Leseproben aus: Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich



S. 92 ff., 259 ff., 269 ff.



[1] Des Esseintes beschäftigt sich mit Bildern von Gustave Moreau, im Besonderen mit den Darstellungen der Enthauptung Johannes' des Täufers (S. 92 ff.)

[2] Wegen seiner angegriffenen Gesundheit braucht des Esseintes ärztliche Hilfe (S. 259 ff.)

[3] Niedertracht und Betrug innerhalb der Kirche lassen des Esseintes an allen gesellschaftlichen Normen verzweifeln (S. 269 ff.)





[1]

Des Esseintes beschäftigt sich mit Bildern von Gustave Moreau, im Besonderen mit den Darstellungen der Enthauptung Johannes' des Täufers (S. 92 ff.)


Von diesem Typus der Salome, der Künstler und Dichter so sehr heimsuchte, war des Esseintes seit Jahren besessen. Wie oft hatte er in der alten Bibel des Pierre Variquet in der Übersetzung der Doctores Theologiae an der Universität Löwen das Matthäusevangelium gelesen, das in kindlichen und kurzen Sätzen die Enthauptung des Täufers erzählt, wie oft hatte er über diesen Zeilen geträumt:

»Da aber Herodes seinen Jahrestag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel Herodes wohl. Darum verhieß er ihr mit einem Eide, er wollte ihr geben, was sie fordern würde. Und wie sie zuvor von ihrer Mutter angestiftet war, sprach sie: Gib mir her auf einer Schüssel das Haupt Johannes des Täufers! Und der König ward traurig; doch um des Eides willen und derer, die mit ihm zu Tisch saßen, befahl er's ihr zu geben. Und schickte hin und enthauptete Johannes im Gefängnis. Und sein Haupt ward hergetragen in einer Schüssel und dem Mägdlein gegeben; und sie brachte es ihrer Mutter.«

Doch weder Matthäus noch Markus, noch Lukas, noch die anderen Evangelisten verbreiteten sich über die berauschenden Reize, über die rührigen Frevel der Tänzerin. Sie war ausgelöscht, verlor sich geheimnisvoll und sinnesentrückt im fernen Nebel der Jahrhunderte, ungreifbar für die genauen, auf dem Boden der Tatsachen verharrenden Geister, zugänglich nur zerrütteten, geschärften, durch die Neurose gleichsam se-herisch gewordenen Gehirnen; widersetzlich Maler des Fleisches, gegen Rubens, der sie zum flämischen Schlachterweib vermummte, unbegreiflich für all die Schriftsteller, die die beunruhigende Exaltation der Tänzerin, die in Erhabenheit entrückte Größe der Mörderin niemals wiederzugeben vermochten.

In dem Werk Gustave Moreaus, gestaltet außerhalb aller Vorgaben des Neuen Testaments, sah des Esseintes endlich jene übermenschliche und seltsame Salome verwirklicht, die er erträumt hatte. Sie war nicht mehr nur die Gauklerin, die einem Greis durch eine verderbte Verrenkung ihrer Lenden einen Schrei des Verlangens und der Brunst entlockt; die durch das Wogen ihrer Brüste, die Stöße des Bauches, das Erzittern der Schenkel die Kampfkraft eines Königs bricht und seinen Willen zum Schmelzen bringt, sie wurde gewissermaßen die symbolische Gottheit der unzerstörbaren Ausschweifung, die Göttin der unsterblichen Hysterie, die verfluchte Schönheit, unter allen erwählt durch die Katalepsie, die ihr Fleisch versteift und ihre Muskeln verhärtet; das ungeheuerliche, gleichgültige, unverantwortliche, fühllose Tier, gleich der antiken Helena alles vergiftend, was ihr naht und sie erblickt, alles, woran sie rührt.

So verstanden, gehörte sie den Theogonien des Fernen Ostens an; sie hatte nichts mehr mit biblischen Traditionen zu tun, konnte nicht einmal mehr mit dem lebendigen Abbild Babylons in Beziehung gesetzt werden, der königlichen Buhlschaft der Apokalypse, die wie sie mit Juwelen und Purpur aufgeputzt war und geschminkt war wie sie; denn jene war nicht durch eine schicksalhafte Kraft, durch eine oberste Macht den lockenden Gemeinheiten der Ausschweifung anheimgefallen.

Im übrigen hatte der Maler offensichtlich seinen Willen bekräftigen wollen, außerhalb der Epochen zu verharren und keinesfalls die Herkunft, das Land, das Zeitalter zu bestimmen, indem er seine Salome mitten in diesen befremdlichen Palast von verworrenem und großartigem Stil verpflanzte, indem er sie mit prunkenden und chimärischen Gewändern bekleidete, sie mit einem unbestimmten Diadem in Form eines phönizischen Turms krönte, wie auch Salammbô eines trägt, indem er ihr schließlich das Isiszepter in die Hand gab, die heilige Blume Ägyptens und Indiens, den großen Lotos.

Des Esseintes suchte nach dem Sinn dieses Emblems. Hatte es jene phallische Bedeutung, die die Ursprungskulte Indiens ihm beilegen? kündete es dem alten Herodes die Darbringung der Jungfräulichkeit an, einen Austausch des Blutes, die Stachelung einer unreinen Wunde, dargeboten unter der ausdrücklichen Bedingung eines Mordes? oder verkörperte es die Allegorie der Fruchtbarkeit, den indischen Lebensmythos, eine Existenz, gehalten zwischen den Fingern einer Frau, entrissen, zerdrückt von den zuckenden Händen des Mannes, den ein Wahnwitz überkommt, eine Krisis des verirrten Fleisches?

Vielleicht hatte der Maler, der seine rätselhafte Göttin mit dem verehrten Lotos ausgestattet hatte, auch an die Tänzerin, die sterbliche Frau, an das besudelte Gefäß gedacht, den Grund aller Sünden und aller Verbrechen; vielleicht hatte er sich der Riten des alten Ägypten entsonnen, der Grabzeremonien des Einbalsamierens, wenn die Kräuterkundigen und die Priester den Leichnam der Toten auf einer Jaspisbank ausstreckten, ihr mit gebogenen Nadeln das Hirn durch die Nasenhöhlen und die Eingeweide durch den an ihrer linken Flanke angebrachten Schnitt herauszogen, um ihr dann, bevor sie ihr Nägel und Zähne vergoldeten und den Leib mit Harzen und Essenzen einrieben, die keuschen Blütenblätter der göttlichen Blume zur Reinigung in die Geschlechtsteile einzuführen.

Was immer es damit auf sich hatte, es ging von diesem Gemälde eine unwiderstehliche Faszination aus, doch das Aquarell mit dem Titel »Die Erscheinung« war vielleicht noch beunruhigender.

Da schwang sich des Herodes Palast empor wie eine Alhambra, auf leichten Säulen, irisierend von maurischen Kacheln, wie mit Silberbeton, mit Goldzement verkittet; Arabesken liefen von Lapislazuli-Rhomben aus, spannen sich über die Kuppeln, wo sich auf Perlmuttintarsien Regenbogenfarben und Prismengluten schlängelten.

Der Mord war vollbracht; nun stand der Henker fühllos, die Hände auf dem Knauf seines langen, blutbefleckten Schwertes.

Das abgehauene Haupt des Heiligen war von der auf die Fliesen gesetzten Platte emporgestiegen und blickte fahl, den Mund entfärbt, geöffnet, den Hals, von dem große Tropfen träuften, scharlachfarben. Ein Mosaik umrandete das Gesicht, von dem eine Aureole ausging, in Lichtgarben unter den Portikus ausstrahlend, die schreckliche Erhöhung des Kopfes erhellend, die glasigen Kugeln der Augäpfel beleuchtend, welche auf die Tänzerin gerichtet sind, sich gewissermaßen an ihr festklammern.

Mit einer Gebärde des Entsetzens weist Salome die schreckliche Vision von sich, die sie reglos auf den Fußspitzen festnagelt; ihre Augen weiten sich, ihre Hand umfaßt krampfhaft ihre Kehle.

Sie ist fast nackt; in der Hitze des Tanzes haben sich die Schleier gelöst, die Brokatstoffe haben nicht gehalten, sie ist nur noch mit Goldgeschmeiden und leuchtenden Steinen bekleidet; ein Mieder preßt ihre Gestalt wie ein Panzer zusammen; und wie eine prunkvolle Spange züngelt ein wunderbares Juwel seine Blitze aus der Vertiefung zwischen ihren beiden Brüsten; weiter unten, an den Hüften, umgibt sie ein Gürtel und verbirgt die Wölbung ihrer Schenkel, gegen die ein gewaltiges Gehänge schlägt, auf dem sich ein Strom von Karfunkeln und Smaragden ergießt; schließlich, auf dem nackt gebliebenen Körper zwischen Mieder und Gürtel, wölbt sich der Leib, gekehlt von einem Nabel, dessen Loch einem in Onyx gravierten Siegel gleicht, in milchigen Farbtönen und nagelrosa Schattierungen.

Unter den feurigen Strahlen, die dem Haupte des Täufers entweichen, entzünden sich alle Facetten der Geschmeide, die Steine beseelen sich, zeichnen den Körper der Frau in weißglühenden Strahlen; stechen auf Hals, Arme und Beine mit Feuerspitzen ein, purpurn wie Kohlen, violett wie Gasblitze, blau wie Alkoholflammen, weiß wie Sternenglast.

Der grausige Kopf flammt, indes er immer noch blutet und dunkelpurpurne Klümpchen sich auf Bart- und Haarspitzen ablagern. Nur für Salome sichtbar, umfängt er mit seinem düsteren Blick nicht Herodias, die Träumen über ihren endlich zum Ziele gelangten Haß nachhängt, noch den Vierfürsten, der, ein wenig nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien, noch keucht, betäubt von dieser weiblichen Nacktheit, die mit wilden Düften geschwängert ist, in Balsam gewälzt, gebeizt in Weihrauch und Myrrhen.

So wie der alte König verharrte des Esseintes niedergeschmettert, vernichtet, von Taumel ergriffen vor dieser Tänzerin, die weniger majestätisch, weniger hoheitsvoll, doch betörender war als die Salome des Ölgemäldes.

In der fühl- und mitleidlosen Statue, dem unschuldigen und gefährlichen Idol, waren Sinnlichkeit und Schrecknis des menschlichen Seins zutage getreten; der große Lotos war verschwunden, die Gottheit vergangen; ein schrecklicher Alp würgte nun die von den Drehungen des Tanzes verzückte Gauklerin, die Kurtisane, versteint, gebannt von Entsetzen.

Hier war sie wahrhaft Dirne, sie gehorchte ihrem Temperament als glühende und grausame Frau; sie lebte verfeinerter und wilder, gräßlicher und erlesener; sie weckte nachdrücklicher die lethargischen Sinne des Mannes, behexte und bändigte seinen Willen sicherer mit ihrem Zauber einer großen aphrodisischen Blüte, gesprossen auf dem Mistbeet des Sakrilegs, gewachsen im Treibhaus der Ruchlosigkeit.

Niemals, so sagte des Esseintes, in keiner Epoche, hatte das Aquarell diesen Farbenglanz zu erreichen vermocht; nie hatte die Armut der chemischen Farben auf dem Papier derartige Leuchteffekte der Steine so aufscheinen lassen, solche Lichter, wie von Kirchenfenstern unter der Glut der Sonnenstrahlen, eine so unglaubliche, so blendende Prachtentfaltung der Stoffe und des Fleisches.



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[2]

Wegen seiner angegriffenen Gesundheit braucht des Esseintes ärztliche Hilfe (S. 259 ff.)


Trotz allem verlieh ihm dieses Warten auf eine Linderung neue Kräfte, doch hatte er nun eine neue Besorgnis: wofern nur der Arzt in Paris wäre und auch gewillt, die Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen – und alsbald drückte ihn die Angst zu Boden, sein Diener habe ihn vielleicht nicht angetroffen. Er erlitt neuerliche Schwächeanfälle, wechselte von einer Sekunde auf die andere von der aberwitzigsten Hoffnung zu den verrücktesten Ängsten, übertrieb seine Aussichten auf plötzliche Heilung ebenso wie seine Befürchtungen vor unmittelbarer Gefahr; die Stunden verrannen, und der Augenblick kam, da er, verzweifelt, am Ende seiner Kraft und überzeugt, daß der Arzt endgültig nicht kommen werde, sich wutentbrannt wiederholte, er wäre, hätte man ihm beizeiten geholfen, sicher gerettet worden; dann schwand sein Zorn gegen den Diener, den Arzt, den er anklagte, ihn sterben zu lassen, und schließlich erboste er sich über sich selbst, machte sich Vorwürfe, so lange mit der Bitte um Hilfe gewartet zu haben, und redete sich ein, er wäre nun schon geheilt, wenn er nur gestern abend schon kräftigere Mittel und angemessenere Pflege verlangt hätte.

Nach und nach beruhigte sich dieser Wechsel von Ängsten und Hoffnungen, die in seinem leeren Kopf hin und her polterten; diese Nervenschocks machten ihn endgültig mürbe; er fiel in einen Erschöpfungsschlaf, den zusammenhanglose Träume durchzogen, in eine Art Ohnmacht, unterbrochen von unbewußten Wachphasen; so sehr hatte er schließlich das Bewußtsein seiner Wünsche und Ängste verloren, daß er verwirrt verharrte und weder Erstaunen noch Freude verspürte, als plötzlich der Arzt eintrat.

Gewiß hatte ihn der Diener über das Leben unterrichtet, das des Esseintes führte, und über die verschiedenen Symptome, die er selbst seit dem Tage hatte beobachten können, da er seinen von der Gewalt der Düfte niedergestreckten Herrn am Fenster aufgelesen hatte; denn er fragte den Kranken, dessen Vorleben er übrigens seit langen Jahren kannte, nur wenig; doch er untersuchte und auskultierte ihn und besah aufmerksam den Harn, in dem gewisse weiße Schlieren ihm eine der maßgeblichsten Ursachen seiner Neurose enthüllten. Er schrieb ein Rezept und ging wortlos fort, wobei er seine baldige Wiederkunft ankündigte.

Diese Visite ließ des Esseintes wieder zu Kräften kommen, der dennoch über solches Schweigen bestürzt war und den Diener beschwor, ihm nicht länger die Wahrheit zu verbergen. Dieser beteuerte, der Doktor zeige keinerlei Unruhe, und so mißtrauisch er war, konnte des Esseintes doch kein Zeichen erhaschen, das das Zögern einer Lüge auf dem ruhigen Gesicht des alten Mannes verraten hätte.

Nun heiterten sich seine Gedanken auf; übrigens waren seine Beschwerden abgeklungen, und die Schwäche, die er in allen Gliedern spürte, verschmolz mit einer gewissen Wohligkeit, einem zugleich unbestimmten und trägen angenehmen Gefühl; er war schließlich verblüfft und befriedigt, nicht mit Drogen und Säften vollgestopft zu werden, und ein trübes Lächeln regte sich auf seinen Lippen, als der Diener ein nährendes Pepsinklistier brachte und ihm Bescheid sagte, er werde diese Anwendung dreimal in vierundzwanzig Stunden wiederholen.

Die Prozedur gelang, und des Esseintes konnte sich verschwiegener Glückwünsche an sich selbst anläßlich dieses Ereignisses nicht entschlagen, das gewissermaßen die Daseinsweise, welche er sich geschaffen hatte, krönte; seine Neigung zum Künstlichen hatte nun, und sogar ohne seinen Willen: die höchste Erfüllung erreicht; weiter würde man nicht gelangen; die dergestalt aufgenommene Nahrung war zweifellos die äußerste Abartigkeit, die man begehen konnte.

»Es wäre köstlich«, sagte er sich, »wenn man, einmal bei voller Gesundheit, diese einfache Diät fortsetzen könnte. Welche Zeitersparnis, welche grundstürzende Befreiung von der Abneigung, die Fleisch Leuten ohne Appetit einflößt! welche endgültige Entlastung von dem Verdruß, der stets aus der notgedrungen beschränkten Auswahl an Gerichten erwächst! welch energischer Protest gegen die niedrige Sünde der Völlerei! welche entscheidende Schmähung schließlich, ins Antlitz jener alten Natur geschleudert, deren einförmige Erfordernisse auf immer zunichte gemacht wären!«

Und er fuhr fort, mit halblauter Stimme zu sich zu sprechen, es müsse leichtfallen. den Hunger durch Herunterstürzen eines scharfen Aperitifs anzustacheln; dann, wenn man sich folgerichtig sagen könne: »Wieviel Uhr ist es denn jetzt? Mir scheint, es ist Zeit, zu Tisch zu gehn, mir hängt der Magen durch«, würde man den Tisch decken, indem man das gewaltige Gerät aufs Tischtuch setzte, und dann, in der Zeit, die das Aufsagen des Tischgebets erfordert, hätte man die langweilige und gewöhnliche Plackerei des Essens übergangen.

Einige Tage danach brachte der Diener ein Klistier, dessen Farbe und Geruch sich gänzlich von jenen des Pepsins unterschieden.

»Aber das ist nicht mehr dasselbe!« rief des Esseintes, der sehr aufgeregt die in den Apparat geschüttete Flüssigkeit besah. Er verlangte, wie in einem Restaurant, die Karte und las, das Arztrezept entfaltend:

Dorschlebertran 20 g
Konzentrierte Rindsbrühe 200 g
Burgunderwein 200 g
Eigelb 1 Stck.

Er sinnierte. Er, der wegen der Zerrüttung seines Magens der Kochkunst keine ernsthafte Teilnahme hatte erweisen können, überraschte sich plötzlich dabei, über Zusammenstellungen eines Pseudogourmets zu brüten; dann schoß ihm eine verschrobene Idee durchs Hirn. Vielleicht hatte der Arzt geglaubt, seines Patienten seltsamer Gaumen sei des Pepsingeschmacks schon müde; vielleicht hatte er wie ein geschickter Küchenchef die Würze der Speisen ändern und so verhindern wollen, daß die Eintönigkeit der Gerichte eine gänzliche Appetitlosigkeit herbeiführte. Einmal diesen Überlegungen anheimgegeben, stellte des Esseintes völlig neuartige Rezepte zusammen, bereitete er Fastenmahlzeiten für den Freitag, wobei er die Dosen an Lebertran und Wein erhöhte und die Rindsbrühe als ein fleischliches, von der Kirche ausdrücklich verbotenes Essen strich; doch er hatte diese Nährlösungen bald nicht mehr zu erwägen, denn dem Arzt gelang es nach und nach, das Erbrechen in Zaum zu halten und ihn auf natürlichem Wege einen Punschsirup mit Fleischextrakt einnehmen zu lassen, dessen unbestimmtes Kakao-Aroma seinem wirklichen Mund zusagte.

Wochen verstrichen, und der Magen bequemte sich zu seinem Dienst, dann und wann kamen nochmals die Übelkeiten, die Ingwerbier und Rivières Arzneitrank gegen das Erbrechen gleichwohl einzudämmen vermochten.

Nach und nach erholten sich die Organe endlich wieder; mit Hilfe der Pepsine wurde wirkliches Fleisch verdaut; die Kräfte wurden wiederhergestellt, und des Esseintes konnte in seinem Zimmer aufrecht stehen und, auf einen Stock gestützt und sich an den Möbelecken einhaltend, Gehversuche machen. Statt sich indessen über diesen Erfolg zu freuen, vergaß er die vergangenen Leiden, regte sich über die lange Dauer der Genesung auf und warf dem Arzt vor, ihn zögerlich in kleinen Schritten zu behandeln. Tatsächlich verlangsamten fruchtlose Versuche die Heilung; ebensowenig wie die Chinarinde wurde das Eisen, selbst durch Laudanum gelindert, angenommen, und man mußte beides durch Arsenpräparate ersetzen, nachdem, wie des Esseintes ungeduldig feststellte, vierzehn Tage mit nutzlo-sen Anstrengungen vergeudet waren.

Schließlich kam der Moment, da er ganze Nachmittage aufbleiben und ohne Hilfe in seinen Räumen auf und ab gehen konnte. Nun fiel sein Arbeitszimmer ihm zur Last; Mängel, mit denen er sich durch Gewöhnung abgefunden hatte, sprangen ihm ins Auge, sobald er nun nach langer Abwesenheit dorthin zurückkehrte. Die Farben, die für das Lampenlicht gewählt waren, schienen sich ihm mit dem Tagesschein zu beißen; er erwog, sie zu ändern, und kombinierte stundenlang aufrührerische Farbharmonien, hybride Paarungen von Stoffen und Lederarten. »Ich bin entschieden auf dem Wege zur Gesundheit«, sagte er sich, da er die Rückkehr seiner ehemaligen Hauptinteressen und alten Verlockungen registrierte.



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[3]

Niedertracht und Betrug innerhalb der Kirche lassen des Esseintes an allen gesellschaftlichen Normen verzweifeln (S. 269 ff.)


Seit Jahren waren die heiligen Öle mit Geflügelfett, das Wachs mit kalziniertem Knochenmehl, der Weihrauch mit gewöhnlichem Harz und alter Benzoe versetzt. Was indessen schlimmer war: die für das heilige Opfer unerlässlichen Substanzen, die beiden Substanzen, ohne die eine Darbringung nicht möglich ist, waren ebenfalls verfälscht worden; der Wein durch vielfältiges Verschneiden, durch unerlaubte Zusätze von Pernambucoholz, Attichbeeren, Alkohol, Alaun, Salizyl und Bleiglätte; das Brot, jenes Brot der Eucharistie, das mit der feinen Blume der Getreide geknetet werden muß, mit Bohnen, Mehl, Pottasche und Tonerde.

Jetzt schließlich war man noch weiter gegangen; man hatte gewagt, den Weizen gänzlich wegzulassen, und schamlose Krämer fertigten fast alle Hostien aus Kartoffelmehl.

Nun weigerte sich Gott jedoch, in das Kartoffelmehl herabzusteigen. Dies war eine unleugbare, sichere Tatsache. Im zweiten Band seiner Moraltheologie hatte Seine Eminenz Kardinal Gousset ebenfalls lang und breit diese Frage des Betruges unter dem Blickpunkt des Göttlichen behandelt; und der unbestreitbaren Autorität dieses Meisters gemäß konnte man Brot aus Hafermehl, Buchweizen oder Gerste nicht konsekrieren; mochte der Fall bei Roggenbrot zumindest zweifelhaft bleiben, so konnte er keiner Diskussion unterliegen, zu keinem Theologenstreit Anlaß geben, wenn es sich um ein Stärkemehl handelte, das nach der kirchlichen Ausdrucksweise in keiner Hinsicht die Materia competens des Sakramentes war.

Infolge der raschen Verarbeitung des Stärkemehls und des schönen Erscheinungsbildes, das die mit diesem Grundstoff hergestellten ungesäuerten Brote boten, hatte sich dieser unwürdige Betrug derart ausgebreitet, daß das Geheimnis der Transsubstantiation sich fast nie mehr ereignete und die Priester und Gläubigen, ohne es zu wissen, mit neutralen Stoffen kommunizierten.

Ach, fern war die Zeit, da Radegunde, die Frankenkönigin, das für die Altäre bestimmte Brot selbst bereitete, die Zeit, da nach den Bräuchen von Cluny drei Priester oder drei Diakone, nüchtern, bekleidet mit Albe und Amikt, sich Gesicht und Finger wuschen, den Weizen Korn für Korn auswählten, ihn unterm Mühlstein zermalmten, den Teig in kaltem, reinem Wasser kneteten und ihn, Psalmen singend, auf hellem Feuer selbst buken!

»All dies ändert nichts daran«, sagte sich des Esseintes, »daß die Aussicht, sogar am Tisch des Herrn andauernd genarrt zu werden, der Verwurzelung bereits hinfälliger Gläubigkeit nicht dienlich ist; sodann, wie kann man diese Allmacht gelten lassen, die eine Messerspitze Stärkemehl und ein Quentchen Alkohol bremsen?«

Diese Überlegungen verdüsterten noch die Aussicht auf sein künftiges Leben, ließen seinen Horizont noch drohender und schwärzer werden.

Es blieb ihm entschieden kein Ankerplatz, kein Ufer. Was sollte aus ihm werden in diesem Paris, wo er weder Familie noch Freunde hatte? Nichts verband ihn mehr mit jenem Faubourg Saint-Germain, der vor Alter zitterte, der abgelebt in Staub zerfiel und inmitten einer neuen Gesellschaft dalag wie eine hohle und leere Hülse! Und welchen Berührungspunkt konnte es zwischen ihm und jener bürgerlichen Klasse geben, die nach und nach aufgestiegen war, jeglichen Zusammenbruch zu ihrer Bereicherung nutzend, alle Katastrophen heraufbeschwörend, um Achtung für ihre Anschläge und Diebstähle zu erzwingen?

Nach dem Geburtsadel war da nun der Geldadel, war da das Kalifat der Kontore, der Despotismus der Rue du Sentier, die Tyrannei des Handels mit den käuflichen und engen Begriffen, den eitlen und arglistigen Trieben.

Verbrecherischer und gemeiner als der abgehauste Adel und der heruntergekommene Klerus, entlehnte die Bourgeoisie bei diesen ihr frivoles Gepränge, ihre hinfällige Prahlerei, die sie durch ihren Mangel an Lebensart noch verschlimmerte. Sie stahl ihnen ihre Fehler, die sie in heuchlerische Laster wandelte; herrisch und heimtückisch, niederträchtig und feige, kartätschte sie mitleidlos den ewig und notwendigerweise von ihr betrogenen Pöbel nieder, den sie selbst des Maulkorbs entledigt und dazu abgerichtet hatte, den alten Kasten an die Gurgel zu springen!

Dies war nun eine feststehende Tatsache. Nachdem ihre Aufgabe einmal vollbracht war, hatte man als hygienische Maßnahme die Plebs weißbluten lassen; der abgesicherte Bourgeois saß kraft seines Geldes und seiner ansteckenden Dummheit jovial auf dem Thron. Das Ergebnis seiner Thronbesteigung war die Niederwalzung aller Intelligenz, die Verneinung aller Redlichkeit, der Tod aller Kunst gewesen; und in der Tat hatten sich die heruntergekommenen Künstler hingekniet und küßten in überschwenglicher Liebe die pestilenzialischen Füße der großen Roßtäuscher und niedrigen Satrapen, von deren Almosen sie lebten.

In der Malerei waltete eine Sintflut von kraftlosen Albernheiten; in der Literatur eine Vielschreiberei flachen Stils und duckmäuserischer Einfälle, denn der Börsenhai, er bedurfte der Ehrsamkeit; der Gauner, welcher einer Mitgift für seinen Sohn nachjagte und sie seiner Tochter zu zahlen sich weigerte, bedurfte der Tugend; der Voltaire-jünger, welcher den Klerus der Notzucht anklagte und sich heuchlerisch, dümmlich und ohne wirklich ästhetische Verderbnis in zweifelhaften Kammern am fettigen Wasser der Ausgußbecken und den lauwarmen Ferkeleien schmutziger Röcke zu schnüffeln anschickte, bedurfte der keuschen Liebe.

Es war die große Strafkolonie Amerikas, auf unseren Kontinent verlagert; es war schließlich die ungeheure, abgrundtiefe, unermeßliche Flegelei des Finanzmanns und Emporkömmlings, die wie eine niederträchtige Sonne auf die götzendienerische Stadt strahlte, welche bäuchlings vor dem ruchlosen Tabernakel der Banken unzüchtige Lobgesänge ejakulierte.

»Nun krache doch zusammen, Gesellschaft, stirb doch, alte Menschheit!« rief des Esseintes, empört über die Schändlichkeit des Schauspiels, das er sich vor Augen führte; dieser Schrei brach die Gewalt des Alps, der ihn bedrückte.

»Ach«, sagte er, »zu denken, daß all dies kein Traum ist; zu denken, daß ich in das schimpfliche und sklavische Gewühl der Welt zurückkehren werde!« Er rief die tröstlichen Maximen Schopenhauers zu Hilfe, um die Wunde vernarben zu lassen; er wiederholte sich Pascals schmerzliches Axiom: »Die Seele sieht nichts, das sie nicht betrübt, wenn sie daran denkt«, doch die Worte hallten in seinem Geist wider wie sinnberaubte Töne; sein Überdruß zersetzte sie, entkleidete sie aller Bedeutung, aller beruhigenden Wirkung, aller zuverlässigen und milden Kraft.

Er gewahrte schließlich, daß die Beweisführungen des Pessimismus nicht fähig waren, ihn zu trösten, daß allein der unmögliche Glaube an ein zukünftiges Leben imstande sein würde, ihn zu beschwichtigen. Ein Wutanfall fegte wie ein Orkan seine Versuche der Schicksalsergebung, seine Anläufe zur Gleichgültigkeit hinweg. Er konnte es sich nicht verhehlen, es gab nichts, nichts mehr, alles war am Boden; die Spießbürger fraßen genau wie in Clamart aus Papier auf ihren Knien, unter den großartigen Trümmern der Kirche, die ein Treffpunkt geworden waren, ein Haufen Abraum, beschmutzt von unsäglichen Anzüglichkeiten und schandbaren Zoten. Würden nicht der schreckliche Gott der Genesis und der bleiche, vom Kreuz von Golgatha abgenommene Mann - um ein für allemal zu zeigen, daß es Ihn gab verwichene Katastrophen neu entfachen, die Flammenregen wieder entzünden, die die einst verworfenen Gemeinwesen und die toten Städte verzehrten? Schickte sich dieser Schmutz an, weiterzurinnen und mit seinem Pesthauch die alte Welt zu bedecken, wo nur noch Saaten des Unrechts und Ernten der Schande gediehen?


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