Leseproben aus: Katharina Hacker, Die Habenichtse



S. 80 ff., 218 ff.



[1] Isabelle hat Jakob geheiratet, aber Andras, ihr Kollege aus der Berliner Werbeagentur, kann sie nicht vergessen. Auch wenn er mit der Galeristin Magda eine Beziehung beginnt. (S. 80 ff.)

[2] Neben Isabelles und Jakobs Londoner Wohnung wohnt eine Familie in prekären Verhältnissen. Die kleine Sara ist allein zu Hause; Dave ist ihr älterer Bruder, Polly ihre Katze (S. 218 ff.)





[1]

Isabelle hat Jakob geheiratet, aber Andras, ihr Kollege aus der Berliner Werbeagentur, kann sie nicht vergessen. Auch wenn er mit der Galeristin Magda eine Beziehung beginnt. (S. 80 ff.)


Ein Vogel saß auf der Fensterbank, flog auf, taumelte gegen die Scheibe und verschwand unbeschadet. Andras ging ins Badezimmer, blickte in den Spiegel, der voller kleiner, weißer Flecken war, Rasierschaum, Zahnpasta, er überlegte, sich ein zweites Mal zu rasieren und betrachtete das gestreifte Hemd, dessen Streifen sich, als er die Arme hob, verschoben, rosa, hellblau, grün, dachte an diese wiedererwachte Eitelkeit, die ihn dazu brachte, Tag für Tag etwas anderes anzuziehen, eine andere Kombination von Farben auszuprobieren, Leder- oder Jeansjacke, verschiedene Schuhe, halbhohe Stiefel, der Schaft offen. Er fuhr oft in den Westen, zu dem Kinderbuchverlag in der Kantstraße, zur Galerie Alto in der Schloßstraße, Magda, die Galeristin, rief fast täglich an, brauchte Flyer, Visitenkarten, einen Katalog, da war ein junger ungarischer Künstler, den er kennenlernen sollte, sie hatte tausend Gründe, ihn anzurufen, versprach Kontakte mit anderen Galerien, dem Gropius-Bau, hielt ihr Versprechen. Am liebsten hätte sie ihn zum Partner, sagte sie im Scherz und wiederholte es. Die Galerie wurde aus dem Besitz ihres verstorbenen Mannes finanziert, drei Mietshäuser in Frankfurt, die sie selbst verwaltete, drahtig, mager fast, braungebrannt vom Arbeiten auf dem Dach, erklärte sie, zeigte Andras die Dachterrasse, große Tontöpfe mit Oleander, die Pergola, an der eine Glyzinie wuchs, darunter ein Steintisch und zwei Stühle. Sie mochte Isabelle, durchschaute kommentarlos, was Isabelle für Andras bedeutete. Auf dem Rückweg fuhr Andras in der Wartburgstraße vorbei. Er kam nicht umhin, Jakob zu mögen. Nicht einmal Eifersucht empfand er, wenn Jakob Isabelle umarmte, küßte; es war so vorgesehen, etwas, an dem Andras nie Anteil gehabt hatte, von Anfang an. Vielleicht blieb ihm nur, nach Budapest zurückzukehren, in die Wohnung neben Laszlo und seiner Schwester einzuziehen, den Nachmittag immer öfter am Kaffeetisch bei seinen Eltern zu versitzen, als könnte er, wenn er nur stillsaß, die Himmelsrichtungen in seinem Leben miteinander versöhnen, von Ost nach West nach Ost, die eben doch nicht die Koordinaten eines Menschenlebens bildeten.

Als das Telefon klingelte, wußte er, wessen Stimme er hören, wessen Stimme er nicht hören würde, und er lauschte mutlos, antwortete zustimmend. In der Küche spülte er, was dort seit Tagen stand, das wenige, das er benutzte, vereinzelte Gegenstände, die ihn wie ein schadhafter Zaun von dem sich auftürmenden Berg hoffnungsvoller Erwartung und endgültiger Resignation seiner Tante und seines Onkels trennte. Aus einem Alptraum, hatte sein Onkel gesagt, wacht man umgekehrt, in der falschen Richtung auf, aus glücklichen Träumen gar nicht. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören, jemand stapfte schwerfällig, aber entschieden aufwärts, vorbei an seiner Wohnungstür, dorthin, wo nur noch der Dachboden war, von einem Vorhängeschloß bloß symbolisch abgeschlossen, die Schritte wanderten über Andras' Kopf, dann war es wieder still. Es richtete sich dort vielleicht ein Obdachloser ein, mit einer Decke, ein paar Plastiktüten, versuchte ein Feuerehen zu machen, Andras seufzte, er würde nachsehen müssen. Dann nochmals Schritte, diesmal die Schritte einer Frau, und als Magda klopfte, öffnete Andras und schloß sie umstandslos in seine Arme. – Es riecht nach Winter in deinem Treppenhaus, murmelte Magda, schmiegte ihr mageres Gesicht an seine Schulter, lachte. Von wem hast du geträumt, von deiner Kleinen? Wie eine leichte, fast durchsichtige Stoffbahn schob sie sich zwischen ihn und seinen Kummer, er glaubte, als er über ihre spröde, sommersprossige Haut streichelte, Isabelle zu hören, flüsternd, ängstlich, den kleinen, klagenden Laut, begriff er nach einem Augenblick, hatte aber Magda ausgestoßen, sie schmiegte sich fester an ihn, die Schenkel geöffnet, mit einer bescheidenen Lust, die ihn anrührte, und es dauerte einen weiteren Augenblick, bis er begriff, daß es seine eigene Bedürftigkeit war, die sie widerspiegelte.

– Mein armer Schatz, sagte sie so leichthin wie abwesend, daß er ruhig liegenblieb, während sie sich erhob, ihre Bluse überstreifte und zuknöpfte, sich noch einmal zu ihm beugte, ihn küßte. Vielleicht passen wir so am besten zusammen, du mit deiner Isabelle, ich mit meiner Traurigkeit um Friedrich. Ich habe ihn geheiratet, weil er es wollte und ich nichts anderes wußte damals, und jetzt träume ich von ihm, er kommt mir so schön vor. Sie lachte, schritt durch das angrenzende Wohnzimmer, strich über das rote Sofa, setzte sich einen Moment darauf, er sah die helle Haut der dünnen Beine, wie eine alte Frau, zerbrechlich, anfällig sah sie aus, und es war leicht, sich seine Tante neben ihr sitzend vorzustellen, mit dem Kopf nickend, lautlos eine ihrer unendlich verschlungenen Geschichten erzählend, die von den Zimmern, den Häusern in Budapest handelte, über das Jahrhundert hinweg, das den Menschen den Platz von Schatten und Verlierern zugewiesen hatte.

– Laß uns nach Budapest fahren, sagte Magda. Glaub mir, es gibt keine bessere Grundlage für eine Ehe, als wenn der eine akzeptiert, daß der andere ihn nicht liebt. Andras stand auf, streifte Unterhose und Hose über und ging, mit nacktem Oberkörper, der ihm schwerfällig, zu unbeholfen vorkam, auf Magda zu. Er war sich ihres prüfenden Blicks bewußt, er sehnte sich, alleine zu sein, alleine zu einem Spaziergang aufzubrechen, in irgendeiner Kneipe etwas zu trinken, mit irgend jemandem ein paar Sätze zu wechseln, wieder in den Abend hinauszugehen und mit einem Taxi in der Wartburgstraße vorbeizufahren, um gegen Morgen erst hierher zurückzukehren, vielleicht betrunken, und dann an Magdas Körper zu denken, an ihre Zärtlichkeit, die ihn noch immer wie ein hauchdünner Stoff von Isabelle trennte. Er war dankbar dafür. Er war dankbar, daß Magda sich frisch ankleidete und auf den Weg machte, ihm von der Tür aus eine Kußhand zuwarf, keine zusätzliche Umarmung erwartend, nichts anderes erwartend, als was sie in seinen Augen las, daß sie ein Liebespaar sein würden. Vielleicht würden sie sich nur einmal in der Woche sehen, zum Abendessen, und miteinander schlafen wie ein altes Ehepaar, jedem sein Kummer, jedem seine Freude, und doch gab es jemanden, der diesen alternden Körper in seine Arme schloß, nicht um des Augenblicks, sondern um der verstreichenden Zeit willen, vielleicht das einzig mögliche Erbarmen, dachte Magda. Die Zeit war in so kleine Portionen unterteilt, daß es nicht lohnte, ihr Beachtung zu schenken.

Vier Tage später lud Andras sie zum Abendessen ein. Er wollte, sah Magda, sie nicht küssen, aber er nahm ihre Hand, streichelte sie, die faltigen Knöchel, die hübschen, unlackierten Fingernägel, die dünnen, deutlich sichtbaren Adern, streichelte sie, damit Magda für eine Weile vergessen konnte, was jetzt seiner Obhut überlassen war. Womöglich, dachte er, sind wir wirklich zu alt, um uns zu sorgen, ob es ausreicht. Und er erzählte ihr von dem Mann, den er auf dem Dachboden inzwischen aufgesucht hatte, von dem winzigen dunklen Gesicht, aus dem ihn die Augen erschreckt angesehen hatten, von den Wutausbrüchen desselben Mannes, der fluchend und schreiend in einen aussichtslosen Kampf mit marodierenden Gespenstern verwickelt war, die namentlich zu nennen der Mann nicht wagte, der sich als Herr Schmidt vorgestellte hatte. – Stell dir vor, sagte Andras, es ist sein richtiger Name, Herr Schmidt. Er sagt, daß er acht Geschwister hatte und als einziger noch lebt, als wäre er zu ewigem Leben verurteilt worden. – Und was machst du mit ihm? fragte Magda. – Ich habe ihm eine elektrische Kochplatte gekauft und einen Topf geschenkt. Magda lachte. – Zwei Teller, fuhr Andras fort, und Besteck hat er selbst, jetzt will er mich zum Essen einladen. die Hausverwaltung kommt eh nicht mehr hierher, sie warten nur darauf, daß ich endlich ausziehe und sie alles verkaufen können.


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[2]

Neben Isabelles und Jakobs Londoner Wohnung wohnt eine Familie in prekären Verhältnissen. Die kleine Sara ist allein zu Hause; Dave ist ihr älterer Bruder, Polly ihre Katze (S. 218 ff.)


Dave hatte ihr gesagt, daß andere Leute nicht in der Stadt wohnten, sondern auf dem Land, wo jeder einen riesigen Garten mit Apfelbäumen hatte und Tiere, nicht nur eine Katze wie Polly, sondern auch Hunde und Schafe, manchmal sogar ein Pony, auf dem man reiten konnte, wenn man wollte, das man vor einen kleinen Kutschwagen spannte, und dann fuhr man übers Land, an Bächen vorbei und durch Felder, bis man hungrig war und nach Hause zurückkehrte. Alle setzten sich an einen langen Tisch und aßen, bis sie müde waren. Die Kinder gingen jeden Morgen zusammen zur Schule, liefen durch den Garten ans Tor und warteten, bis die anderen kamen, auch auf Sara würden sie warten, und dann zusammen in die Schule laufen, mit ihren Schultaschen und Butterbroten und etwas zu trinken, denn mittags, in der Pause, aßen sie gemeinsam, es gab auch Suppe und Pudding, und dann spielten sie, bis die Glocke läutete. In Windeseile lernte man dort Lesen und Schreiben, erklärte ihr Dave, und dann brachte er ihr ein Heft, gab ihr einen Stift, der aus Vaters Tasche gefallen war, malte Buchstaben auf. Eine Schlange, sagte er, S wie Schlange, S wie Sara, und der Stift war grün, die Schlange war grün, auf den Fingern Flecken, die sie versteckte, die Hände in den Taschen, den Stift unter der Matratze, einen Stift ihres Vaters, grün, und er suchte ihn, suchte. Dann verschwand Dave, mehrere Tage, keiner sagte etwas, als wäre er nie dagewesen, Mum weinte nicht, und Dad lag auf dem Sofa, schlief auf dem Sofa, den halben Tag lang und die Nacht auch, Mum gab ihr in der Küche zu essen, Brot und Käse, den Dave nicht mochte. Er kam nicht.

Mit dem Finger malte sie das S auf die Tischplatte, ans Fenster, nachdem Mum und Dad fort waren, weil sie arbeiteten, in einem Supermarkt Arbeit gefunden hatten, sagte Mum. Sara hauchte gegen das Fenster, malte ein S, das sich auflöste, und draußen war es warm, die Bäume wuchsen, grüne Blätter, dünne Äste, schnurstracks in die Luft hinein oder in den Himmel, der lange hell blieb, so lange, daß die anderen Kinder immer öfter in den Garten kamen, über die Mauer kletterten, aber sie klopften nicht an die Tür, warfen nicht mit Bällen, weil sie jemanden suchten oder sich versteckten und gleich weiter, in den nächsten Garten kletterten. Dave kam nicht. Am nächsten Morgen weckte sie ihre Mutter, schickte sie zu dem Laden unten in der Falkland Street, gleich rechts um die Ecke und ein paar Meter, dahin, wo in den Kisten Gemüse lag, ohne daß jemand darauf aufpaßte, und im dunklen Laden stand ein Mann, der sie seufzend anschaute und sagte, daß sie nicht genug Geld für all die Dinge hatte, die auf der Liste standen. Auf die Rückseite des Zettels malte sie ein S, weil der Mann fragte, wie sie heiße, und er fragte, ob sie zur Schule ginge. Es war falsch gewesen, das zu erzählen, Dave hätte es ihr erklärt, aber Dave war nicht da, und ihr Vater kam und packte sie am Arm, zog sie mit auf die Straße, und sie hockte sich neben die Mülltonnen, weil er gesagt hatte, daß man sie einsperren würde. Durch die Fensterscheibe sah sie drinnen Polly, die einmal auf der einen, dann auf der anderen Fensterbank auftauchte, sich schließlich auf die Sofalehne legte und einschlief. Aus dem Nachbarhaus kam erst der Mann, dann später die Frau, der Mann sah sie nicht, die Frau lächelte ihr zu, aber als sie wieder zurückkam, war sie nicht alleine, ein anderer Mann war bei ihr, von dem sie sich verabschiedete, und sie tat, als würde sie Sara nicht sehen. Abends hielt vor dem Haus ein Auto, und ihr Vater stieg aus, nahm sie auf den Arm, ihre Mutter deckte den Tisch, es waren zwei Männer da-bei, streichelten ihr über den Kopf, dann wurde sie ins Bett geschickt, und keiner fragte sie, ob sie hungrig war. Sie legte sich in Daves Bett, und obwohl er weg war, erzählte sie ihm, daß sie gar keinen Hunger mehr hatte, daß sie auch dahin wollte, wo es den großen Garten voller Apfelbäume gab. Dave hörte immer zu, das Kissen roch nach ihm, aber am Morgen war es naß, und sie schämte sich, weil sie Angst hatte, ins Bett gemacht zu haben.

Sie stand an der Gartentür und lauschte, ob sie etwas hörte, aber nur Polly strich miauend um ihre Beine und rieb sich an der Tür, weil sie hinauswollte. Die anderen Kinder würden mit Steinehen nach Sara werfen und über sie lachen, weil sie zu kurze Sachen anhatte oder viel zu lange, die Dave früher einmal getragen hatte, und weil sie noch nicht in die Schule ging und weil ihr Vater ihre Haare schnitt, weil er kein Geld fürs Haareschneiden ausgab, nicht für ein Kind. Sie sagte es nicht einmal zu Dave, daß sie immer so bleiben würde, daß sie fürchtete, immer ein Kind zu bleiben wie jetzt, da sie nicht wuchs, da sie klein blieb und in die Hosen machte oder ins Bett. Sie war zurückgeblieben, sagte Dad, und obwohl sie nicht genau verstand, was das bedeutete, wußte sie, daß es sich nicht wiedergutmachen ließ. Es war nicht wie eine Krankheit, die wieder weggehen konnte, wenn sie im Bett blieb und tat, was Mum sagte. Mum sagte ihr auch nicht, was sie tun sollte, und es gab Krankheiten, die nicht wieder weggingen, die so schlimm waren, daß niemand darüber redete. Oder es war keine Krankheit, sondern etwas, das sie getan oder gesagt hatte, und die Kinder wußten es und lachten deshalb, warfen mit Steinehen gegen die Scheibe und zeigten mit dem Finger auf sie, weil sie nichts lernte und nicht wuchs.

Sie preßte das Ohr gegen die Glasscheibe. Polly miaute. Wenn sie den Mut hätte, die Tür zu öffnen und hinauszugehen, wäre es fast so wie bei den Leuten, die nicht in der Stadt wohnten, sondern auf dem Land, wo sie Schafe und einen Hund und sogar ein Pony hatten. Immerhin hatte sie Polly, und sie könnte über das Gras bis zu dem Baum an der Ziegel mauer laufen und sich vorstellen, daß es ein Apfelbaum voller Äpfel wäre und daß Dave käme und sie an der Hand faßte, um weiterzulaufen, in den Wald, zu einem Teich mit einem Ruderboot, in dem Dave sie über den Teich rudern würde. Er hatte versprochen, sie in den Park mitzunehmen, aber er war seit Tagen nicht nach Hause gekommen. Sie berührte den Schlüssel, der in der Tür steckte. Dann umfaßte sie ihn und tat, als würde sie ihn im Schloß herumdrehen. Der Schlüssel ließ sich nicht bewegen. Jetzt versuchte sie es mit beiden Händen, mit aller Kraft, ihre Hände, die heiß wurden, schmerzten, sie rutschten ab, und da war der brennende Wunsch, den Schlüssel umzudrehen, die Tür zu öffnen und in den Garten hinauszulaufen, von der Veranda hinunter, die voller Gerümpel stand, und über das Gras hin zu der Ziegelmauer, wo ein großer Fleck Sonne durch den Baum schien.

Dann bewegte sich der Schlüssel mit einem Ruck, und es gab einen Luftstoß, aber es duftete auch und war warm, wärmer als in der Wohnung, und Polly zwängte sich durch den Spalt, lief die zwei Stufen hinunter, blieb stehen und drehte sich nach Sara um. Auf der Terrasse stand ein Tisch, umgestürzt, ein kleiner Tisch, weil man dort draußen sitzen konnte und essen, jetzt, wo sie einen Garten hatten, es war wie ein Versprechen gewesen, alle vier, die dort zusammensaßen, nachdem Mutters Tante Martha gestorben war, und Dad hatte Sara auf seine Schultern gehoben, um mit ihr in den Garten zu gehen, hatte gesagt, daß sie hier bleiben würden. Alles war voller Versprechungen gewesen, und Sara würde, sobald sie umgezogen wären, in den Kindergarten kommen, hatte Dad gesagt, und dann gab es doch etwas, das alles sein ließ wie vorher. Weil sie nicht wuchs, weil es vielleicht ihre Schuld war. Dave kam nicht mehr. Neben dem Tisch stand ein Stuhl mit drei Beinen, sie sah auch ihren alten Bär Tod, der eines Tages verschwunden gewesen war, Dave hatte ihr dann erzählt, Tod wäre fortgereist, mit dem Zug weit weggereist, sagte Dave, um sie zu trösten, aber da lag er, halb unter dem Tisch, halb unter dem Stuhl, aufgequollen, der Bauch sogar aufgeplatzt; sie schaute weg. Sie machte einen Schritt, hielt mit weit ausgestrecktem Arm noch die Tür, dann einen zweiten Schritt und noch einen, stand schon auf der ersten Stufe, der zweiten, während Polly alles Gras überquert hatte und an etwas roch, an einer Pflanze, die dort an der Mauer wuchs, dort, wo die Sonne war. Das Gras war feucht, sie spürte es durch die Strümpfe, ohne Schuhe, nur in Strümpfen durfte man nicht hinausgehen, sie hob die Beine sorgfältig, um es gutzumachen, ein Plastikeimer lag da, sogar eine kleine, grüne Schaufel, sie dachte, daß sie die Strümpfe vielleicht ausziehen könnte, damit sie nicht naß und dreckig würden. Neben dem Eimer glänzte etwas, eine große Scherbe, der Boden einer Flasche, und neben der Glasscherbe stand ein winziges Pferd, braun und mit einem weißen Fleck auf dem Kopf, mit einem schwarzen Sattel auf dem Rücken. Vorsichtig streckte sie die Hand danach aus. Es war wirklich ein Pferd. Sie nahm es fest in die Hand, umschloß es, dann spreizte sie die Finger und betrachtete es wie einen Käfer, der davonkrabbeln könnte. Da war es noch immer, und es hatte alle vier Beine. Sie richtete es auf, es galoppierte ihre Handfläche entlang. Wenn sie es absetzte, konnte es immer weitergaloppieren, über Hügel und Ebenen hinweg, in dem warmen, duftenden Wind, an einer riesigen Blume, groß wie ein Baum, vorbei und zwischen den Gräsern hindurch, durch eine Steppe, die nicht endete, immer weiter. Die Glasscherbe war ein See, aus dem das Pferd trank, Sara hielt es am Zügel, wartete, bis es sich satt getrunken hatte, dann stieg sie auf, und los ritten sie, immer schneller, bis sie die sengende Sonne erreichten, wo ein riesiges Ungeheuer lauerte, ein Untier mit Krallen und einem ungeheuren Schweif, der nach ihnen schlug, um sie zu töten. Aber sie wichen aus, mit einer schnellen, geschickten Bewegung brachten sie sich in Sicherheit, hinter einem Hügel, und beobachteten das riesige Tier. Es war ein Drache. Er lag still da, um sie zu täuschen, nur sein fauchender Atem verriet, daß er nicht schlief. Die Flanken hoben sich, senkten sich, furchtlos lag er da, man mußte das Schwert finden, das ihn besiegte, das seinem Drachenkörper die Wunde zufügte, man mußte furchtlos und kühn sein, -und wenn der Tod kommt, fürchten wir uns nicht, flüsterte Sara. Sie strich über den zitternden Rücken des Pferdes und sprach ihm Mut zu, dann sang sie sogar ein Lied, leise, und das Ungetüm schlief tatsächlich ein, schlief im Gras, hingestreckt, vertrauensvoll. – Wir fahren zur Hölle, flüsterte Sara. Wir gehen unter und ihr mit uns. Mit dem Finger strich sie über den zitternden Rücken des Pferdes und flüsterte ihm beruhigend zu. – Aber wir ergeben uns nicht.

Der Lohn war die Freiheit, der Lohn war ein goldener Schatz, und jeder Wunsch ging in Erfüllung. Edelsteine, und der Zauberbaum, zu dessen Füßen das Untier lag, der Baum, den man berührte, vor dem man sich verneigte, damit die Wünsche sich erfüllten, und zu Füßen des Baums das Untier. Schlimm war, daß es noch lebte. – Wir müssen es töten, flüsterte sie dem Pferd zu, das den Kopf hob und die Mähne schüttelte und zustimmend wieherte, – müssen es töten, mit einem Hieb. Denn noch schlief es, doch wenn es aufwachte, war alles verloren, – mit einem Hieb, wiederholte Sara und schaute sich suchend um, denn jeder Kampf hatte seine Waffe, sagte Dave, sagte Dad, und da lag eine Keule, lag für sie bereit, ein dicker, nicht allzu langer Ast, den Sara aufhob, hoch über den Kopf schwang, in die Luft, mit beiden Händen umklammert, und Pollys Schnurrbarthaare zitterten, sie gab einen kleinen zufriedenen Laut von sich, schlug ihre Augen auf. – Es ist das Untier, flüsterte das Pferd schaudernd, du mußt es erschlagen, um den Zauber zu brechen, siehst du seine Augen, du wirst niemals wachsen und groß werden, wenn sein Blick dich trifft, es schlug die Augen auf, beide Augen, dunkelgrün, schläfrig, wenn du je in die Schule willst wie alle anderen, ein kleiner Laut, als wollte Polly etwas sagen, schläfrig, aber das Pferd beschwor Sara, und so hob sie die Arme, reckte sie hoch in den Himmel, um den Schlag gegen den Feind zu führen, der den Kopf hob, zum Angriff bereit, und Sara reckte sich, weiter hinauf, ein einziger Schritt noch nach vorne, und dann schlug sie zu.

Pollys Schrei zerriß die Stille, mit gesträubtem Fell jagte sie den Baum hinauf, fauchend, auf den untersten Ast, der ihr keinen Halt bot, da sie mit dem verletzten Hinterbein abglitt, mühsam auf die Mauer zukroch, springen mußte, nur ein winziges Stück, das Mauer und Ast trennte, und sie stieß sich ab, schrie noch einmal vor Schmerz auf und sprang hinüber. Auf der Mauer schien sie sich sicherer zu fühlen. Sie leckte das Hinterbein und die Pfote, ließ den Blick nicht von Sara, die noch immer hoch aufgerichtet dastand, starr, übers Gesicht liefen ihr Tränen, aber sie empfand nichts als Entsetzen, etwas, das kalt und schneidend war, während sie Polly sah, die dahockte, fauchte, als Sara die Arme sinken ließ, die kalten Arme, als hätte sie jemand mit weißer Farbe übergossen, weißer, leuchtender Farbe, die ihr den Atem nahm und sie zeichnete, wie damals, als ihr Vater zum Spaß ihren Arm bis zur Schulter in einen Farbeimer gestoßen hatte, damit man sie leichter finden würde, damit wir dich leichter erkennen, und da stand sie. Bückte sich nach dem braunen Pferd, hielt es in der Hand, schleuderte es über die Mauer, aber es war zu spät. Polly zuckte zusammen, kroch einen Meter weiter, entfernte sich von Sara so weit wie möglich. Erst jetzt bemerkte Sara, daß im Nachbarhaus ein Fenster offenstand und die Frau sie beobachtete. Sie gab kein Zeichen von sich, beobachtete nur stumm, es war eine endlose Zeit, bis sie sich weiter hinauslehnte, um besser zu sehen, und dann rief sie – was ist passiert? Brauchst du Hilfe? Sara kauerte im Gras, schlang die Arme um die Schultern. Die Sonne war inzwischen von Wolken verdeckt. Das Gras roch feucht und kalt. Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf, rührte sich aber sonst nicht vom Fleck. Da war Polly. Sie wollte zu Polly etwas sagen, sie wollte sich entschuldigen, Polly zu sich locken, um sie zu trösten, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund, und Polly klagte jetzt leise, ein gleichmäßiger, unaufhörlicher Ton. Sara hörte es, dann beugte sie den Kopf und erbrach sich, einmal und noch einmal, gelben, bitteren Schleim, der im Gras einen gelben Fleck machte und bitter roch, ihr Magen tat weh, sie preßte die Hände auf den Bauch und wagte nicht, zu schluchzen, schluckte die Tränen, kauerte sich ein bißchen weg von dem Gestank, hob den Kopf nicht mehr. Gleich würde die Scham kommen. Dave, wenn er käme, würde sofort wissen, was geschehen war. Er würde gehen, ohne sie anzusehen. Er würde nicht wiederkommen. Irgendwo war Polly, Alles war still. Vielleicht starb sie jetzt. Vielleicht würde sie, Sara, auch sterben. Es war kalt geworden. Dann kamen erste Tropfen, dick, eisig. Sie bewegte sich nicht. Bald war sie durchnäßt, kauerte, spürte nichts mehr, nur ein kurzer Regenschauer, der vorüberging, und das Fenster im Nachbarhaus klapperte, wurde geschlossen. Kurz darauf öffnete sich die vergitterte Glastür, die in den Garten nebenan führte.


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