Leseproben aus: Knut Hamsun, Hunger



S. 19, 52 f., 162 ff.



[1] Der Beginn des Romans (S. 19)

[2] Der Erzähler hat inzwischen seine Wohnung verloren und findet kein Obdach (S. 52 f.)

[3] Der Erzähler kommt in einem Wirtshaus unter. Als er für die Unterkunft nicht mehr bezahlen kann, wird er vorübergehend im Wohnraum der Wirtsfamilie aufgenommen. Dort herrschen prekäre Verhältnisse. (S. 162 ff.)




[1]

Der Beginn des Romans (S. 19)


Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist.

Ich lag wach in meiner Dachstube und hörte eine Uhr unter mir sechsmal schlagen; es war schon ziemlich hell, und die Menschen fingen an, die Treppen auf und nieder zu steigen. Unten bei der Türe, wo mein Zimmer mit alten Nummern des ‘Morgenblattes’ tapeziert war, konnte ich ganz deutlich eine Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors sehen und ein wenig links da von eine fette, geschwollene Anzeige von frischgebackenem Brot des Bäckers Fabian Olsen.

Sowie ich die Augen aufschlug, begann ich aus alter Gewohnheit nachzudenken. ob ich heute etwas hätte. worauf ich mich freuen könnte. In der letzten Zeit war es mir ziemlich schlecht ergangen; eins nach dem anderen meiner Besitztümer hatte ich zum ‘Onkel’ bringen müssen, ich war nervös und unduldsam geworden; ein paarmal mußte ich auch wegen Schwindels einen Tag lang im Bett bleiben. Hie und da, wenn das Glück mir günstig war, hatte ich fünf Kronen für ein Feuilleton von irgendeinem Blatt ergattern können.

Es tagte mehr und mehr, und ich begann, die Anzeigen unten bei der Türe zu lesen; ich konnte sogar die mageren grinsenden Buchstaben ‘Leichenwäsche bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg’ unterscheiden. Dies beschäftigte mich eine lange Weile, ich hörte die Uhr unter mir acht schlagen, bevor ich aufstand und mich anzog.

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Von meinem Platz aus sah ich eine Wäscheleine und ein freies Feld; weit draußen lag noch der Schutt einer abgebrannten Schmiede, den einige Arbeiter forträumten. Ich legte mich mit den Ellbogen ins Fenster und starrte in die Luft hinaus. Es wurde ganz gewiß ein heller Tag. Der Herbst war gekommen, die feine, kühle Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Der Lärm in den Straßen hatte schon begonnen und lockte mich ins Freie: dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt, den ich darüber hinging, auf und nieder schwankte, war wie ein feuchter, unheimlicher Sarg; kein ordentliches Schloß an der Türe und kein Ofen im Raum. Ich pflegte in der Nacht auf meinen Strümpfen zu liegen, um sie bis zum Morgen ein wenig trocken zu bekommen. Das einzige Erfreuliche, was ich hier hatte, war ein kleiner roter Schaukelstuhl, in dem ich an den Abenden saß und döste und an allerhand Dinge dachte. Wenn der Wind stark blies und die Türen unten offenstanden, tönte vielfältiges seltsames Pfeifen durch den Boden herauf und durch die Wände herein, und das Morgenblatt unten bei der Türe bekam Risse, so lang wie eine Hand.

Ich erhob mich und suchte in einem Bündel in der Ecke beim Bett, ob noch etwas zum Frühstück darin wäre, fand aber nichts und kehrte wieder zum Fenster zurück.

Gott weiß, dachte ich, ob es mir jemals etwas nützen wird, nach einer Beschäftigung zu suchen! Diese vielen Absagen, diese halben Versprechungen, glatte Nein, genährte und getäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedesmal in nichts verliefen, hatten meinen Mut erdrosselt. Zuletzt hatte ich einen Platz als Kassenbote gesucht, war aber zu spät gekommen; und außerdem konnte ich nicht die fünfzig Kronen Sicherheit schaffen. Es gab immer das eine oder andere Hindernis. Ich hatte mich auch bei der Feuerwehr gemeldet. Wir standen ein halbes Hundert Mann in der Vorhalle und streckten die Brust heraus, um den Eindruck von Kraft und großer Kühnheit zu erwecken. Ein Bevollmächtigter ging umher und besah diese Bewerber, befühlte ihre Arme und stellte ihnen diese oder jene Frage, und an mir ging er vorbei, schüttelte nur den Kopf und sagte, daß ich wegen meiner Brille untauglich sei. Ich kam wieder, ohne Brille, ich stand mit gerunzelten Brauen da und machte meine Augen so scharf wie Messer, und der Mann ging wiederum an mir vorbei, und er lächelte – er hatte mich wohl wiedererkannt. Das Schlimmste von allem war, daß meine Kleider anfingen, schlecht zu werden, und ich mich nirgends mehr als anständiger Mensch vorstellen konnte.



nach oben



[2]

Der Erzähler hat inzwischen seine Wohnung verloren und findet kein Obdach (S. 52 f.)


Es blieb mir wohl kein anderer Ausweg, als irgendwohin in den Wald zu gehen. Wenn nur der Erdboden nicht so feucht gewesen wäre! Ich klopfte auf meine Decke und machte mich immer vertrauter mit dem Gedanken, im Freien schlafen zu müssen. So lange hatte ich mich damit geplagt, eine Unterkunft in der Stadt zu finden, daß ich des Ganzen müde und überdrüssig geworden war; es schien mir ein Behagen und ein Genuß, zur Ruhe zu kommen, mich dem Schicksal überlassen zu dürfen und in den Straßen dahinzuschlendern, ohne einen Gedanken im Kopf. Ich ging zur Universitätsuhr und sah, daß es zehn Uhr vorbei war; von dort aus nahm ich den Weg in die Stadt hinauf. Irgendwo auf Haegdehaugen stand ich vor einem Lebensmittelladen still, in dessen Fenster verschiedene Eßwaren aufgestellt waren. Eine Katze lag dort und schlief neben einem Franzbrot, gleich dahinter standen ein Topf Schmalz und mehrere Gläser Grütze. Ich stand da und sah eine Weile auf diese Eßwaren, da ich aber kein Geld besaß, wandte ich mich ab und setzte den Marsch fort. Ich ging sehr langsam, kam an Majorstuen vorbei, ging weiter, immer weiter, ging Stunde auf Stunde und kam endlich in den Bogstadtwald hinaus.

Hier bog ich vom Weg ab und setzte mich nieder, um auszuruhen. Dann sah ich mich nach einem passenden Platz um, scharrte ein wenig Heidekraut und Wacholder zusammen und bereitete mir auf einer kleinen Anhöhe, wo es einigermaßen trocken war, ein Lager, öffnete mein Paket und nahm die Decke heraus. Ich war müde und verquält von dem langen Weg und legte mich gleich schlafen. Ich warf und wandte mich lange hin und her, bis ich endlich die richtige Lage gefunden hatte; mein Ohr schmerzte ein bißchen, war von dem Schlag des Mannes auf dem Heuwagen ein wenig aufgeschwollen, und ich konnte nicht darauf liegen. Meine Schuhe zog ich aus und legte sie unter den Kopf und auf sie das große Einwickelpapier.

Und die Dunkelheit brütete rund um mich, alles war still, alles. Aber in der Höhe oben sauste der ewige Sang, die Luft, das ferne, tonlose Summen, das niemals schweigt. Ich lauschte so lange auf dieses endlose kranke Sausen, daß es mich zu verwirren begann; es waren sicherlich Symphonien von den rollenden Welten über mir, Sterne, die einen Gesang intonierten ...

Das ist doch auch zum Teufel! sagte ich und lachte laut, um mir Mut zu machen; es sind die Nachteulen in Kanaan.

Und ich stand auf und legte mich wieder hin, zog die Schuhe an und trieb in der Dunkelheit umher und legte mich von neuem nieder, kämpfte und stritt mit Zorn und Furcht bis zum Morgendämmern, bis ich endlich in Schlaf fiel.

Als ich die Augen aufschlug, war es heller Tag, und ich hatte das Gefühl, daß es bereits auf den Mittag zuginge. Ich zog die Schuhe an, packte die Decke wieder ein und begab mich zur Stadt zurück. Auch heute war keine Sonne zu sehen, und ich fror wie ein Hund; meine Beine waren tot, und das Wasser trat mir in die Augen, als ertrügen sie das Tageslicht nicht.

Es war drei Uhr. Der Hunger begann einigermaßen schlimm zu werden, ich war matt und ging dahin und erbrach mich hie und da verstohlen. Ich schwenkte ab, zur Dampfküche hinunter, las die Tafel und zuckte aufsehenerregend mit den Schultern, als ob Pökelfleisch und Speck kein Essen für mich seien; von dort kam ich zum Bahnhofsplatz.



nach oben



[3]

Der Erzähler kommt in einem Wirtshaus unter. Als er für die Unterkunft nicht mehr bezahlen kann, wird er vorübergehend im Wohnraum der Wirtsfamilie aufgenommen. Dort herrschen prekäre Verhältnisse. (S. 162 ff.)


Während ich an dies alles denke und mich über die offensichtliche Bosheit der Magd wundere, hatten die kleinen Mädchen begonnen, den Greis im Bett dort zu necken: sie hüpften beide um ihn herum und waren mit dieser Arbeit ganz beschäftigt. Jedes von ihnen hatte sich einen Strohhalm gesucht und stach ihm damit in die Ohren. Eine Weile sah ich das mit an und mischte mich nicht hinein. Der Alte rührte keinen Finger zu seiner Verteidigung; er sah nur mit wütenden Blicken auf seine Plagegeister, so oft sie nach ihm stachen, und schüttelte den Kopf, um sich zu befreien, wenn ihm die Halme bereits im Ohr staken.

Bei diesem Anblick wurde ich immer erregter und konnte, meine Augen nicht davon losbringen. Der Vater sah von den, Karten auf und lachte über die Kleinen; er machte auch seine Mitspieler auf den Vorgang aufmerksam. Warum rührte er sich nicht, der Alte? Warum schleuderte er die Kinder nicht mit den Armen weg? Ich machte einen Schritt und näherte mich dem Bett.

Lassen Sie doch! Lassen Sie doch! Er ist lahm, rief der Wirt. Und aus Furcht, nun bei Anbruch der Nacht vor die Türe gewiesen zu werden, einfach ängstlich, das Mißfallen des Mannes zu erregen, falls ich in diesen Auftritt eingriffe, trat ich stillschweigend an meinen alten Platz zurück und verhielt mich ruhig. Warum sollte ich mein Logis und meine Butterbrote dadurch aufs Spiel setzen, daß ich meine Nase in die Angelegenheiten der Familie steckte? Keine Dummheiten wegen eines halbtoten Greises! Und ich stand da und fühlte mich so herrlich hart wie ein Stein.

Die kleinen Dirnen hörten mit ihren Plagereien nicht auf. Es ärgerte sie, daß der Greis den Kopf nicht stillhalten wollte, und sie stachen nun auch nach seinen Augen und Nasenlöchern. Mit haßerfülltem Blick starrte er sie an, er sagte nichts und konnte die Arme nicht rühren. Plötzlich hob er seinen Oberkörper auf und spuckte dem einen der kleinen Mädchen ins Gesicht; er hob sich noch einmal empor und spuckte auch nach dem anderen, traf es aber nicht. Ich sah, wie der Wirt die Karten hinwarf und zum Bett sprang. Er war rot im Gesicht und rief:

Was, du spuckst den Kindern in die Augen, du altes Schwein! Aber Herrgott, sie ließen ihm ja keinen Frieden! rief ich außer mir. Doch ich hatte dabei die ganze Zeit Angst, hinausgeworfen zu werden, und rief durchaus nicht besonders laut, ich bebte nur vor Erregung am ganzen Leibe.

Der Wirt wandte sich nach mir um.
Nein, hört den an! Was, zum Teufel, kümmert Sie das? Halten Sie nur die Schnauze, ja, Sie, und tun Sie, was ich sage; das wird für Sie das beste sein.

Aber nun ertönt auch die Stimme von Madam, und das ganze Haus war von Scheltworten erfüllt.

Ich denke, Gott helfe mir, ihr seid alle miteinander verrückt und besessen! schrie sie. Wenn ihr hier drinnen bleiben wollt, dann müßt ihr alle beide ruhig sein, sage ich euch! He, nicht genug damit, daß man dem Gesindel Kost und Logis gibt, nein, auch noch Radau und Teufelszeug und Jüngsten Tag muß man hier im Zimmer haben. Aber das soll jetzt aufhören, denke ich! Scht! Haltet eure Mäuler, Kinder, und putzt euch die Nase sonst besorg ich's! Solche Leute habe ich doch auch noch nie gesehen! Kommen von der Straße herein, ohne einen Ör für Lausesalbe, und fangen an, mitten in der Nacht Lärm zu schlagen und den Leuten des Hauses Krach zu machen. Davon will ich nichts wissen, versteht ihr mich, und ihr könnt euch alle miteinander packen, die ihr nicht hergehört. In meiner eigenen Wohnung will ich Frieden haben, daß ihr's wißt!

Ich sagte nichts, machte den Mund gar nicht auf, sonder, setzte mich wieder an die Türe und hörte dem Lärm zu. Alle schrien mit, sogar die Kinder und das Dienstmädchen wollten erklären, wie der ganze Streit angefangen hatte. Wenn ich mich nur stumm verhielte, so würde es wohl noch einmal vorüber gehen; es würde ganz gewiß nicht zum Äußersten kommen, wenn ich nur kein Wort sagte. Und was könnte ich auch zu sagen haben? War es vielleicht nicht Winter draußen und ging es nicht noch außerdem auf die Nacht zu? War das die Zeit, auf, den Tisch zu schlagen und aufzubegehren? Nur keine Narrenstreiche! Und ich saß still und verließ das Haus nicht, obwohl, ich beinahe ausgewiesen worden war. Verstockt starrte ich an die Wand, an der Christus in Öldruck hing, und schwieg hartnäckig auf alle Ausfälle der Wirtin.

Ja, wenn Sie mich loswerden wollen, Madam, dann soll, was mich betrifft, nichts im Wege sein, sagte der eine der Kartenspieler.

Er erhob sich. Auch der andere Kartenspieler stand auf.

Nein dich meinte ich nicht. Und auch dich nicht, antwortete die Wirtin den beiden. Ich werde schon sagen, wen ich meine, wenn es darauf ankommt. Wenn es darauf ankommt. Denke ich! Es wird sich zeigen, wer es ist ...

Sie sprach abgerissen, versetzte mir diese Hiebe mit kleinen Zwischenräumen und zog sie richtig in die Länge, um es mir deutlicher zu machen, daß sie mich meinte. Ruhe! sagte ich zu mir selbst. Nur Ruhe! Sie hat mich noch nicht aufgefordert zu gehen, nicht ausdrücklich, nicht mit offenen Worten. Nur keinen Hochmut auf meiner Seite, keinen Stolz zur Unzeit! Die Ohren steif! ... Es war doch ein eigentümlich grünes Haar, das der Christus auf dem Öldruck da hatte. Es war grünem Gras gar nicht so unähnlich, oder mit ausgesuchter Genauigkeit ausgedrückt: dickem Wiesengras. He, eine durchaus richtige Bemerkung meinerseits, ganz dickem Wiesengras ... Eine Reihe flüchtiger Ideenverbindungen liefen mir in diesem Augenblick durch den Kopf: von dem grünen Gras bis zu der Stelle in der Schrift, daß jedes Leben wie Gras sei, das angezündet würde von dort zum Jüngsten Tag, da alles verbrennen werde, dann mit einem kleinen Abstecher zum Erdbeben in Lissabon, worauf mir irgend etwas wie ein spanischer Spucknapf aus Messing und ein Federhalter aus Ebenholz vorschwebte, den ich bei Ylajali gesehen hatte. Ach ja, alles war vergänglich! Ganz wie Gras, das angezündet wurde! Es lief auf vier Bretter hinaus und auf Leichenwäsche – bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg ...

Und dies alles wurde in meinem Kopf umhergeworfen, in diesem verzweifelten Augenblick, als meine Wirtin im Begriff war, mich vor die Tür zu jagen.

Er hört nicht! rief sie. Ich sage, Sie sollen das Haus verlassen, nun wissen Sie es! Ich glaube, Gott verdamm mich, der Mann ist verrückt. Nun machen Sie aber, daß Sie fortkommen, und zwar auf der Stelle!

Ich sah zur Türe, nicht um zu gehen, durchaus nicht, um zu gehen; ein frecher Gedanke fiel mir ein: Wäre ein Schlüssel in der Tür gewesen, dann hätte ich ihn umgedreht, hätte mich mit den anderen zusammen eingesperrt, um nicht gehen zu müssen. Ich hatte ein ganz hysterisches Grauen davor, wieder auf der Straße zu stehen. Aber es war kein Schlüssel in der Türe, und ich stand auf; es gab keine Hoffnung mehr.




nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken