Leseproben aus: Siri Hustvedt, Was ich liebte



S. 9, 142 ff., 429 ff.



[1] Der Anfang des Romans (von dem man als Schriftsteller viel lernen kann, S. 9)

[2] Die Familien verbringen sehr viel Zeit miteinander; Bill bringt Matt das Baseball-Spielen bei (S. 142 ff.)

[3] Als Bill stirbt, hinterlässt er ein angefangenes Projekt, in dem Videoaufnahmen eine wichtige Rolle spielen. Leo, der Erzähler, schaut sich die Aufnahmen an (S. 429 ff.)



[1]

Der Anfang des Romans (von dem man als Schriftsteller etwas lernen kann, S. 9)

Gestern fand ich Violets Briefe an Bill. Sie fielen zwischen den Seiten eines seiner Bücher heraus und flatterten zu Boden. Ich wusste seit Jahren von diesen Briefen, doch weder Bill noch Violet hatten mir je erzählt, was darin stand. Sie hatten mir nur erzählt, Bill habe, unmittelbar nachdem er den fünften und letzten gelesen hatte, sich seine Ehe mit Lucille noch einmal durch den Kopf gehen lassen, die Haustür in der Greene Street hinter sich zugeschlagen und sei schnurstracks zu Violets Wohnung im East Village gegangen. Als ich die Briefe in der Hand hielt, spürte ich das nachhaltige Gewicht jener Dinge, die verzaubert sind, weil man immer wieder Geschichten darüber gehört hat. Meine Augen sind schlecht geworden, und ich brauchte eine ganze Weile, um die Briefe zu lesen, doch es gelang mir, jedes Wort zu entziffern. Als ich sie aus der Hand legte, wusste ich, dass ich heute anfangen würde, dieses Buch zu schreiben.


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[2]

Die Familien verbringen sehr viel Zeit miteinander; Bill bringt Matt das Baseball-Spielen bei (S. 142 ff.)

Die Feinheiten des Spiels machten die Bindungen zwischen Matt und Bill noch enger. Wie ein gnostischer Priester, der einen Jünger in die Sekte aufnimmt, fütterte er Matt mit obskuren Schlag- und Laufstatistiken. Er brachte ihm Methoden bei, die Signale des Trainers - Winken, Arme bewegen, Nase berühren und am Ohr zupfen - zu entziffern, und er warf und schleuderte Matt im Hof den Ball zu, bis das Licht schwand und der Ball fast von der Dunkelheit verschluckt wurde. Das Interesse seines eigenen Sohnes an dem Spiel war mäßig. Manchmal schloss Mark sich den beiden Fanatikern an. Dann wieder ging er seiner Wege, sammelte Insekten in einem Gefäß oder lag einfach im Gras und starrte in den Himmel. Nie stellte ich bei Mark Anzeichen von Eifersucht gegenüber Matt fest. Er schien völlig zufrieden mit der wachsenden Freundschaft zwischen seinem Vater und seinem besten Freund.

Bill vereinte in einer Person Matts zwei große Leidenschaften: Baseball und Kunst, und ich beobachtete, wie sich seine Zuneigung zu Bill allmählich in Heldenverehrung verwandelte. In den letzten zwei Ferienmonaten, die wir in Vermont verbrachten, gewöhnte Matt sich an, darauf zu warten, dass Bill mit dem Arbeiten aufhörte. Er saß dann geduldig auf den Holzstufen vor dem improvisierten Atelier, meist mit einer Zeichnung auf dem Schoß. Hörte er Schritte, gefolgt vom Quietschen der Fliegengittertür, sprang er auf und wedelte mit dem Blatt Papier. Diese Szene sah ich oft von der Küche aus, wo ich der mir zugewiesenen Aufgabe - Gemüse putzen - nachging. Dann kam Bill aus dem kleinen Haus und blieb vor der Tür stehen. An warmen Tagen wischte er sich Stirn und Wangen mit einem seiner Mallappen ab, die er in der Hosentasche hatte, während Matt die verbleibenden Stufen zu ihm hinaufsprang. Bill nahm dann die Zeichnung, nickte lächelnd und fuhr Matt durchs Haar. Eins dieser Bilder war ein Geschenk für Bill- eine Farbstiftzeichnung von Jackie Robinson am Schlagmal. Matt hatte tagelang daran gearbeitet. Als Bill im September nach New York zurückfuhr, nahm er sie mit und hängte sie in seinem Atelier auf, wo sie jahrelang blieb.

Obwohl Matthew ständig Baseballspieler und Innenfelder zeichnete, hörte er auch nie auf, New York zu zeichnen und zu malen. Mit der Zeit wurden diese Bilder immer komplexer. Er malte die Stadt im Sonnenschein und unter ruhigen grauen Himmeln. Er malte sie bei heftigem Wind, Regen und wirbelnden Schneestürmen. Er zeichnete Ansichten der Stadt von oben, von der Seite und von unten und bevölkerte ihre Straßen mit soliden Geschäftsleuten, schicken Künstlern, dünnen Models, Pennern und den plappernden Verrückten, die wir täglich auf dem Schulweg sahen. Er zeichnete die Brooklyn Bridge, die Freiheitsstatue, das Chrysler Building und die Twin Towers. Wenn er mir diese Großstadtszenen brachte, nahm ich mir immer Zeit für sie, denn ich wusste, dass ihre Einzelheiten nur bei genauer Prüfung in Erscheinung traten - ein umschlungenes Paar in einem Park, ein schluchzendes Kind an einer Straßenecke neben seiner hilflosen Mutter, verirrte Touristen, Taschendiebe und Trickbetrüger.

In dem Sommer, als Matt neun wurde, begann er in fast alle seine Stadtzeichnungen eine Figur einzufügen: einen älteren Mann mit Bart. Gewöhnlich sah man ihn durch das Fenster seiner winzigen Wohnung, und er war, wie einer dieser Einsiedler von Hopper, immer allein. Eine graue Katze streifte über die Fensterbank oder lag zusammengerollt zu seinen Füßen, aber er hatte nie menschliche Gesellschaft. In einer Zeichnung bemerkte ich, dass der Mann gebeugt in seinem Sessel saß und den Kopf zwischen den Händen hielt.

«Der arme Kerl kommt immer wieder vor», sagte ich.

«Das ist Dave», sagte Matt. «Ich habe ihn Dave getauft.»

«Warum Dave?»

«Ich weiß nicht, er heißt nun mal so. Er ist einsam, und ich denke immer, er sollte jemand kennen lernen, aber wenn ich dazu komme, ihn zu malen, ist er immer allein.»

«Er sieht unglücklich aus», sagte ich.

«Er tut mir Leid. Sein einziger Freund ist Durango.» Er zeigte auf die Katze. «Und du kennst ja Katzen, Dad, sie interessieren sich nicht wirklich für einen.»

«Aha», sagte ich. «Vielleicht findet er ja noch einen Freund ... »

«Man würde meinen, ich könnte es einfach tun, weil ich ihn erfunden habe, aber Onkel Bill sagt, dass es so nicht funktioniert, dass man fühlen muss, was richtig ist, und manchmal ist das, was in der Kunst richtig ist, eben traurig.»

Ich sah in das ernste Gesicht meines Sohnes und dann hinunter zu Dave. Matt hatte sogar Adern auf die Hand des alten Mannes gemalt. Eine Kaffeetasse und ein Teller standen neben seinen Füßen. Es war noch immer die Zeichnung eines Kindes. Matts Perspektive war wacklig, seine Anatomie ein bisschen schief, doch die Linien, die den Körper dieses einsamen Mannes bildeten, berührten mich stark, und ich begann, immer wenn Matt mir eine seiner Stadtlandschaften gab, nach Dave Ausschau zu halten.


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[3]

Als Bill stirbt, hinterlässt er ein angefangenes Projekt, in dem Videoaufnahmen eine wichtige Rolle spielen. Leo, der Erzähler, schaut sich die Aufnahmen an (S. 429 ff.)

Die ersten Szenen auf dem Bildschirm zeigten Neugeborene – winzige Lebewesen mit unförmigen Köpfen und zarten, sich windenden Gliedern. Bills Kamera löste sich nie von diesen Säuglingen. Erwachsene kamen in Form von Armen, Oberkörpern, Schultern, Knien, Schenkeln und Stimmen vor, und gelegentlich drang ein großes Gesicht in den Fokus und näherte sich einem Baby. Das erste Kind schlief im Arm einer Frau. Das kleine Geschöpf hatte einen großen Schädel, dünne blaurote Ärmchen und Beinchen und war mit einem karierten Strampler und einer absurden kleinen weißen Haube bekleidet, die unter dem Kinn zugebunden war. Diesem Säugling folgte ein weiterer, vor die Brust eines Mannes geschnallt. Sein dunkles Haar stand nach oben ab wie das von Laszlo, und seine schwarzen Augen wandten sich in bassem Erstaunen der Kamera zu. Bill hielt damit auf Kinder, die in Wagen herumgefahren wurden, in Snugglys schliefen, sich auf den elterlichen Armen rekelten oder verzweifelt an einer Schulter weinten. Manchmal monologisierten unsichtbare Eltern oder Kinderfrauen über Schlafverhalten, Stillen, Milchpumpen und Spucken, während hinter ihnen der Verkehr rauschte, aber die Gespräche wie der Lärm untermalten nur die bewegten Bilder der kleinen Fremdlinge - die des einen, der seinen kahlen Kopf von der Brust seiner Mutter wegdrehte, während ihm die Milch aus den Mundwinkeln rann; die der dunkelhäutigen Schönheit, die im Schlaf an einer unsichtbaren Brust saugte und dann zu lächeln schien; die des hellwachen Babys, dessen blaue Augen zum Gesicht seiner Mutter hinaufwanderten und sie mit tiefer Konzentration anzusehen schienen.

Soweit ich erkennen konnte, war Bills einziges Leitprinzip das Alter gewesen. Er musste jeden Tag losgegangen sein und nach Kindern Ausschau gehalten haben, die etwas älter waren als die vom Vortag. Allmählich verließ seine Kamera die Säuglinge und wandte sich älteren Babys zu, die schon sitzen konnten, zirpten, quiekten, grunzten und jeden losen Gegenstand, dessen sie habhaft werden konnten, in den Mund steckten. Ein dickes kleines Mädchen nuckelte an seiner Flasche und zwirbelte begeistert das Haar seiner Mutter. Ein kleiner Junge heulte, weil sein Vater ihm einen Gummiball aus dem Mund zog. Ein anderes Baby streckte vom Schoß einer Frau die Hand nach einem wenige Zentimeter entfernten älteren Mädchen aus und begann, auf dessen Knien herumzutatschen. Eine erwachsene Hand tauchte auf und versetzte dem Arm des Babys einen Klaps. Bestimmt nicht sehr fest, denn das Kleine streckte erneut die Hand zum Tatschen aus, nur um wieder einen Klaps zu bekommen. Die Kamera wich einen Augenblick zurück und zeigte das erschöpfte, leere Gesicht der Frau, ehe sie auf ein drittes, schlafendes Kind in einem Buggy zoomte und ein paar Sekunden auf seine schmutzigen Wangen und die zwei durchsichtigen Rotzfahnen hielt, die ihm aus der Nase in den Mund liefen.

Bill filmte Kinder, die wie Äffchen im Park herumkrabbelten, und andere, die liefen und hinfielen, sich aufrappelten und weitertorkelten wie alte Trunkenbolde in einer Bar. Er nahm einen kleinen Jungen auf, der auf unsicheren Beinen neben einem großen, keuchenden Terrier stand. Der ganze Körper des Kindes bebte vor Aufregung, während es die Hand an die Schnauze des Hundes hielt und kurze Freudenlaute ausstieß: «Eh! Eh! Eh!» Dann sah man ein kleines Mädchen mit dicken Knien und Kul-lerbauch in einer Bäckerei stehen. Sie blickte nach oben und gab ein paar unverständliche Silben von sich, die von einer unsichtbaren Frau beantwortet wurden: «Das ist ein Ventilator, Schätzchen.» Mit zurückgelegtem Kopf und mahlenden Lippen starrte das Kind an die Decke und begann mit hoher, ehrfurchtsvoller Stimme das Wort «Lator» zu psalmodieren. Eine vor Wut platzende Zweijährige strampelte und schrie neben ihrer auf dem Bürgersteig hockenden Mutter, die eine Apfelsine hielt: «Aber Herzchen », sagte die Mutter in das Geheul hinein, «diese Apfelsine ist genau so wie die, die Julie bekommen hat. Da ist kein Unterschied.»

Als die Kinder, die Bill filmte, drei oder vier wurden, hörte ich zum ersten Mal seine Stimme. Beim Bild eines ernsten kleinen Jungen sagte er im Off: «Weißt du, was dein Herz macht?» Das Kind sah unverwandt in die Kamera, legte die Hand auf die Brust und sagte, ohne zu lächeln: «Es pumpt Blut in mich rein. Es kann bluten und leben.» Ein anderer Junge hielt eine Tüte Saft hoch, schüttelte sie und sagte zu der Frau, die neben ihm auf der Parkbank saß: «Mommy, mein Saft hat seine Schwer-kraft verloren.» Ein blondes Kind mit fast weißen Zöpfen lief im Kreis, hüpfte auf und ab, blieb plötzlich stehen, wandte sein gerötetes Gesicht der Kamera zu und sagte mit klarer, altkluger Stimme: «Glückliche Tränen schwitzen.» Ein kleines Mädchen mit verdrecktem Tutu und einem schief sitzenden Diadem beugte sich dicht zu einer Freundin, die einen rosa Rock auf dem Kopf trug. «Keine Sorge», flüsterte sie verschwörerisch. «Es hat geklappt. Ich habe den Mann angerufen, wir dürfen Brautjungfern sein.» - «Wie heißt deine Puppe?», fragte Bill ein adrett angezogenes kleines Mädchen mit zu einer Krone geflochtenem Haar. «Nur zu», sagte eine Frauenstimme, «du darfst es ihm sagen.» Das Mädchen kratzte sich am Arm und hielt die Puppe an einem Bein in die Kamera. «Shower», sagte sie.

Die anonymen Kinder kamen und gingen, wurden größer und älter. Bill beobachtete sie dabei und hielt mit der Kamera auf ihre Gesichter, während sie ihm erklärten, wie die Dinge funktionierten und woraus sie gemacht wurden. Ein Mädchen setzte ihm auseinander, dass Waschbären aus Raupen entstünden, ein anderes meinte, sein Gehirn sei aus Metall mit Augentropfen darin, und ein drittes behauptete, die Welt habe mit einem «dicken, dicken Ei» angefangen. Einige der Gefilmten schienen Bill nach einer Weile zu vergessen. Ein Junge schob den Finger in die Nase, bohrte vergnügt darin und holte ein paar krustige Popel heraus, die er prompt in den Mund steckte. Ein anderer, die Hand tief in der Hose, kratzte sich lustvoll seufzend die Eier. Ein kleines Mädchen beugte sich über einen Buggy. Sie gab gurrende Laute von sich, dann zwickte sie das Baby, das angeschnallt im Wagen saß. «Ich hab dich gern, du kleines Dickerchen», sagte sie und kniff und rubbelte seine Wange. «Mein Schnuckiputz», fügte sie ungestüm hinzu, als das Baby anfing zu schluchzen. «Lass das, Sarah», sagte eine Frau. «Sei lieb.» - «Ich war ja lieb», entgegnete Sarah mit zusammengekniffenen Augen und schloss fest den Mund.

Ein etwas älteres, ungefähr fünf Jahre altes Mädchen stand neben seiner Mutter auf dem Bürgersteig irgendwo in Midtown. Man sah die beiden von hinten vor einem Schaufenster. Nach einigen Sekunden war klar, dass Bill vor allem die Hand des Mädchens interessierte. Die Kamera folgte ihr, während sie über den Rücken der Mutter wanderte, nach oben zu den Schulterblättern, dann nach unten zum Gesäß. Selbstvergessen strich die kleine Hand den mütterlichen Rücken auf und ab. Er filmte auch einen Jungen am Straßenrand mit trotzig verzogenem Gesicht und blitzenden Tränen in den Augenwinkeln. Daneben eine vom Hals an abwärts sichtbare Frau, ihr Körper starr vor aufgestautem Zorn. «Ich hab's satt!», brüllte sie. «Ich hab die Nase voll von dir. Du benimmst dich wie ein kleines Arschloch, und ich will, dass du damit authörst!» Sie beugte sich über den Jungen, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. «Hör auf! Hör auf!» Tränen rollten die Wangen des Jungen hinunter, aber sein Ausdruck blieb stur und widerspenstig.

Die Bänder hatten etwas Resolutes, Erbarmungsloses, zeugten von einem beharrlichen Willen, scharf hinzuschauen. Die Kamera blieb dicht am Objekt, auch als die Kinder größer wurden und sich besser ausdrücken konnten. Ein Junge namens Ramon, der Bill erzählte, er sei sieben, erklärte, dass sein Onkel Hühner sammele: «Er kauft alles, wo ein Huhn drauf ist. Sein ganzer Keller ist voller Zeug mit Hühnern.» Ein pummeliger Junge in weiten kurzen Jeans, vermutlich acht oder neun, musterte finster einen größeren mit Baseballkappe, der eine Tüte Süßigkeiten in der Hand hielt. In jäher Wut sagte der Kleinere: «Ich scheiß auf dich», und stieß seinen Gegner heftig zu Boden. Süßigkeiten flogen durch die Luft, während der Junge am Boden frohlockte: «Er hat das S-Wort gesagt! Er hat das S-Wort gesagt!» Ein Paar Erwachsenenbeine kamen ins Bild gelaufen. Zwei kleine Mädchen in karierten Wolluniformen saßen tuschelnd auf Betonstufen. Ein Stück weiter verdrehte ein drittes Mädchen in der gleichen Uniform den Kopf nach ihnen. Bill filmte sie im Profil. Während sie die anderen beobachtete, schluckte sie ein paar Mal schwer. Die Kamera wanderte durch die Menge der Schulkinder und fokussierte einen Jungen mit einem Mund voll blinkender Brackys, der gerade seinen Rucksack abnahm und ihn seinem Nachbarn gegen die Schulter donnerte.

Je länger ich mir die Bilder ansah, umso mysteriöser fand ich sie. Was als gewöhnliche Bilder von Kindern in der Stadt begonnen hatte, wurde mit der Zeit ein bemerkenswertes Dokument menschlicher Eigenheit und Gleichheit. Es gab so viele verschiedene Kinder - dicke, dünne, helle, dunkle, schöne und unscheinbare, gesunde Kinder und solche, die verkrüppelt oder missgebildet waren. Bill hatte eine Gruppe kleiner Rollstuhlfahrer gefilmt, die über eine Hebebühne aus einem Bus auf die Straße abgesenkt wurden. Eine pausbäckige Achtjährige richtete sich beim Herunterrollen von der Plattform kerzengerade auf und winkte Bill mit spöttischer Grandezza. Er filmte einen Jungen mit einer Hasenscharte, der zuerst schief lächelte und dann ein furzendes Geräusch mit dem Mund machte. Er folgte einem anderen Jungen, dem eine undefinierbare Krankheit oder ein Geburtsfehler die Wangen aufgebläht und das Kinn genommen hatte. Er trug eine Art Beatmungsgerät und stampfte auf kurzen Beinen neben seiner Mutter her. Die Unterschiede zwischen den Kindern waren verblüffend, und doch vermischten sich ihre Gesichter am Ende. Vor allem offenbarten die Videos die unbändige Vitalität von Kindern, die Tatsache, dass sie im Wachzustand selten aufhören, sich zu bewegen. Ein schlichter Gang zur nächsten Straßenecke bedeutete Winken, Hüpfen, Springen, Herumwirbeln und vielfache Pausen, um ein Stück Abfall zu untersuchen, einen Hund zu streicheln oder auf einen Betonpoller oder ein Mäuerchen zu klettern. Auf dem Schulhof oder Spielplatz schubsten, boxten, traten, kniffen, knufften, küssten, umarmten sie sich, zerrten aneinander, schrien, lachten, summten und sangen, und während ich sie beobachtete, sagte ich mir, dass Erwachsenwerden wirklich Langsamerwerden bedeutet.

Bill starb, bevor die Kinder in die Pubertät kamen. Ein paar Mädchen ließen unter ihren T-Shirts oder den Blusen der Schuluniform Ansätze knospender Brüste erkennen, aber die meisten Kinder hatten noch gar nicht angefangen, sich zu verändern. Ich vermute, Bill hatte vorgehabt weiterzumachen, mehr und mehr Kinder zu filmen, bis zu jenem Augenblick, da die Gestalten auf dem Bildschirm nicht mehr von Erwachsenen zu unterscheiden gewesen wären. Als das Video zu Ende war und ich den Fernseher abgeschaltet hatte, war ich erschöpft und ein wenig mitgenommen von dieser Parade kindlicher Körper und Gesichter, von der schieren Menge jungen Lebens, die an mir vorbeigezogen war. Ich stellte mir Bill bei seiner rastlosen Suche nach Kindern, Kindern und noch mehr Kindern vor, die irgendein drängendes Verlangen in ihm selbst zu stillen vermochten. Was ich gesehen hatte, war ungeschnittenes Rohmaterial, doch insgesamt bildeten die Fragmente durchaus eine Syntax, die auf eine mögliche Bedeutung hin gelesen werden konnte. Es war, als hätte Bill die vielen von ihm dokumentierten Leben zu einer Einheit verschmelzen wollen, um das Eine im Vielen oder das Viele im Einen zu zeigen. Jeder hat einen Anfang und ein Ende. Immer wieder hatte ich beim Betrachten der Videobänder an Matthew gedacht, zuerst als Baby, dann als Kleinkind und schließlich als Junge, der für immer in der Kindheit stecken geblieben war.


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