaltungskraft für die Familie aufzubringen, ständig sei er abgekämpft und müde, ohne Ringe unter den Augen würde sie ihn gar nicht mehr erkennen. Sie erkundigte sich nach seinem Schlaf, ohne Hintergedanken, wie ihm schien, sehr fürsorglich. Bei seinen bekannt mäßigen Ansprüchen auf diesem Gebiet muß Richard trotzdem befürchten, daß ein Denkprozeß in Bewegung gekommen ist. An der Arbeit allein kann seine Übermüdung nicht liegen, da wird auch Alma sich ihren Reim machen. Wann gab es bei ihm je Gähnen am Nachmittag? Und Ringe unter den Augen? Schlafstörungen zählen nicht zu seinen Sorgen, die nächtliche Hitze scheuert nicht an seinen Nerven, die Verdauung funktioniert ohne jeden Anstand, was bei der gemischten Kost, die er aus Rücksicht auf die Kinder nimmt, schon etwas heißen will. Auf die Sorgen im Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen kann er auch nicht ewig alle Schuld schieben, wo doch schon jetzt etliche Anhaltspunkte darauf schließen lassen, daß vorerst nicht einmal die Absicht besteht, ihn von seinem Posten zu entfernen.

Am 13. März, dem Tag nach Beginn des Einmarsches, einem Sonntag, wurde Richard morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und auf das Kommissariat in der Lainzer Straße verbracht. Man forderte ihm Gürtel und Schnürsenkel ab, beides bekam er nicht zurück, als er am späten Nachmittag in einem Taxi, das er selbst bezahlen mußte, in das Polizeigefängnis auf der Elisabethpromenade überstellt wurde. Er verbrachte mehrere Stunden in Gewahrsam, wenn man so nennen will, was er als Gefährdung empfunden hat, in einer katastrophal überfüllten Zelle, wo es ununterbrochen Streit gab. Kommunisten stritten mit Christlichsozialen und Christlichsoziale mit Sozialdemokraten und Sozialdemokraten mit Kommunisten um die Sache mit dem Gewissen, auf dem irgendwer das liebe Vaterland ja haben müsse. Am meisten beunruhigte Richard, daß die Männer sich größtenteils im Besitz sowohl ihrer Gürtel als auch ihrer Schnürsenkel befanden, wenn bei manchen auch Nase und Lippen und weniger sichtbare Körperteile Beschädigungen aufwiesen. Augenpartien erblühten als Veilchen, in Taxitüren eingeklemmte Finger färbten sich schwarz. Wo nicht gestritten wurde, war die Stimmung gedrückt, und Richard einer der Gedrücktesten, weil er keine Bürgerkriegserfahrung hatte und im Gegensatz zu den meisten der Anwesenden mit derlei Situationen völlig unvertraut war. Mit zunehmendem Schrecken richtete er sich auf seine erste Nacht im Arrest ein, die dann aber doch nicht stattfand, weil die Aktion wenigstens in seinem Fall vor allem der Einschüchterung diente. Nach einer kurzen nächtlichen Befragung durch reichsdeutsche Beamte, denen Illegale zur Seite standen, unterschrieb er ein im Stapel aufliegendes, mehrseitiges Gelöbnis, dessen Inhalt ihm dahingehend verdeutscht wurde, daß man von ihm erwarte, sich politisch nicht mehr zu betätigen. Als ob er sich je ernsthaft politisch betätigt hätte.


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[3]

1962. Richards Zeit als Christlichsozialer Minister geht ihrem Ende zu. Seine Partei braucht oder will ihn nicht mehr. (S. 192 ff.)

Samstag, 29. September 1962

Der Regen hat inzwischen aufgehört. Noch laufen Rinnsale durch die Furchen, die sich das Wasser im Schotter der Auffahrt gebahnt hat. Aber im Westen, woher die Wolken gekommen sind, klart es bereits wieder auf. Zaghaft sickert Licht durch vereinzelte Wolkenlöcher. Gleich werden dort oben die Nähte platzen.

- Arschlöcher. Die können mich mal alle.

Er steigt die Vortreppe hoch. Ein modriger Geruch nach k.u.k.-Mörtel entströmt der feuchten Fassade. Er lehnt den vom Kellner geliehenen Schirm neben die Haustür und sperrt die Tür auf. In der unsinnigen Hoffnung, daß jemand bei seinem Eintreten aufspringen und ihm den Mantel abnehmen wird, geht er die Zimmer des Untergeschosses ab. Ein Topfenkuchen, der noch in die Backform gespannt ist, steht zum Auskühlen auf der Anrichte in der Küche. Weitere Zeichen von Almas Anwesenheit findet er nicht.

- Alma! --- Alma!

Er hört seine Frau aus dem oberen Stockwerk antworten, unverständlich: Ich bin hier! sollte das wohl heißen. Was er hingegen sehr gut verstanden hat, ist, daß Alma es nicht der Mühe wert findet, seinetwegen ihre Zimmertür zu öffnen.

Er wirft seine Aktentasche auf den Schreibtisch im Herrenzimmer. Auf dem Weg zurück in die Diele streift er die Schuhe ab. Als er mit der linken Socke in die selbstgezogene Wasserspur tritt, kommt ihm der Einfall, ein heißes Bad zu nehmen, ehe er in eine trockene Garnitur schlüpft. Vielleicht ist ein Bad ein guter Anfang, vielleicht gelingt es ihm in der Badewanne, zur Ruhe zu kommen oder sich wenigstens an einen antriebslosen Zustand heranzuführen, der es ihm erleichtern wird, die neue Situation zu akzeptieren. Vielleicht kommt ihm das Bad auch für den Nachmittag zugute, für den sich Ingrid und Peter angekündigt haben. Sie wollen Möbel für das Haus holen, das sie vor vier Wochen erstanden haben, eine vorhersehbar strapaziöse Angelegenheit, vor der sich Richard am liebsten drük-ken würde - die beiden haben ihren eigenen Stil, dem muß man gewachsen sein.

Entspann dich, fordert Alma mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit. Und er gibt regelmäßig zur Antwort: Ich bin weniger entspannt als andere, weil ich Verantwortungsgefühl besitze.

Er geht nach oben ins Bad und öffnet die Wasserhähne. Er wartet, bis heißes Wasser in den Rohren ist, dann verschließt er den Abfluß, nimmt die Flasche mit dem Schaum aus dem Schrank und gießt mit der Verschlußkappe etwas von der tiefgrünen Flüssigkeit in die Wanne. Bis die Wanne vollgelaufen ist, hat er zehn Minuten Zeit. Er geht hinaus, rechts über den Flur, dort klopft er sacht an Almas Schlafzimmertür. In dem von zwei Fenstern erhellten Raum liest Alma ein Buch, halb liegend, halb sitzend, mit dem Kopf zum Fußende des Bettes, weil sie dort das bessere Licht hat.

- Schon zurück? Ich staune.

- Ausnahmsweise.

- So kenn ich dich gar nicht.

Es stimmt, eigentlich ist es undenkbar, daß er sieben Wochen vor einer Nationalratswahl, und sei's an einem Samstag, nur kurz aus dem Haus geht.

- Ich wollte noch ins Ministerium und in Ruhe ein Memorandum über den Assuan-Hochdamm durcharbeiten. Aber der Regen hat mich nach Hause getrieben.

- Wohl ein Wetter, das sich im Tag geirrt hat.

Alma heftet ihre Augen auf Richard. Er fühlt sich nicht wohl unter ihrem Blick, mag sein, weil ihm bewußt ist, daß dies der Moment wäre, ihr zu sagen, daß die Partei ihn nicht mehr benötigt. Er sollte ihr sagen, daß er bald öfters zu Hause sein wird. Er sollte ihr sagen, daß ihn die Situation an seinen Cousin Leo erinnert, der bis 1953 in Kriegsgefangenschaft war und sich seine Rechte als Hausherr nach der langen Abwesenheit mühsam zurückerobern mußte. Er sollte sagen, daß er sich ein Bad einläßt, um die vage Idee, die er vom Privatleben hat, aufzufrischen. Er sollte so vieles sagen, und - durch ein plötzliches Entsetzen ahnt er die Wahrheit - vor allem sollte er wieder anfangen, sich Alma mitzuteilen.

- Von einer Kellnerin im Cafe Dommayer habe ich erfahren, daß das schlechte Wetter von den Satelliten kommt, die ins All geschossen werden und die Sonne nicht durchlassen. Vielleicht wird die Donau wieder einmal zufrieren.

Alma nickt. Offenbar hat Richard verlernt, etwas so zu sagen, daß andere lachen. Er tritt zum Fenster, das gegen den hinteren Garten geht. Die Gardinen sind zur Seite geschoben. Durch die Wasserschlieren blickt er auf die Obstbäume, die seit einigen Tagen Laub verlieren. Dunst steht in Hüfthöhe über dem Rasen. Richards Blick verschwimmt für einen Augenblick, gleichzeitig befällt ihn das Grauen, weil leerer Raum ihn umgibt, mehr leerer Raum, als seine Vorliebe für Respekt und Distanz erfordert. So klein dieses Land ist, für das er seine Kräfte aufwendet (oder aufgewendet hat), und so überschaubar das Haus und der Garten, die ihm gehören, ihm ganz allein: Alles ist immer noch groß genug, sich darin zu verlieren.

- Was liest du? fragt er.

- Nachsommer.

- Von wem ist es?

- Stifter.

- Adalbert Stifter, aha.

- Es ist eins der Bücher, die wir von Löwys bekommen haben. Es steht ein Datum drin, Weihnachten 1920, und auch der Preis, 24 Kronen.

- Ist das Buch spannend?

- Wenn man etwas für Seelen- und Landschaftsbilder übrig hat.

- Es heißt, die bedeutendste Landschaft ist das menschliche Gesicht.

- Gleich nach Österreich, das bekanntlich der Himmel auf Erden ist.

Klar, er weiß, sie nimmt ihn auf den Arm. Aber gut. Auch wenn es bis dorthin ein weiter Weg ist, mit den Jahren gewöhnt man sich an so manches.

- Ein friedliches, ein freundliches und schönes Land.

Alma streckt sich, sie dreht sich auf die Seite, Richard zugewandt. Sie trägt ein hellblaues, busenbetontes Kleid mit Karreeausschnitt. Ihrer Stimme ist anzuhören, daß sie das Kinn in die Hand gestützt hat.

- Vergeßlich fehlt in deiner Aufzählung. Ein Land, in dem man bei der Einreise die Vergangenheit abgeben muß oder darf, je nach Lage der Dinge.

(In dem man mit Vergessen bestraft oder belohnt wird, je nachdem, von welcher Seite man kommt, von links oder von rechts, wie in dem Weltspiel, mit dem Peter endgültig bankrott gemacht hat.)

Almas Worte sinken in Richard hinein, träge wie Ascheflocken. Er setzt sich auf die Bettkante, öffnet den seitlichen Reißverschluß an Almas Kleid und schiebt seine Hand hinein, über der Taille. Almas Gesicht verändert sich nicht. Ihre Atmung verändert sich nicht. Sie sieht aus wie jemand, der eine kurze Rast einlegt, wie jemand, der ohne Erwartung mit der Eisenbahn fährt. Sie bewegt sich in ihrer eigenen Wirklichkeit, die sich Richard nicht erschließt, in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Sie entzieht sich Richard, indem sie sich seine Berührungen gefallen läßt.

Wie noch selten kommt Richard zu Bewußtsein, daß der Großteil des Glücks, das in diesem Leben für ihn bestimmt war, in Alma verkörpert ist und daß es dort in einer für ihn nicht konvertierbaren Währung lagert und verrottet. Doch statt seine Hilflosigkeit zu bekennen oder schlicht zu sagen, daß er seine Frau nach wie vor liebt, nach all den Jahren, und daß es ihm nicht schwerfällt, sich das einzugestehen, fragt er:

- Wie kommt es eigentlich, daß du dich mir seit Monaten nicht mehr genähert hast?

Er starrt in Richtung des nach Süden gelegenen Fensters. Er kratzt sich am Kopf. Er weiß, er ist am Ende mit seinem Latein.

- Aber letzten Sonntag war doch, stellt Alma fest, mit einem Kopfschütteln, mehr amüsiert als unruhig angesichts eines Problems, das ihr unwirklich vorkommen muß.

Richard versucht sich zu erinnern, und tatsächlich, es fällt ihm wieder ein, Sonntag war doch, unten im Wohnzimmer, auf der Ottomane. Er wendet Alma das Gesicht zu, reuig, er weiß, daß er es falsch angepackt hat und jetzt nichts mehr erreichen wird.

- Es kommt mir halt so vor.

- Was darauf schließen läßt, daß du, sowie du deine Hosen anziehst, mit dem Kopf schon wieder bei der Arbeit bist.

Sie blicken einander an. Richard fällt ein, was Ludwig Klages vor mehr als zwanzig Jahren behauptete: Wenn in einer Ehe die beiden Partner sexuell übereinstimmen, ist alles andere weniger wichtig. Er und Alma hörten Klages gemeinsam bei einem Vortrag im Bösendorfersaal, und Richard betrachtete es von da an als Garantie, daß Alma und er immer eine gute Ehe haben würden. Was ihm an Alma von Anfang an gefallen hat, war unter anderem, daß sie seine tiefsitzenden Befürchtungen in bezug auf das weibliche Geschlecht innerhalb weniger Wochen widerlegte. In seiner Jugend hätte er nie zu hoffen gewagt, je einer Frau mit Bildung zu begegnen, die er nicht jedesmal unter Anwendung von Rhetorik würde dazu bringen müssen, mit ihm ins Bett zu gehen. Sämtliche Beobachtungen im Familien- und Bekanntenkreis hatten in diese Richtung gedeutet.

Er sagt:

- Mir war in letzter Zeit, als bedeute es dir nichts mehr.

- Es hat mir in der Tat schon mehr bedeutet.

Sie schaut in ihr Buch, als wolle sie sich vergewissern, daß sie die zuletzt gelesene Stelle auf Anhieb wiederfindet.

- Ich verstehe, sagt Richard.

Er stemmt sich gekränkt vom Bett hoch. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellt er sich zurück ans Fenster. Er weiß, wenn er jetzt nach den Ursachen fragt, wird sie ihm ausweichend antworten, mit Verweis auf ein Buchzitat, oder Dinge sagen, die ihm bekannt sind, von denen er es trotzdem nicht mag, daß man sie ihm ins Gedächtnis ruft. Wie wenig anregend die Vorstellung ist, einen Mann mit dritten Zähnen zu küssen. Gut, das hat sie ihm vor einigen Jahren gesagt, das weiß er jetzt, das merkt er sich, sie hat es ihm gesagt, er möchte es nicht noch mal hören.

- Vielleicht wird alles irgendwann langweilig, gibt er zu bedenken. Alma zieht den Reißverschluß an ihrem Kleid zu.

- Alles? will sie wissen.

-Ja, wenn man es nur lange genug macht. Auch die Arbeit.

Er ist nervös. Ärger. Scham. Angst? Verbitterung? Nicht das erste Mal muß er sich sagen, daß Alma eine harte, selbstbewußte Frau geworden ist. Sie kann viel einstecken, denkt er. Nicht gut Kirschen essen mit ihr. Ihr schüchternes Lächeln, als sie Anfang zwanzig war, hat er schon lange nicht mehr gesehen. Ob es diese Dinge noch gibt?

- Nur ein Idiot wirft tagein, tagaus seinen Oberkörper vor und zurück, ohne daß es ihm eines Tages zu dumm wird.

Alma lacht stirnrunzelnd:

- Ein seltsames Bild.

Und unmittelbar darauf, in einem anderen Tonfall, ohne den geringsten Verdacht, das geringste Interesse an dem, worauf er hinauswill:

- Du solltest nach deinem Bad sehen.



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