Leseproben aus: Hermann Hesse, Narziss und Goldmund
Suhrkamp Taschenbuch
S. 48, 103, 251, 304
[1] Goldmund, der als Schüler in das Kloster Mariabronn kommt, gewinnt zunächst kaum Freunde unter seinen Kameraden. Narziss, der junge Lehrer, findet Gefallen an ihm und die beiden schließen trotz des Altersunterschieds Freundschaft. (S. 48)
[2] Goldmund hat das Kloster verlassen, da er spürt, dass die Mönchslaufbahn ihm nicht entspricht. Er geht auf Wanderschaft und führt ein unruhiges Leben. Die Frauen lieben ihn, er liebt die Frauen. Eine dauerhafte Partnerin findet er aber nicht (S. 103)
[3] Nach langer Zeit, in der die Pest im Lande gewütet hatte, kommt Goldmund zurück in die Stadt, in der er vor Jahren bei Meister Niklaus das Handwerk des Kunstbildhauers erlernt hatte. (S. 251)
[4] Goldmund kehrt ins Kloster zurück, dort lässt ihm sein Freund Narziss – jetzt Abt Johannes – eine Bildhauerwerkstatt einrichten. Nach Fertigstellung einer Marienskulptur geht Goldmund noch einmal auf Wanderschaft. (S. 304)
[1]
Goldmund, der als Schüler in das Kloster Mariabronn kommt, gewinnt zunächst kaum Freunde unter seinen Kameraden. Narziss, der junge Lehrer, findet Gefallen an ihm und die beiden schließen trotz des Altersunterschieds Freundschaft. (S. 48)
Ernst blickte Narziss ihn an: «Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch — einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.»
Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziss, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.
Narziss hatte sich warm geredet, er fühlte, dass Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, dass er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.
«Schau», sagte er, «es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewußtsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewußtsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. — Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem ändern, Lieber, bist du ja mir überlegen — vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.»
Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort
«Du hast deine Kindheit vergessen» zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen, ohne dass Narziss es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.
«Überlegen — — ich dir!» stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.
«Gewiß», sprach Narziss weiter. «Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben ...»
Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziss in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blaß und schloß die Augen, und als Narziss es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: «Es ist mir einmal passiert, dass ich vor dir zusammenbrach und weinen mußte — du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen — und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und lass mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.»
[2]
Goldmund hat das Kloster verlassen, da er spürt, dass die Mönchslaufbahn ihm nicht entspricht. Er geht auf Wanderschaft und führt ein unruhiges Leben. Die Frauen lieben ihn, er liebt die Frauen. Eine dauerhafte Partnerin findet er aber nicht (S. 103)
Achtes Kapitel
Eine lange Weile schon war Goldmund gewandert, selten ein zweites Mal am selben Ort zur Nacht, überall von Frauen begehrt und beglückt, von der Sonne braungebrannt, vom Wandern und von schmaler Kost gemagert. Viele Frauen hatten in der Morgenfrühe von ihm Abschied genommen und waren gegangen, manche mit Tränen, und manches Mal hatte er gedacht: «Warum bleibt keine bei mir? Warum, wenn sie schon mich lieben und einer Liebesnacht wegen die Ehe brechen — warum kehren sie alle sofort zu ihren Männern zurück, von denen sie meistens Prügel zu fürchten haben?» Keine hatte ihn ernstlich gebeten dazubleiben, keine einzige hatte ihn je gebeten, sie mitzunehmen, und war aus Liebe bereit gewesen, Freude und Not der Wanderschaft mit ihm zu teilen. Er hatte zwar keine dazu eingeladen, hatte keiner diesen Gedanken nahegelegt; wenn er sein Herz befragte, so sah er, dass seine Freiheit ihm lieb war, und er konnte sich keiner Geliebten erinnern, nach der die Sehnsucht ihn
nicht in den Armen der nächsten verlassen hätte. Aber dennoch war es ihm wunderlich und ein wenig traurig, dass überall Liebe so sehr vergänglich schien, die der Frauen wie seine eigene, dass sie ebenso schnell satt war wie entflammt. War das richtig? War das immer und überall so? Oder lag es an ihm selbst, war er vielleicht so beschaffen, dass die Weiber ihn zwar begehrten und schön fanden, aber keine Gemeinschaft mit ihm verlangten als die kurze, wortlose im Heu oder auf dem Moos? Lag es daran, dass er auf Wanderschaft lebte und dass die Sesshaften vor dem Leben der Heimatlosen ein Grauen fühlten? Oder lag es allein an ihm, an seiner Person, dass die Frauen ihn wie eine hübsche Puppe begehrten und an sich drückten, dann aber alle zu ihren Männern zurückliefen, auch wenn dort Schläge sie erwarteten? Er wusste es nicht.
Von den Frauen zu lernen wurde er nicht müde. Zwar zog es ihn mehr zu den Mädchen, zu den ganz Jungen, die noch keine Männer hatten und nichts wussten, in sie konnte er sich sehnlich verlieben; aber meistens waren die Mädchen unerreichbar, die geliebten, die schüchternen und wohlbehüteten. Aber auch von den Frauen lernte er gern. Jede ließ ihm etwas zurück, eine Gebärde, eine Art von Kuss, ein besonderes Spiel, eine besondere Art von Sichgeben oder von Sichwehren. Goldmund ging auf alles ein, er war unersättlich und biegsam wie ein Kind, er stand jeder Verführung offen: nur dadurch war er selbst so verführend. Seine Schönheit allein hätte nicht genügt, ihm die Frauen so leicht zuzuführen; es war diese Kindlichkeit, dies Offenstehen, diese neugierige Unschuld der Begierde, diese vollkommene Bereitschaft zu allem, was eine Frau irgend von ihm begehren mochte. Er war, ohne es selbst zu wissen, bei jeder Geliebten gerade so, wie sie ihn wünschte und erträumte, bei der einen zart und abwartend, bei der ändern rasch und zupackend, einmal kindlich wie ein zum erstenmal eingeweihter Knabe, einmal künstlich und unterrichtet. Er war zum Spielen bereit und zum Kämpfen, zum Seufzen und zum Lachen, zur Scham und zur Schamlosigkeit; er tat einer Frau nichts, was sie nicht begehrte, nichts, was nicht sie aus ihm hervorlockte. Das war es, was jede Frau von klugen Sinnen rasch in ihm witterte, dies machte ihn zu ihrem Liebling. Er aber lernte. Er lernte nicht nur in kurzer Zeit viele Liebesarten und Liebeskünste und nahm die Erfahrungen von vielen Geliebten in sich auf. Er lernte auch, die Frauen in ihrer Mannigfaltigkeit zu sehen, zu fühlen, zu tasten, zu riechen; er bekam ein zartes Ohr für jede Art von Stimme und lernte bei manchen Frauen schon aus deren Klang unfehlbar ihre Art und den Umfang ihrer Liebesfähigkeit erraten; er betrachtete mit immer neuem Entzücken die unendlich verschiedenen Arten, wie ein Kopf auf einem Halse sitzen, eine Stirn sich vom Haarwuchs sondern, eine Kniescheibe sich bewegen konnte. Er lernte im Dunkeln, mit geschlossenen Augen, mit zart prüfenden Fingern eine Art Frauenhaar von der andern unterscheiden, eine Art von Haut und Flaum von der andern. Er begann zu merken, schon früh, dass vielleicht hierin der Sinn seiner Wanderschaft liege, dass er vielleicht deshalb von einer Frau zur andern getrieben werde, damit er diese Fähigkeit des Kennens und Unterscheidens immer feiner, immer vielfältiger und tiefer erlerne und übe. Vielleicht war das seine Bestimmung: die Frauen und die Liebe auf tausend Arten und in tausend Verschiedenheiten bis zur Vollkommenheit kennenzulernen, so wie manche Musikanten nicht nur ein Instrument zu spielen wissen, sondern drei, vier, viele. Wozu freilich dies gut ist, wohin es führe, wusste er nicht; er spürte nur, dass er auf dem Wege sei. Mochte er für Latein und Logik zwar fähig, aber nicht in besonderer, erstaunlicher, seltener Weise begabt sein — für die Liebe, für das Spiel mit den Frauen war er es, hier lernte er ohne Mühe, hier vergaß er nichts, hier häuften und ordneten die Erfahrungen sich von selbst.
[3]
Nach langer Zeit, in der die Pest im Lande gewütet hatte, kommt Goldmund zurück in die Stadt, in der er vor Jahren bei Meister Niklaus das Handwerk des Kunstbildhauers erlernt hatte. (S. 251)
Alle diese vielen, weit zerstreuten Orte, diese Heiden und Wälder, diese Städte und Dörfer, Burgen und Klöster, alle diese Menschen, sie mochten leben oder tot sein, wusste er in sich innen vorhanden und miteinander verbunden, in seiner Erinnerung, in seiner Liebe, seiner Reue, seiner Sehnsucht. Und wenn morgen auch ihn der Tod holte, dann würde das alles wieder auseinanderfallen und auslöschen, dies ganze Bilderbuch, so voll von Frauen und Liebe, von Sommermorgen und Winternächten. Oh, es war an der Zeit, noch etwas zu tun, noch etwas zu schaffen und hinter sich zu lassen, das ihn überdaure.
Von diesem Leben, von diesen Wanderungen, von allen diesen Jahren seit seinem Auszug in die Welt war bis heute wenig Frucht übriggeblieben. Übriggeblieben waren die paar Figuren, die er einst in der Werkstatt gemacht hatte, namentlich der Johannes, und dann noch dies Bilderbuch, diese unwirkliche Welt in seinem Kopfe drin, diese schöne und schmerzliche Bilderwelt der Erinnerungen. Würde es ihm gelingen, einiges von dieser inneren Welt zu retten und nach außen zu stellen? Oder würde es nur immer so weitergehen: immer neue Städte, neue Landschaften, neue Frauen, neue Erlebnisse, neue Bilder, eins aufs andere gehäuft, von denen er nichts davontrug, als diese unruhige, ebenso quälende wie schöne Überfülltheit des Herzens?
Es war ja schmählich, wie man vom Leben genarrt wurde, es war zum Lachen und zum Weinen! Entweder lebte man, ließ seine Sinne spielen, sog sich voll an der Brust der alten Eva-Mutter — dann gab es zwar manche hohe Lust, aber keinen Schutz gegen die Vergänglichkeit; man war dann wie ein Pilz im Walde, der heut in schönen Farben strotzt und morgen verfault ist. Oder man setzte sich zur Wehr, man sperrte sich in eine Werkstatt ein und suchte dem flüchtigen Leben ein Denkmal zu bauen — dann musste man auf das Leben verzichten, dann war man bloß noch Werkzeug, dann stand man zwar im Dienst des Unvergänglichen, aber man dorrte dabei ein und verlor die Freiheit, Fülle und Lust des Lebens. So war es dem Meister Niklaus ergangen.
Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?
Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Sesshafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.
Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen; man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig — nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer musste man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere! Die Frauen hatten es hierin vielleicht leichter. Bei ihnen hatte die Natur es so geschaffen, dass von selbst die Lust ihre Frucht trug und aus dem Liebesglück das Kind wurde. Beim Manne war statt dieser einfachen Fruchtbarkeit die ewige Sehnsucht da. War der Gott, der alles so geschaffen hatte, denn böse oder feindselig, lachte er schadenfroh über seine eigene Schöpfung? Nein, er konnte nicht böse sein, wenn er die Rehe und Hirsche, die Fische und Vögel, den Wald, die Blumen, die Jahreszeiten geschaffen hatte. Aber der Riss ging durch seine Schöpfung, sei es nun, dass sie missglückt und unvollkommen war, sei es, dass Gott eben mit dieser Lücke und Sehnsucht des Menschendaseins besondere Absichten haben mochte, sei es, dass dies der Same des Feindes war, die Erbsünde? Aber warum denn sollte diese Sehnsucht und Ungenüge Sünde sein? Entstand nicht aus ihr alles Schöne und Heilige, was der Mensch geschaffen hatte und Gott als Dankesopfer zurückgab?
Von seinen Gedanken bedrückt, richtete er den Blick auf die Stadt, erspähte Markt und Fischmarkt, die Brücken, die Kirchen, das Rathaus. Und da war auch das Schloss, der stolze Bischofspalast, in dem jetzt der Graf Heinrich regierte. Unter diesen Türmen und langen Dächern wohnte Agnes, wohnte seine schöne königliche Geliebte, die so hochmütig aussah und in der Liebe sich doch so sehr vergessen und hingeben konnte. Freudig dachte er an sie, freudig und dankbar erinnerte er sich der vergangenen Nacht. Um das Glück dieser Nacht erleben, um diese wunderbare Frau so beglücken zu können, dazu hatte es seines ganzen Lebens bedurft, all der Schulung durch Frauen, all der Wanderschaft und Not, all der durchwanderten Schneenächte und all der Freundschaft und Vertrautheit mit Tieren, Blumen, Bäumen, Wassern, Fischen, Schmetterlingen. Es bedurfte dazu der in Wollust und in Gefahr geschärften Sinne, der Heimatlosigkeit, der ganzen in vielen Jahren gehäuften Bilderwelt im Innern. Solange sein Leben ein Garten war, in dem solche Zauberblumen wie Agnes blühten, durfte er nicht klagen.
[4]
Goldmund kehrt ins Kloster zurück, dort lässt ihm sein Freund Narziss – jetzt Abt Johannes – eine Bildhauerwerkstatt einrichten. Nach Fertigstellung einer Marienskulptur geht Goldmund noch einmal auf Wanderschaft. (S. 304)
«Werde ich dich denn wiedersehen?» fragte Narziss.
«O ja, wenn dein hübscher Gaul mir den Hals nicht bricht, wirst du mich gewiss wiedersehen. Es wäre ja sonst niemand da, der dich noch Narziss nennt und dir Sorgen macht. Verlass dich drauf. Vergiss nicht, ein Auge auf Erich zu haben. Und dass niemand mir meine Figur anrührt! Sie bleibt in meiner Kammer stehen, wie ich gesagt habe, und du darfst mir den Schlüssel nicht aus der Hand geben.»
«Freust du dich auf die Reise?»
Goldmund zwinkerte mit den Augen;
«Na, ich habe mich darauf gefreut, das ist schon so. Aber jetzt, wo ich losreiten soll, kommt es mir doch weniger lustig vor, als man meinen sollte. Du wirst mich auslachen, aber ich trenne mich gar nicht leicht, und diese Anhänglichkeit gefällt mir nicht. Es ist wie eine Krankheit, junge und gesunde Leute haben das nicht. Der Meister Niklaus war auch so. Ach, schwatzen wir nicht unnützes Zeug! Segne mich, Lieber, ich will abreisen.»
Er ritt davon.
Narziss war in seinen Gedanken viel mit dem Freunde beschäftigt, er sorgte um ihn und hatte Sehnsucht nach ihm. Würde er ihm denn zurückkommen, der entflohene Vogel, der liebe Leichtfuß? Nun zog dieser wunderliche und geliebte Mensch wieder seine krause, willenlose Bahn, nun strich er wieder lüstern und neugierig durch die Welt, seinen starken dunklen Trieben nach, stürmisch und unersättlich, ein großes Kind. Möge Gott mit ihm sein, möge er heil zurückkommen. Nun flog er wieder kreuz und quer, der Schmetterling, nun sündigte er wieder, verführte Frauen, ging seinen Gelüsten nach, geriet vielleicht wieder in Totschlag, in Gefahr und Gefangenschaft und kam darin um. Wieviel Sorgen machte einem dieser blonde Knabe, der über sein Altwerden klagte und aus solchen Kinderaugen blickte! Wie musste man um ihn in Angst sein. Und doch freute sich Narziss von Herzen über ihn.
Es gefiel ihm im Grunde sehr, dass dieses trotzige Kind so schwer zu bändigen war, dass er solche Launen hatte, dass er nun wieder ausgebrochen war und sich die Hörner ablief.
Jeden Tag kehrten die Gedanken des Abts zu irgendeiner Stunde zu seinem Freunde zurück, in Liebe und Sehnsucht, in Dankbarkeit, in Sorge, zuweilen auch mit Bedenken und Selbstvorwürfen. Hätte er dem Freunde nicht vielleicht mehr davon verraten sollen, wie sehr er ihn liebte, wie wenig er ihn anders wünschte, wie reich er durch ihn und durch seine Kunst geworden war? Er hatte ihm wenig davon gesagt, viel zu wenig vielleicht — wer weiß, ob er ihn nicht hätte halten können?
Er war durch Goldmund aber nicht nur reicher geworden. Er war durch ihn auch ärmer geworden, ärmer und schwächer, und es war gewiss gut, dass er das dem Freunde nicht gezeigt hatte. Die Welt, in der er lebte und Heimat hatte, seine Welt, sein Klosterleben, sein Amt, seine Gelehrsamkeit, sein schön gegliedertes Gedankengebäude waren ihm durch den Freund oft stark erschüttert und zweifelhaft geworden. Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen — war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Verrichtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.
Ja, und es war vielleicht nicht bloß kindlicher und menschlicher, ein Goldmundleben zu führen, es war am Ende wohl auch mutiger und größer, sich dem grausamen Strom und Wirrwarr zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen, sich einen schönen Gedankengarten voll Harmonie anzulegen und zwischen seinen behüteten Beeten sündelos zu wandeln. Es war vielleicht schwerer, tapferer und edler, mit zerrissenen Schuhen durch die Wälder und auf den Landstraßen zu wandern, Sonne und Regen, Hunger und Not zu leiden, mit den Freuden der Sinne zu spielen und sie mit Leiden zu bezahlen.
Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, dass ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, dass er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne dass im Heiligtum seiner Seele das göttliche Licht und die Schöpferkraft erlosch. Tief hatte Narziss in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar still-lebendigen, von innerer Form und Ordnung verklärten Gebilde hatte hervorgehen sehen, diese innigen, von Seele leuchtenden Gesichter, diese unschuldigen Pflanzen und Blumen, diese flehenden oder begnadeten Hände, all diese kühnen und sanften, stolzen oder heiligen Gebärden, seitdem wusste er wohl, dass in diesem unsteten Künstler- und Verführerherzen eine Fülle von Licht und Gottesgnade wohne.
Leicht hatte er es gehabt, in ihren Gesprächen dem Freund überlegen zu scheinen, dessen Leidenschaft seine Zucht und Gedankenordnung entgegenzusetzen. Aber war nicht jede kleine Gebärde einer Goldmundfigur, jedes Auge, jeder Mund, jede Ranke und Kleidfalte mehr, war wirklicher, lebendiger und unersetzlicher als alles, was ein Denker leisten konnte? Hatte dieser Künstler, dessen Herz so voll Widerstreit und Not war, nicht für unzählige Menschen, heutige und kommende, Sinnbilder ihrer Not und ihres Strebens aufgestellt, Gestalten, zu welchen Andacht und Ehrfurcht, Herzensangst und Sehnsucht Unzähliger sich wenden konnte, um in ihnen Trost, Bestätigung und Stärkung zu finden?
Lächelnd und traurig erinnerte Narziss sich all der Szenen seit früher Jugend, in denen er seinen Freund geführt und belehrt hatte. Dankbar hatte der Freund es angenommen, hatte immer wieder seine Überlegenheit und Führerschaft gelten lassen. Und dann hatte er in aller Stille die aus dem Sturm und Leid seines gepeitschten Lebens geborenen Werke hingestellt: keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen, sondern echtes, erhöhtes Leben. Wie arm war er selbst dagegen mit seinem Wissen, seiner Klosterzucht, seiner Dialektik!