Leseproben aus: Ulrich Grober, Vom Wandern



S. 127 f., 312



[1] Aus dem Kapitel "Mit Kindern" (Wanderung durch die Schwäbische Alb, S. 127 f.)

[2] Aus den Schlussbetrachtungen: "Ankommen. Kunst des Wanderns – Lebenskunst (S. 312)






[1]

Aus dem Kapitel "Mit Kindern" (Wanderung durch die Schwäbische Alb, S. 127 f.)

Die Schwäbische Alb ist ein Land der Burgen und der Höhlen. Für Kinder sind beides starke Orte. Burgen hatten wir auf unserem Weg fast immer vor Augen. Meist thronten sie am anderen Ufer. Verwegene Höhenburgen, auf schmale Felsnasen oder winzige Felssockel an schwindelig abgründigen Steilhängen hingeklotzt. Die Schildmauern, der Bergfried aus mächtigen Buckelquadern aufgetürmt, trutzig, uralt und zumeist stark verfallen. Auf Burg Derneck, die zu einem Wandererheim umgebaut ist, hatten wir angeklopft und nach Quartier im Matratzenlager gefragt. Eine Nacht in einer Burg – das wär′s gewesen. Schaurig schön, mit Fackelschein, Fledermäusen, Schlossgeist und weißen Frauen. Leider! Alles mit Pfadfindern besetzt. Zur Entschädigung planen wir die Ausspähung der etwas flussabwärts gelegenen Schülzburg. Bei der Annäherung werden wir gewahr, dass sie nur noch Ruine ist. Wer hat sie zerstört? Ein Feuer, lesen wir auf der Tafel. Wer hat es angezündet und die Burg in Brand gesteckt? Und warum wohl? Der Pfad führt durch dichten Wald bergan auf eine Felsterrasse. Behutsam schleichen sich die Kinder an die Mauer heran, kauern sich an die grauen Quader, bilden eine Räuberleiter, um durch die vergitterten Fensteröffnungen zu spähen. Die Geschossdecken sind eingestürzt, die Innenmauern kaum noch zu sehen. Der Burghof ist von grünem Wildwuchs überwuchert. Die Späher halten Ratschlag. Ihr Pfad verschwindet im Dickicht. Endet er am geheimen Einstieg zu dem unterirdischen Gang, dem letzten Fluchtweg der Burgbewohner? Führt er zu einer Zugbrücke, die über den Graben einen Zugang in das Innere der Burg öffnet? Vielleicht bringt er uns in den Palas, den Wohnturm und Festsaal der edlen Ritter und vornehmen "frouwen"? Der Spähtrupp macht sich auf den Weg ...

Was bedeutet, was symbolisiert ein Kastell? Ist es ein Sinnbild für das innere Reich, das sich in der kindlichen Seele gerade gründet? Das unangreifbar, unantastbar sein soll, das niemand ohne Erlaubnis betreten darf und das doch so oft verletzt wird? Von Erwachsenen, die einen mit Worten, mit Gesten, mit Handlungen demütigen. Von anderen Kindern, die einen quälen, weil sie meinen, dass Angriff die beste Verteidigung der eigenen unsicheren Festung sei. Ist dann der Ritter immer da? Das Symbol für die eigenen Abwehrkräfte: der innere Krieger, der die Grenzen des eigenen Territoriums mit starker Hand und sicherem Auge gegen jeden Übergriff, seine Autonomie gegen jede Invasion verteidigt und jedem Eindringling den ersten und härtesten Widerstand leistet?


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[2]

Aus den Schlussbetrachtungen: "Ankommen. Kunst des Wanderns – Lebenskunst (S. 312)

Die Zeit einer Wanderung ist eine Phase weitgehender persönlicher Autonomie. Niemand gibt Ziel oder Richtung vor. Gangart und Pausen bestimmt man selbst. Keine Ampel zwingt zum abrupten Stillstand oder beschleunigten Weitergehen. Kein Laden weit und breit, wo etwas für den kleinen Hunger zwischendurch zu haben ist. Das zwingt zur eigenen, möglichst präzisen Bestimmung der Grundbedürfnisse. Man macht die Erfahrung, mit Wenigem auskommen zu können und in dieser Situation Außerordentliches zu vollbringen und besonders intensiv zu erleben. Die Erfahrung von Autarkie hat eine stärkende und befreiende Wirkung. Sie reicht tief in den Alltag hinein: Du bist, wenn du nur deine Kräfte mobilisierst, jederzeit Herr – oder Herrin – der Lage. An die Stelle der fremdbestimmten Steuerung der Bewegungen und der Abhängigkeit von kurzfristiger Rundumversorgung tritt die "Selbstsorge".

Um dieses auf Platon zurückgehende Konzept kreist die Philosophie der Lebenskunst. Ein wichtiges Element ist die "Selbstmächtigkeit". Den Begriff, eine Übersetzung des griechischen "autárkeia", definiert Wilhelm Schmid¹ als "Macht über sich selbst" und bezeichnet sie als "Grundstock für ein freies Leben". Gebildet und erhalten wird sie wie jede Fähigkeit durch Übung. Das Fasten wäre eine klassische Übung der Selbstmächtigkeit, auch der Sport. Entscheidend ist das Moment der freiwillig auferlegten Askese. Für eine Kunst des Wanderns bedeutet das: Die Widrigkeiten einer Wanderung (ob in der Antarktis oder im Harz), die damit unweigerlich verbundenen körperlichen Strapazen, die Unbilden der Witterung, auch die Phasen der Langeweile, sind nichts, was man umgehen oder ausschalten sollte. Sie zu meistern, gehört zur Einübung von Selbstmächtigkeit.

¹ Wilhelm Schmid, deutscher Philosoph, *1953


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