Leseproben aus: Knut Hamsun, Segen der Erde



S. 427 f., 511 f., 560 ff., 684 ff.



[1] Nordnorwegen: Isak hat sich einen Ort gesucht, an dem er siedeln und Landwirtschaft treiben will. Er baut sich eine Gamme (Erdhütte), hält einige Ziegen. Er hätte gern eine Magd zur Hilfe. (S. 427 f.)

[2] Inger hatte nach zwei Söhnen ein Mädchen zur Welt gebracht, das wie sie eine Hasenscharte hatte. Entsetzt tötet sie das Neugeborene um ihm das Leben in Spott und Schande zu ersparen. Sie wird zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Am Tag ihrer Entlassung holt Isak sie vom Boot ab. (S. 511 ff.)

[3] Die von Isak gegründete Ansiedlung Sellanraa hat sich im Lauf der Jahre vergrößert. Eine Naturbeschreibung der Gegend. (S. 560 ff.)

[4] Wieder ist ein Mädchen der Kindstötung angeklagt, Barbro, die Magd und zeitweilige Geliebte des Nachbarn Axel Ström. Vor Gericht spricht die Frau des Lensmanns (Verwaltungsangestellten) Heyerdahl für Barbro. Der Text ist ein bemerkenswertes Dokument zur Lage und zu den Rechten der Frauen. (S. 684 ff.)




[1]

Nordnorwegen: Isak hat sich einen Ort gesucht, an dem er siedeln und Landwirtschaft treiben will. Er baut sich eine Gamme (Erdhütte), hält einige Ziegen. Er hätte gern eine Magd zur Hilfe. (S. 427 f.)


Das waren harte Tage, der Mann mußte Hilfe haben, hatte jedoch keine. Er wurde aber deshalb doch nicht ratlos. Er schaffte an seinem Heim weiter, machte ein Fenster m die Hütte ein Fenster mit zwei Glasscheiben. Das war ein merkwürdiger und heller Tag in seinem Leben, als er nicht auf dem Herd Feuer anzünden mußte, um sehen zu können, nun konnte er drinnen sitzenbleiben und bei Tageslicht Tröge aus Holz anfertigen. Es wurde besser für ihn und lichter. Ach ja, Herrgott im Himmel! Er las nie in einem Buche, seine Gedanken beschäftigten sich aber oft mit Gott, er konnte nicht anders, Vertrauen und Ehrfurcht wohnten in seiner Seele. Der Sternenhimmel das Rauschen des Waldes, die Einsamkeit, die Schneemassen, die Gewalten auf der Erde und über der Erde stimmten ihn oftmals am Tage nachdenklich und andächtig; er fühlte sich sündig und war gottesfürchtig, des Sonntags wusch er sich zur Ehre des Feiertages, arbeitete aber sonst wie alle Tage.

Der Frühling kam heran, er bebaute seinen kleinen Acker und steckte Kartoffeln. Er hatte jetzt einen größeren Viehbestand, jede Ziege hatte Zwillinge gebracht, es waren. jetzt sieben Geißen, groß und klein zusammengerechnet. MIt der Zukunft vor Augen erweiterte er seinen Stall und setzte auch da ein paar Fensterscheiben ein. Es wurde heller und tagte in jeder Weise.

Eines Tages kam die Hilfe. Droben auf der Halde wanderte sie lange hin und her, ehe sie sich hervorwagte. Es wurde Abend bis sie herankam, aber dann kam sie – ein großes, braunhäutiges Mädchen; sie war so üppig und derb, mit festen guten Händen, mit Lappenschuhen an den Füßen, obgleich sie keine Lappin war, und mit einem Kalbfellsack auf dem Rücken. Sie war wohl schon etwas bei Jahren, höflich gesprochen, nahe an den Dreißigern.

Warum sollte sie sich denn fürchten? Sie grüßte, fügte jedoch rasch hinzu: Im muß nur über die Berge, darum bin ich diesen Weg gegangen. – So, sagte der Mann. Er verstand sie nicht ganz, sie redete undeutlich und wendete überdies das Gesicht weg. – Ja, sagte sie. Und es ist ein sehr weiter Weg. – Ja, antwortete er. Willst du über das Gebirge? – Ja. – Was willst du dort? – Ich habe meine Leute dort. – So, hast du deine Leute dort? Wie heißt du? – Inger, und wie heißt du? – Isak. – So Isak. Wohnst du hier? – Ja, ich wohne hier und habe es so, wie du hier siehst. – Das ist wohl nicht übel, sagte sie lobend.

Isak war im Denken ein ganzer Mann geworden, und nun kam Ihm der Gedanke, daß sie wohl im Auftrag von jemand gekommen sei, ja daß sie direkt von zu Hause hierhergekommen sei und nicht weiter wolle. Sie hatte vielleicht gehört, daß ihm weibliche Hilfe fehle.

Komm herein und ruh dich aus! sagte er.

Sie traten in die Hütte, aßen von ihrem Mundvorrat und tranken von seiner Geißenmilch; dann kochten sie Kaffee, den sie in einer Blase bei sich hatte. Sie hatten es sehr behaglich beim Kaffee, ehe sie schlafen gingen. Nachts lag er da und war gierig nach ihr und bekam sie.

Am Morgen ging sie nicht wieder weg und den Tag über auch nicht; sie machte sich nützlich, melkte die Ziegen und scheuerte die Holzgefäße mit feinem Sand und machte sie sauber. Sie ging nie wieder fort. Inger hieß sie, Isak hieß er.

Nun begann ein anderes Leben für den einsamen Mann. Das einzige war, daß seine Frau undeutlich redete und wegen einer Hasenscharte immer das Gesicht wegwendete; aber das war nichts, um sich darüber zu beklagen. Ohne diesen verunstalteten Mund wäre sie wohl nie zu ihm gekommen, die Hasenscharte war sein Glück. Und er selbst, war er ohne Fehl? Isak. mit dem rostigen Vollbart und dem zu untersetzten Körper er war wie ein greulicher Mühlgeist, ja wie durch eine verzerrende Fensterscheibe gesehen. Und wer sonst ging mit einem solchen Ausdruck im Gesicht umher? Es war, als könne er jeden Augenblick eine Art von Barrabas loslassen. Es bedeutete schon viel daß Inger nicht davonlief.

Sie lief nicht davon. Wenn er fort war und wieder heimkam, war Inger bei der Hütte, die beiden waren eins, die Hütte und sie.

Er hatte nun einen Menschen mehr zu versorgen, aber es lohnte sich, er konnte länger fort sein, er konnte sich rühren. Da war der Fluß, ein freundlicher Fluß, der neben seinem freundlichen Aussehen auch tief und raschen Laufes war; es war durchaus kein geringer Fluß, er mußte aus einem großen See droben im Gebirge kommen. Nun verschaffte Isak sich Fischgeräte und suchte diesen See auf, wenn er dann am Abend heimkam, brachte er eine ordentliche Anzahl Forellen und Alpensalme mit. Inger empfing ihn mit großer Verwunderung, sie war ganz überwältigt, schlug die Hände zusammen und rief: Um alles in der Welt! Sie merkte wohl, wie erfreut und stolz er über ihr Lob war, und da sagte sie noch mehr freundliche Worte: daß sie so etwas noch nie gesehen habe und gar nicht verstehe, wie er das zuwege bringen konnte.

Auch auf andere Weise war Inger ein Segen für ihn. Obgleich sie nicht gerade ein schönes Gesicht und Verstand im Kopfe hatte, so hatte sie doch bei einem ihrer Leute zwei Schafe mit ihren Lämmern stehen, und die holte sie. Das war das notwendigste, was jetzt in die Gamme gebracht werden konnte, Schafe mit Wolle und Lämmern, vier lebende Tiere, der Viehstand vermehrte sich im großen Stil, wunderbar war es, wie er zunahm. Inger holte außerdem noch ihre Kleider und andere Sachen, die ihr gehörten, einen Spiegel, eine Schnur mit einigen hübschen Glasperlen daran, Kardätschen und ein Spinnrad. Sieh, wenn sie so weiter machte, war bald alles voll vom Boden bis zur Decke, und die Gamme hatte nicht Raum für alles! Isak war natürlich sehr bewegt beim Anblick dieser irdischen Reichtümer; aber da er von Natur wortkarg war, fiel es ihm schwer, sich darüber auszusprechen, er ging hinaus vors Haus, sah nach dem Wetter und kam wieder herein. Ja, gewiß hatte er großes Glück gehabt, und er fühlte immer wieder einen heißen Drang in sich aufsteigen, Zuneigung oder Liebe, oder was es nun genannt werden konnte.



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[2]

Inger hatte nach zwei Söhnen ein Mädchen zur Welt gebracht, das wie sie eine Hasenscharte hatte. Entsetzt tötet sie das Neugeborene um ihm das Leben in Spott und Schande zu ersparen. Sie wird zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Im Gefängnis kommt die Tochter Leopoldine zur Welt. Am Tag der Entlassung holt Isak sie vom Boot ab. (S. 511 ff. ff.)


Isak fährt, bis er an ein Moorloch kommt. Da hält er an. Ein schwarzes, tiefes Moorloch, die blaue Wasserfläche liegt regungslos da; Isak wußte, wozu sie gut war, er hatte wohl kaum je in seinem Leben einen anderen Spiegel gebraucht als ein solches Moorloch. Seht, er ist heute in seinem roten Hemd sehr hübsch und ordentlich angezogen, jetzt zieht er eine Schere heraus und schneidet sich den Bart. Der eitle Mühlengeist, wollte er sich geradezu prachtvoll machen und sich von seinem fünf Jahre alten Vollbart trennen? Er schneidet und schneidet und besieht sich im Wasser. Natürlich hätte er diese Arbeit heute auch daheim verrichten können; aber er scheute sich vor Oline, es war schon sehr viel gewesen, daß er gerade vor ihrer Nase das rote Hemd angezogen hatte. Er schert und schert, ein gutes Teil Barthaare fallen auf den Spiegel. Als das Pferd nicht länger ruhig stehen will, hört er auf und erklärt sich für fertig. O jawohl, er fühlt sich bedeutend jünger. – Ja, zum Kuckuck, wenn er es verstand, auch bedeutend schlanker sogar.

Dann fährt er ins Dorf.

Am nächsten Tag kommt das Boot. Isak sitzt auf einem Felsblock neben dem Schuppen des. Kaufmanns und späht hinaus, aber auch diesmal erscheint Inger nicht. Lieber Gott, es stiegen ziemlich viel Reisende aus, Erwachsene und Kinder, aber Inger war nicht darunter. Isak hatte sich im Hintergrund gehalten, sich auf diesen Felsblock gesetzt, nun hatte er keinen Grund mehr, noch länger da sitzenzubleiben, und so ging er zum Boot hin. Immer noch kamen Kisten und Tonnen, Leute und Postsachen aus dem Achtriemer heraus, aber Isak sah Inger nicht. Dagegen sah er eine Frau mit einem kleinen Mädchen, die schon drüben an der Tür des Bootshauses stand, aber die Frau war hübscher als Inger, obgleich Inger nicht häßlich war. Aber wie – das war ja Inger. Hm! sagte Isak und eilte hinüber. Sie begrüßten einander; Inger sagte guten Tag und reichte ihm die Hand, etwas erkältet und blaß noch von der Seekrankheit und der Reise. Isak stand ganz still da, schließlich sagte er: Ja, es ist recht schönes Wetter! – Ich habe dich gut dort drüben gesehen, sagte Inger, aber ich wollte mich nicht durchdrängen. Bist du heute ohnedies im Dorf? fragte sie. – Ja. Hm. – Es geht euch allen doch wohl gut? – Ja, danke für die Nachfrage. Dies ist die Leopoldine, sie ist auf der Reise viel wohler gewesen als ich. Sieh, das ist dein Vater, nun mußt du deinen Vater begrüßen, Leopoldine. – Hm! sagte Isak auch jetzt wieder; es war ihm höchst sonderbar zumute, oh, er war ein Fremder unter ihnen. – Inger sagte: Wenn du am Boot drunten eine Nähmaschine siehst – sie gehört mir. Und dann habe ich noch eine Kiste. – Isak ging sofort; mehr als gerne ging er. Die Bootsleute zeigten ihm die Kiste, aber wegen der Nähmaschine mußte Inger selbst kommen und sie heraussuchen. Es war ein schöner Kasten von unbekannter Form, mit einem rund Deckel und einem Henkel zum Tragen – eine Nähmaschine in dieser Gegend! Isak lud sich die Kiste und die Nähmaschine auf und sagte zu seiner Familie: Ich laufe rasch mit diesem hinauf ins Dorf, komme aber gleich wieder und trage dann sie, sagte er. – Wen tragen? fragte Inger lächelnd. Meinst du, das große Mädchen könne nicht gehen?

Sie gingen miteinander zu dem Pferd und dem Wagen hin. Hast du ein neues Pferd gekauft? fragte Inger. Und hast du einen Wagen mit einem Wagenstuhl? – Ja, das versteht sich. Doch was ich sagen wollte: Möchtest du nicht erst ein wenig essen? Ich habe Mundvorrat mitgebracht. – Das kann warten, bis wir das Dorf hinter uns haben, sagte sie. Was meinst du, Leopoldine, kannst du allein da sitzen? – Aber das wollte der Vater nicht leiden. Nein, sie könnte auf die Räder herunterfallen. Setz du dich mit ihr hinauf und nimm selbst die Zügel.

So fuhren sie ab, und Isak ging hinter dem Wagen her.

Er betrachtete die beiden auf dem Wagen. Da war nun Inger gekommen, fremd nach Anzug und Aussehen, vornehm, ohne Hasenscharte, nur mit einem roten Streifen auf der Oberlippe. Sie zischte nicht mehr, das war das Merkwürdige, sie sprach ganz rein. Ein grau und rot gestreiftes wollenes Kopftuch mit Fransen daran sah prachtvoll aus zu ihrem dunklen Haar. Sie wandte sich auf dem Sitz um und sagte: Es wäre gut, wenn du ein Fell mitgebracht hättest, es kann heute abend kühl für das Kind werden. – Sie kann meine Jacke haben, und wenn wir erst im Wald sind, so ist dort mein Fell, ich habe es dort hingelegt. – So, du hast ein Fell im Wald! –- Ja, ich habe es nicht den ganzen Weg auf dem Wagen mitnehmen wollen, falls ihr heute nicht gekommen wäret. – So. Was hast du gesagt, geht es den beiden Jungen auch gut? – Jawohl, danke für die Nachfrage. – Sie werden jetzt groß sein, das kann ich mir denken. Ja, daran fehlt's nicht. Sie haben jetzt gerade die Kartoffeln gelegt. – Ach so, sagte die Mutter und schüttelte den Kopf. Können sie schon Kartoffeln legen? - Eleseus geht mir bis hierher und Sivert bis hierher, versetzte Isak und maß an sich.

Die kleine Leopoldine bat um etwas zu essen. Ach, das nette kleine Geschöpf, ein Marienkäferchen auf einem Fuhrwerk! Sie sprach mit einem singenden Tonfall, in einer merkwürdigen Sprache von Drontheim, der Vater mußte es sich bisweilen übersetzen lassen. Sie hatte dieselben Züge wie die Jungen, die braunen Augen und die länglichen Wangen, die alle drei Kinder von der Mutter geerbt hatten; die Kinder waren der Mutter Kinder, und das war gut so! Isak war seinem Töchterdien gegenüber ein wenig schüchtern, angesichts ihrer kleinen Schuhe, der langen dünnen Wollstrümpfe und des kurzen Kleides! Als sie den fremden Vater begrüßte, hatte sie sich verneigt und ihm ein winziges Händchen hingereicht.

Im Walde angekommen, rasteten sie und aßen, das Pferd bekam sein Futter, und Leopoldine hüpfte mit ihrem Brot in der Hand im Heidekraut umher.

Du hast dich nicht sehr verändert, sagte Inger, indem sie ihren Mann betrachtete. – Isak sah auf die Seite und antwortete: So, meinst du? Aber du bist sehr vornehm geworden! – Haha! Nein, ich bin jetzt alt, erwiderte sie so recht scherzhaft. – Es war offenbar, Isak fühlte sich nicht recht sicher, er blieb zurückhaltend, war wie verschüchtert. Wie alt war wohl seine Frau? Sie konnte nicht jünger als dreißig sein – das heißt, sie konnte nicht mehr sein, unmöglich. Und obgleich Isak aß, riß er doch ein Zweiglein Heidekraut ab und kaute auch daran. Was, ißt du auch Heidekraut! rief Inger lachend. Isak warf das Heidekraut weg und steckte einen Bissen in den Mund, dann ging er hin und hob das Pferd vorne in die Höhe. Inger folgte diesem Auftritt mit Erstaunen, sie sah, daß das Pferd auf zwei Beinen stand. – Warum tust du das? fragte sie. – Es ist so zutraulich, sagte er von dem Pferd und ließ es wieder los. Warum hatte er das nur getan? Er hatte wohl eine mächtige Lust dazu verspürt. Vielleicht hatte er seine Verlegenheit dahinter verbergen wollen.



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[3]

Die von Isak gegründete Ansiedlung Sellanraa hat sich im Lauf der Jahre vergrößert. Ein Naturbeschreibung der Gegend. (S. 560 ff.)


Auf Sellanraa gab es große Veränderungen.

Ja, nichts war von der ersten Zeit her wiederzuerkennen! Hier waren nun verschiedene Gebäude, ein Sägewerk und eine Mühle, und die öden Strecken waren wohl bebautes Land geworden. Und noch mehr stand bevor. Aber Inger war vielleicht noch am merkwürdigsten, ganz anders wieder und überaus tüchtig.

Die Krise vom letzten Sommer hatte wohl nicht auf einmal ihren Leichtsinn besiegen können, im Anfang hatte sie mehrere Rückfälle, sie ertappte sich dabei, daß sie von der Anstalt und von Drontheims Domkirche sprechen wollte. Ach, so kleine, unschuldige Dinge! Ihren Ring zog sie vom Finger, und ihre so freimütig kurzen Röcke machte sie länger. Sie war nachdenklich geworden, es wurde stiller auf dem Hofe, die Besuche nahmen ab, die fremden Mädchen und Frauen aus dem Dorf kamen seltener, weil sie sich nicht mehr mit ihnen einließ. Niemand kann im Ödland leben und nur immer lachen und scherzen, Freude ist nicht Lustigkeit.

Droben im Ödland hat jede Jahreszeit ihre Wunder, aber immer und unveränderlich sind die dunklen, unermeßlichen Laute von Himmel und Erde, das Umringtsein nach allen Seiten hin, die Waldesdunkelheit, die Freundlichkeit der Bäume. Alles ist schwer und weich zugleich, kein Gedanke ist da unmöglich. Nördlich von Sellanraa lag ein ganz kleiner Teich, eine Lache, nur so groß wie ein Aquarium. Da tummelten sich winzige Fischkinder, die nie größer wurden; sie lebten und starben und waren zu nichts nütze, lieber Gott, zu rein gar nichts! Eines Abends stand Inger da und horchte auf die Kuhglocken, Sie hörte nichts, denn alles war totenstill ringsum, aber plötzlich vernahm sie Gesang aus dem Aquarium. Er war sehr schwach und beinahe nicht vernehmlich, nur wie hinsterbend. Das war das Lied der kleinwinzigen Fische.

Sellanraa lag so günstig, daß die Bewohner im Herbst und Frühjahr die Wildgänse, die über das Ödland hinflogen, sahen und ihr Rufen und Locken in der Luft droben hören konnten, es klang wie verwirrtes Reden. Und dann war es, als stehe die Welt stille, bis der Zug vorüber war. Fühlten sich die Menschen da nicht von einer Art Schwäche überfallen? Sie nahmen ihre Arbeit wieder auf, aber zuvor taten sie einen tiefen Atemzug, ein Hauch aus dem Jenseits hatte sie gestreift.

Große Wunder umgaben sie zu allen Zeiten. Im Winter die Sterne und auch die Nordlichter, ein flammendes Firmament, eine Feuersbrunst droben bei Gott. Hie und da, nicht oft, nicht für gewöhnlich, aber hie und da vernahmen sie auch Donnern. Das war hauptsächlich im Herbst, und es war düster und feierlich für Menschen und Tiere. Die Haustiere, die auf der nahen Wiese weideten, drängten sich zusammen und blieben beieinander stehen. Worauf horchten sie? Warteten sie auf das Ende? Und worauf warteten die Menschen im Ödland, wenn sie beim Grollen des Donners mit gesenktem Kopfe dastanden?

Der Frühling – jawohl, dessen Eile und Ausgelassenheit und Entzücken; aber der Herbst! Der stimmte die Leute anders. Da fürchteten sie sich oft in der Dunkelheit, und sie nahmen ihre Zuflucht zum Abendgebet, sie wurden hellseherisch und hörten Vorboten. Manchmal gingen sie an einem Herbsttag hinaus, um etwas hereinzuholen, die Männer vielleicht Holz, die Frauen das Vieh, das jetzt wie unsinnig nach Pilzen suchte – und sie kehrten zurück, das Herz von geheimnisvollen Dingen erfüllt. Waren sie unversehens auf eine Ameise getreten und hatten deren Hinterleib auf dem Pfad festgetreten, so daß der Vorderkörper nicht mehr loskommen konnte? Oder waren sie einem Schneehuhnnest zu nahe gekommen und war ihnen eine Mutter zischend entgegengeflattert? Und nicht einmal die großen Kuhpilze waren ohne Bedeutung. Der Mensch wird nicht starr und bleich, wenn er sie nur ansieht. Ein Kuhpilz blüht nicht und rührt sich nicht von der Stelle, aber es ist etwas überwältigendes an ihm, und er ist ein Ungeheuer, er gleicht einer Lunge, die nackt und ohne hüllenden Körper ein eigenes Leben führt.



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[4]

Wieder ist ein Mädchen der Kindstötung angeklagt, Barbro, die Magd und zeitweilige Geliebte des Nachbarn Axel Ström. Vor Gericht spricht die Frau des Lensmanns (Verwaltungsangestellten) Heyerdahl für Barbro. Der Text ist ein bemerkenswertes Dokument zur Lage und zu den Rechten der Frauen. (S. 684 ff.)


Barbro selbst konnte doch wohl nicht auf den Gedanken kommen, Aussagen zu machen, die ihren gewesenen Hausherrn und Liebsten belastet hätten; er war im Besitz eines gar zu furchtbaren Wissens, sowohl um diese wie um eine frühere Kindsangelegenheit, so dumm war Barbro nicht. Oh, und sie war schlau genug, sie lobte Axel und sagte, er habe nicht das geringste von ihrer Niederkunft gewußt, bis alles vorüber gewesen sei. Er sei ziemlich eigen, und sie stimmten nicht überein, aber er sei ein stiller Mann und ein ausgezeichneter Mensch. Nein, daß er ein neues Grab gegraben und die Leiche hineingetan habe, das sei viel später geschehen, und zwar nur deshalb, weil er meinte, das erste Grab sei nicht trocken genug; d.as sei es übrigens doch gewesen, nur sei Axel eben gar so eigen.

Was konnte also Axel geschehen, wenn Barbro so die ganze Schuld auf sich nahm? Und für Barbro selbst waren sehr mächtige Kräfte in Bewegung; die Frau Lensmann Heyerdahl war in Bewegung.

Sie ging zu Hoch und Nieder und schonte sich keineswegs, sie verlangte als Zeugin verhört zu werden und hielt vor Gericht eine große Rede. Als sie an die Reihe kam, stand sie vor den Schranken als recht vornehme Dame, sie erfaßte die Frage des Kindsmordes in ihrer ganzen Breite und hielt dem Gericht eine Vorlesung, man hätte meinen können, sie habe sich die Erlaubnis dazu im voraus erwirkt. Man konnte von der Frau Lensmann sonst denken, was man wollte, aber Reden halten konnte sie, und gelehrt in Politik und allen sozialen Fragen war sie. Es war nur ein Wunder, wo sie alle die Worte hernahm. Ab und zu hatte es den Anschein, als wolle der Vorsitzende versuchen, sie zu veranlassen, etwas mehr zur Sache zu kommen, aber er hatte augenscheinlich nicht das Herz, sie zu unterbrechen, und so ließ er sie weiterreden. Und zum Schluß förderte sie einige brauchbare Aufklärungen zutage und machte dem Gericht einen aufsehenerregenden Vorschlag.

Von rechtstechnischen Weitläufigkeiten abgesehen, ging die Geschichte zu wie folgt:

Wir Frauen, sagte die Frau Lensmann, wir sind die unglückliche und unterdrückte Hälfte der Menschheit. Die Männer machen die Gesetze, wir Frauen haben keinen Einfluß darauf. Aber kann sich nun etwa ein Mann hineinversetzen in das, was es für eine Frau heißt, ein Kind zu gebären? Hat er ihre Angst gefühlt, hat er die unsäglichen Schmerzen gefühlt, und hat er ihre Weheschreie ausgestoßen?

In dem Falle hier ist ein Dienstmädchen, das ein Kind geboren hat. Sie ist unverheiratet, sie muß also die ganze Zeit ihrer Schwangerschaft über ihren Zustand zu verbergen suchen. Warum muß sie ihn verbergen? Der Vorurteile der menschlichen Gesellschaft wegen. Diese Gesellschaft verachtet die Ledige, die ein Kind unter dem Herzen trägt. Sie beschützt sie nicht allein nicht, nein, sie verfolgt sie auch noch mit Schande und Verachtung. Ist das nicht haarsträubend? Jawohl, und jeder Mensch mit einem Herz im Leibe muß sich darüber empören! Das Mädchen muß nicht nur ein Kind gebären, was an sich schon schlimm genug wäre, nein, es soll auch noch dafür als Verbrecherin gebrandmarkt werden. Ich kann nur sagen, für dieses Mädchen hier auf der Anklagebank war es ein Glück, daß ihr Kind durch einen unglücklichen Zufall im Bach zur Welt kam und sofort ersticken mußte. Es war ein Glück für sie und für das Kind. Solange die Gesellschaft so ist wie jetzt, müßte eine ledige Mutter straffrei ausgehen, und wenn sie auch ihr Kind absichtlich umbringt!

Hier läßt der Vorsitzende ein schwaches Murren hören. Oder jedenfalls dürfte sie nur unbedeutend bestraft werden sagt die Frau Lensmann. Selbstverständlich sind wir alle darüber einig, daß das Leben des Kindes erhalten bleiben muß sagte sie, aber sollte denn von allen Gesetzen der Menschlichkeit gar kein einziges auch für die unglückliche Mutter gelten? Stellen Sie sich doch einmal vor, was sie alles während der Schwangerschaft durchgemacht hat, welche Qualen sie erduldet hat, um ihren Zustand zu verbergen, und wie sie keinen Ausweg mehr wußte weder für sich selbst noch für ihr Kind. Darein kann sich überhaupt kein Mensch versetzen, sagte sie. Das Kind stirbt jedenfalls eines wohlgemeinten Todes. Die Mutter wünscht weder sich selbst noch diesem lieben Kinde etwas so Böses! daß es leben soll, die Schande ist ihr zu schwer zu tragen, und indessen reift der Plan in ihr, das Kind zu töten. So gebiert sie im geheimen, und vierundzwanzig Stunden lang ist sie so von Sinnen, daß sie bei der Tat unzurechnungsfähig ist. Sie hat sie sozusagen gar nicht wirklich verübt, so von Sinnen ist sie. Während ihr noch von der Niederkunft jeder Knochen und jeder Muskel im Leibe weh tut, muß sie das Kind umbringen und die Leiche wegschaffen - stellen Sie sich einmal die Willensanspannung vor, die zu dieser Arbeit gehört! Aber natürlich wünschen wir alle, daß die Kinder am Leben bleiben und es ist schwer zu beklagen, daß das Leben von einigen ausgelöscht wird. Aber das ist einzig und allein die Schuld der menschlichen Gesellschaft, dieser hoffnungslosen, unbarmherzigen, verleumderischen, verfolgungswütigen, boshaften Gesellschaft die allzeit auf der Wacht steht, um die ledige Mutter mit allen Mitteln zu erdrosseln!

Aber selbst nach dieser Behandlung seitens der Gesellschaft können sich die mißhandelten Mütter wieder erheben. Sehr oft fangen gerade diese Mädchen nach ihrem gesellschaftlichen Fehltritt an, ihre besten und edelsten Eigenschaften zu entwickeln. Das Gericht könnte sich ja einmal bei den Vorsteherinnen der Asyle, in denen Mutter und Kind aufgenommen werden, erkundigen, ob das nicht wahr ist! Und es ist erfahrungsgemäß erwiesen, daß gerade die Mädchen, die – ja, die von der Gesellschaft gezwungen worden sind, ihr Kind zu töten, ausgezeichnete Kindermädchen werden. Das sollte doch jedermann Stoff zum Nachdenken geben.

Eine andere Seite der Sache ist die: Warum soll der Mann straffrei ausgehen? Die Mutter, die einen Kindsmord began-gen hat, wird gepeinigt und ins Gefängnis geworfen, er jedoch, der Vater des Kindes, der Verführer, dem geschieht nichts. Aber solange er der Urheber des Kindes ist, hat er auch teil an dem Morde, und zwar den größeren Anteil, ohne ihn wäre das Unglück überhaupt nicht geschehen. Warum geht er frank und frei aus? Weil die Gesetze von den Männern gemacht werden, das ist die Antwort. Man sollte laut den Himmel um Schutz gegen diese Männergesetze anrufen! Und das wird niemals besser, solange wir Frauen nicht bei den Wahlen und in den gesetzgebenden Versammlungen ein Wort mitzureden haben.

Aber, sagt die Frau Lensmann, wenn nun dieses grausame Gesetz die schuldige - oder mehr oder minder schuldige – unverheiratete Mutter trifft, die einen Kindsmord begeht, was sollen wir dann von der unschuldigen sagen, die nur des Mordes verdächtigt wird und gar keinen Kindsmord begangen hat? Welche Genugtuung gibt die Gesellschaft diesem ihrem Opfer? Keinerlei Genugtuung! Ich bezeuge, daß ich das hier sitzende angeklagte Mädchen kenne, seit es ein Kind gewesen ist; sie war in meinen Diensten, ihr Vater ist meines Mannes Amtsdiener. Wir Frauen erlauben uns, gerade entgegengesetzt zu denken und zu fühlen als die Männer mit ihren Anklagen und Verfolgungen, wir erlauben uns, eine Ansicht über die Dinge zu haben. Das Mädchen hier ist verhaftet und ihrer Freiheit beraubt, verdächtigt, erstens einmal im geheimen geboren und zweitens ihr Kind umgebracht zu haben. Sie hat – daran zweifle ich durchaus nicht – bei des nicht getan. Das Gericht wird selbst zu dieser sonnenklaren Schlußfolgerung kommen. Im geheimen? Sie hat am hellen Tag geboren. Wohl ist sie allein gewesen, aber wer hätte bei ihr sein sollen? Sie wohnte weit droben im Ödland, der einzige Mensch außer ihr selbst, der zur Stelle war, das war ein Mann; hätte sie einen solchen in diesem Augenblick zur Hilfe rufen sollen? Wir Frauen empören uns schon allein bei diesem Gedanken, wir schlagen schamvoll die Augen nieder. – Und dann soll sie das Kind getötet haben? Es wurde in einem Bach geboren, sie lag da in dem eiskalten Wasser, als sie gebar. Wie ist sie in den Bach gekommen? Sie ist ein Dienstmädchen, also eine Sklavin, sie hat ihre täglichen Pflichten zu erfüllen, sie wollte in den Wald, um Wacholder zum Scheuern ihres Melkeimers zu holen. Als sie durch den Bach watet, gleitet sie aus und fällt. Sie bleibt liegen, das Kind wird geboren und erstickt im Wasser.

Die Frau Lensmann hält inne. Sie konnte es den Richtern und den Zuhörern ansehen, daß sie wunderbar gut gesprochen hatte, es war mäuschenstill im Saal, und nur Barbro trocknete sich von Zeit zu Zeit die Augen vor Rührung. Dann schließt die Frau Lensmann: Wir Frauen haben ein Herz: Ich habe meine eigenen Kinder fremden Händen anvertraut, um hierherreisen, um für das unglückliche Mädchen, das hier sitzt, Zeugnis ablegen zu können. Männergesetze können einer Frau nicht verbieten, zu denken; ich denke, daß das Mädchen hier ausreichend bestraft ist, dafür daß sie überhaupt nichts Böses getan hat. Sprechen Sie die Angeklagte frei, dann werde ich sie mit nach Hause nehmen, und sie wird das ausgezeichnetste Kindermädchen werden, das ich je gehabt habe.

Die Frau Lensmann ist zu Ende.

Der Vorsitzende bemerkt: Ja aber, wären es nun nach der Rede der Frau Lensmann nicht eigentlich die Kindsmörderinnen, die die ausgezeichneten Kindermädchen geben sollen? Oh, aber der Vorsitzende war nicht uneinig mit Frau Lensmann Heyerdahl, ganz im Gegenteil, auch er fühlte menschlich, ganz priesterlich mild. Während der Staatsanwalt dann noch ein paar Fragen an die Frau Lensmann richtete, saß der Vorsitzende ruhig auf seinem Stuhl und schrieb sich Anmerkungen auf.



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