Leseproben aus: Marlen Haushofer, Die Mansarde
S. 34 ff., 101 f., 104, 186 ff.
[1] Die sechziger Jahre bilden den Hintergrund des Romans. Die Erzählerin macht sich Gedanken über die Qualität der Nahrungsmittel; Ilse ist ihre Tochter (S. 34 ff.)
[2] In ihren alten Tagebuchaufzeichnungen (die sie per Post erhält) berichtet die Erzählerin von einem Auftrag, ein Buch über Insekten zu illustrieren. Die anschließenden Überlegungen erstrecken sich auf die allgemeinen Erfahrungen ihrer Generation. (S. 101 f., 104)
[3] Die Erzählerin bekommt einmal im Monat Besuch von einer Frau, die bei ihr nur die "liebe Dame" heißt (S. 186 ff.)
[1]
Die sechziger Jahre bilden den Hintergrund des Romans. Die Erzählerin macht sich Gedanken über die Qualität der Nahrungsmittel; Ilse ist ihre Tochter (S. 34 ff.)
Ilse ist nicht weise. Sie erstarrt vor Langeweile und Abneigung, wenn sie mit Leuten zusammen ist, die sie nicht mag. Sie braucht nicht weise zu sein, sie wird immer das tun, was sie tun will, ohne Rücksicht auf andere. Sie ist auch nicht musikalisch, ein bißchen Kratzen und Kreischen stört sie nicht. Niemals mache ich mir Sorgen um Ilse, sie ist schon jetzt dort, wo ich nie war und nie sein werde. Ihre Sicherheit verschlägt mir oft den Atem.
Ilse gehört in die Familie meiner Mutter: Müller, Sägemüller und Bauern, Leute wie Milch und Blut, blond, helläugig und selbstsicher und gelegentlich ein wenig jähzornig. Leute, die keine Faxen machen, grob werden können, aber gutmütig und großzügig sind. Ich kenne diesen Schlag gut, denn ich bin ja mit ihm aufgewachsen. Im Haus meines Großvaters, das meine erste Heimat wart das heißt: meine einzige Heimat, denn eine andere habe ich nie gekannt.
Ich sehe die feuchten Wiesen, Wiesen voller Schneeglöckchen, Dotterblumen und Hahnenfuß, immer bedroht vom Hochwasser der Donau. Und ich sehe die prächtigen Hinterteile von Großvaters Kühen und die runden Apfelbäume im Obstgarten. Wenn die Bäume blühten, sahen sie aus wie rosa Wolken, und die Wolken am Himmelt runde pralle Wolken, sahen aus wie blühende Bäume. Oben und unten, es war kein Unterschied. Manchmal glaube ich den Geschmack des frischen Brotes auf der Zunge zu spüren oder den der gelben Butter, die es nicht mehr gibt, seit alle Milch in die Molkereien geht. Alles, was wir essen, ist ungenießbar geworden. Hühner, Schweine und Kälber schmecken nach aufgequollenen Waschlappen. Wenn ich Kalbsgulasch kochte, sagte Hubert: »Pfui Teufel, was riecht denn da so nach Leichen?« In letzter Zeit koche ich deshalb nur noch Rindsgulasch, vielleicht weigern sich die Kühe hartnäckig, etwas anderes zu fressen als Gras und Heu. Wahrscheinlich ist es ganz gut, daß Hubert raucht, dann merkt er nicht so genau, wie grauslich alles schmeckt. Es entgeht ihm, daß das Schlagobers stinkt und daß der Karpfen nach Petroleum riecht. Alles wird immer teurer, schmeckt immer schlechter und ist dafür bombastisch verpackt. Man denke nur, was sie aus den Pfirsichen gemacht haben, die bald kein Mensch mehr wird essen können. Vom Wurstzeug gar nicht zu reden. Für ein einziges altmodisches Butterbrot könnte ich auf unseren ganzen Wohlstand verzichten.
Das Unheimliche an diesem Zustand ist, daß jeder es weiß und kaum einer darüber redet. Wir schlucken geduldig hinunter, was man uns vorsetzt. Ochsen sind wir, die einen Ring durch die Nase tragen und brav auf vorgeschriebenen Pfaden dahintraben. Am Samstag hatte ich eingelegte Maiskolben und Artischocken gekauft. Sie waren sündteuer, und beides schmeckte wie Essiggurken. Für diese Dinge scheint kein Mensch zuständig zu sein. Es gibt keinen, den man dafür anklagen könnte. Denn vom Minister bis zum Hausmeister essen wir alle geduldig in Säure getränktes Löschpapier.
Die frischen Nüsse aus meiner Kindheit fielen mir ein. Wenn man Nußblätter in der Hand zerriebt erhob sich ein Duft, der in meiner Nase eine unauslöschliche Spur hinterlassen hat. Vielleicht riechen Nußblätter noch immer wie damals. Ich wage nicht, den Versuch zu unternehmen und der Sache auf den Grund zu gehen.
Oder liegt es nur an mir? Immer nur an mir, daß alles sich so verändert hat? Ist es so, wenn man alt wird? Ich bin siebenundvierzig, Hubert ist zweiundfünfzig; es kann noch eine Weile weitergehen.
[2]
In ihren alten Tagebuchaufzeichnungen (die sie per Post erhält) berichtet die Erzählerin von einem Auftrag, ein Buch über Insekten zu illustrieren. Die anschließenden Überlegungen erstrecken sich auf die allgemeinen Erfahrungen ihrer Generation. (S. 101 f., 104)
14. Februar
Noch immer liegt Schnee, aber es ist etwas wärmer geworden. Die Insekten sind fertig, Heuschrecken, Hummeln, Rosenkäfer, buntschillernde Fliegen und schreckliche Hornissen, auch Libellen und noch viele andere. Diese Wesen sind nicht zu verstehen und deshalb leicht zu zeichnen.
Als Kind hatte ich Angst vor Maulwurfsgrillen, vielleicht weil sie auf dem Land so verhaßt sind. Man sagte, sie seien so schädlich, daß ein Reiter vom Pferd steigen müsse, um sie zu zertreten. Ich selber habe mit großem Widerwillen und Grausen viele von ihnen zertreten. Sie waren für mich das Urbild des Häßlichen und Bösen. Jetzt mußte ich zum erstenmal eine zeichnen. Sie sah aus wie ein Alptraum, und ich begriff endlich, daß sie nur meine eigene Häßlichkeit und Bosheit war, fünf Zentimeter Bosheit auf gelbem Papier. Ich zerriß sie und zeichnete eine neue. Mitleid überfiel mich. Eine Maulwurfsgrille ist nicht böse und auch kein Alptraum. Ihr Braun ist nicht häßlich, sondern die Farbe der Erde. Ein armes, plumpes Geschöpf, das gehaßt und verfolgt wird, weil es Wurzeln frißt und dem Menschen unwissentlich in die Quere kommt. Sie sah so erstaunt und verloren aus, ein Wesen, das nicht begreifen kann, warum es gehaßt und verfolgt wird. Ich schloß sie ins Herz, und es wurde mein bestes Insektenbild. Kein Reiter soll mehr vom Pferd steigen und sie zertreten. Ich mag sie lieber als den schillernden Rosenkäfer oder die goldene Hornisse, die von aller Welt bewundert werden.
Bei den Insekten stört es nicht, daß sie so einsam aussehen. Jedes von ihnen ist umgeben von einer Aura der Fremdheit, meiner eigenen Fremdheit natürlich. Sie sind ganz in Ordnung so, nicht aber meine Vögel. Ich weiß, es müßte möglich sein, einen Vogel zu zeichnen, der nicht einsam ist; nur ich stehe mir dabei im Wege. Ich kann es einfach nicht, dabei schrecke ich nicht einmal vor unlauteren Methoden zurück. So malte ich einmal ein Meisenpärchen auf einem Ast. Sie hatten die Köpfchen einander zugewandt, und vielleicht täuscht das die Betrachter. Mich kann es nicht täuschen. Ich weiß nicht, was sie sehen, aber bestimmt erkennt keiner den andern. Es muß ein einzelner Vogel sein, und alles an ihm muß schreien: Ich bin nicht der einzige Vogel auf dieser Welt. Ich singe, und Millionen Stimmen erheben sich und antworten mir. Mein Lied ist ihr Lied, und meine Wärme glüht in ihren Körpern, wir sind eins. Ich bin ein sehr glücklicher Vogel, weil ich nicht allein bin.
Nachdem ich das alles gelesen hatte, trug ich es in den Keller und warf es in den Heizofen. Warum ich es verbrannte, weiß ich nicht genau, vielleicht nur aus einem gewissen Sinn für Ordnung. In meiner Mansarde soll es nur meine Bilder geben und nicht dieses gefährliche Zeug. Denn es ist gefährlich. Es erinnert mich an Dinge, die ich längst vergessen glaubte. In meiner Erinnerung war die Zeit in Pruschen ein sehr verschwommener Alptraum, ich will die Einzelheiten gar nicht mehr wissen, muß sie aber lesen, damit ich weiß, was da verbrannt und zerstört wird. Gestern hatte ich noch das Gefühl gehabt, die Geschichte einer fremden, unglücklichen jungen Frau zu lesen, heute war sie mir schon nähergekommen und versuchte, mich dorthin zurückzuziehen. Aber ich will nichts mit ihr zu tun haben. Ich mag sie nicht einmal.
(...)
Vielleicht bin ich ein bißchen verrückt und weiß es nur nicht. Es wäre schließlich kein Wunder. Die Verrücktheit, die meine ganze Generation befallen hat, ist die Folge von Ereignissen, denen wir nicht gewachsen waren. Wahrscheinlich gibt es Ereignisse, denen keine Generation gewachsen ist. Komisch und unverständlich müssen wir uns für unsere Kinder ausnehmen. Bis sie eines Tages vielleicht in eine ähnliche Lage kommen und so zurückbleiben werden, wie wir zurückgeblieben sind, unverständlich für alle Außenstehenden.
Deshalb ist es so wichtig, Geduld miteinander zu haben und jedes Wort zu überlegen und so zu leben, als sei gar nichts geschehen. Deshalb wundere ich mich nicht darüber, daß Hubert stundenlang vor seinem Schreibtisch sitzt, nur so sitzt und vor sich hinschaut. Was weiß ich denn von seinen Schutzmaßnahmen? Was weiß ich von seinen Erinnerungen, die er ganz fest abgekapselt hat und die immer wieder einmal durchzubrechen versuchen? Er hat mir nie über gewisse Zeiten seines Lebens erzählt, Zeiten, die ich im Luftschutzkeller verbrachte und er im Schützengraben. Lebenslang arbeitet er daran, diese Dinge zu vergessen; wenn er dabei ein bißchen seltsam wird, wer könnte es besser verstehen als ich?
Ein paar Jahre lang hat uns unsere Jugend und das Glück des Überlebthabens darüber hinweggetäuscht. Aber wir sind nicht jung geblieben, und ich habe als erste versagt. Hubert hätte übrigens nie Aufzeichnungen über sein Unglück gemacht, dafür muß ich ihn sehr bewundern.
[3]
Die Erzählerin bekommt einmal im Monat Besuch von einer Frau, die bei ihr nur die "liebe Dame" heißt (S. 186 ff.)
»Das Wetter sieht leider heute nicht so freundlich aus wie gestern«, sagte sie. »Ja«, sagte ich, »recht unangenehm.« Einen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen schien mir in ihrer Gegenwart unmöglich. »Ich freue mich schon so auf den Frühling«, teilte sie mir mit und lächelte mich vertraulich an. Ich flüchtete in die Küche, mit der Ausrede, Kaffee aufgießen zu müssen. Vorher legte ich ihr noch die zwei anständigsten Zeitschriften auf den Tisch, die ich in der Eile finden konnte. Ich war ganz verwirrt und versuchte mich in der Küche zu sammeln. Ich sagte mir, daß die liebe Dame doch auch nur ein Mensch sei und daher kein Grund zur Aufregung bestünde. Trotzdem beschloß ich, mich zusammenzureißen, nichts Anstößiges zu äußern und die liebe Dame in keiner Weise vor den Kopf zu stoßen. Nur ein Untier könnte das tun, und ich wollte kein Untier sein. Das Schlimme ist bloß, daß ich nicht weiß, was sie als anstößig empfindet. In manchen Dingen ist sie zimperlich wie – ich weiß nicht, wer oder was heute noch so zimperlich ist; ein andermal sagt sie wieder Dinge, die mich in Verlegenheit versetzen.
Endlich war der Kaffee eingeschenkt, der Gugelhupf aufgeschnitten, und die eigentliche Unterhaltung konnte beginnen.
Die liebe Dame: »Dieser Kaffee ist wirklich ausgezeichnet.«Das ist der Moment, in dem ich anfange, mich ein bißchen zu erholen. Ich berichte, daß wir alle wohlauf sind, und erkundige mich dann nach ihrer Familie. Diese Frage verschafft mir eine halbe Stunde der Entspannung. Ich höre, mit hoffentlich angemessenem Lächeln, daß der Mann im Ministerium äußerst beschäftigt ist und sich abends mit den Kindern beim Eisenbahnspielen erholt, daß der kleine Ewald die Röteln hatte, aber wieder genesen ist, daß Hildegard, das älteste Mädchen, ebenso wie Ilse auf Schiurlaub ist, daß Roswitha, die Dreizehnjährige, jetzt ohne Mandeln herumläuft und schon zwei Kilo zugenommen hat seit der Operation, und daß Reinhold, der Elfjährige, manchmal ein bißchen schlimm ist und redet, ohne gefragt worden zu sein. Dann bekommt er kein Kompott zum Nachtisch, und so wird sich seine Ungezogenheit schon wieder legen. Davon bin ich überzeugt. In dieser Familie hat sich noch immer alles gelegt. Die liebe Dame ist glücklich, mir ihr Familienleben schildern zu können, und ich bestaune sie gebührend.
Ich: »Wenigstens ist er nicht bitter.«
Die liebe Dame: »Nein, er ist keine Spur zu bitter.«
Schweigen.
Die liebe Dame: »Haben Sie den Dr. Schiwago gesehen?«
Ich: »Nein, wir gehen selten ins Kino.«
Die liebe Dame: »Ein wirkliches Meisterwerk. Sie müssen es unbedingt sehen, mein Mann war ganz begeistert.«
Ich: »Dauert es nicht sehr lange?«
Die liebe Dame: »Das schon, aber man ist so gefesselt, daß man die Zeit gar nicht merkt. Und diese Musik!«
Ich: »Aber die Sitze im Kino sind so hart.«
Die liebe Dame, mit leicht betroffenem Blick: »Aber ich bitte Sie!«
Ich, hastig: »Natürlich, das ist nicht so schlimm, ich meine nur ... «
Die liebe Dame, zartfühlend meine Verlegenheit übergehend:
»Und wie geht es Ihrer lieben Familie?«