Leseproben aus: Erhart Kästner, Ölberge, Weinberge



S. 1118 f., 146 ff., 185, 222 ff.



[1] Blau (S. 118 f.)

[2] Athen heute (S. 146 ff.)

[3] Hirten (S. 185)

[4] Ölbaum (S. 222 ff.)




[1]

Blau (S. 118 f.)

Von der Stadt Aigina bis zum Oros, dem Inselberg, führt eine Uferstraße dem Meere entlang. Man hat immer den Anblick der peloponnesischen Berge, die sich, blau über Blauem, jenseits des Golfes auffalten. Die griechische Landschaft ruht ganz auf dem Blau. Blau sind Gebirge, Wasser und Himmel, und das ist in Griechenland alles. Also, wer blau liebt, ist hier am richtigen Platz. Blaun ist die Seele der Farben Zwei von den vier Elementen sind blau: die Luft und das Wasser; es sind, im Vergleiche zum Feuer, dem Geist, und zur dunklen, nährenden Erde die kühleren, flüchtigeren seelenhafteren Stoffe der Welt. Blau ist die Sehnsucht, die Ferne; wir hoffen und vertrauen auf blau; blau ist, was wir niemals erreichen, blau steht am Ausgang der Welt. Das Rote dringt an; Feuer übermannt uns, Lohe schlägt uns entgegen, Sonnenstrahl trifft und Blitz droht auf uns niederzufahren. Blau ist unsere reinste Gegenbewegung; es ist unser Hinüberlangen und -bangen. Deshalb ist schmerzliches Ziehen im Blau, es findet kein Ziel und kein Ende. Die Antwort der Erde auf die Sonne ist blau: Meer, Himmel und Ferne. So erst wird Feuer zur Helle. Licht ohne das Blaue: wie das ist, das zeigen die Mond- und Stratosphärenaufnahmen. Also, was wäre das Licht ohne der Erde Sehnsuchtsverlangen? Ein Ruf, der im Weltraum verhallt. Dem Blau erfanden die Griechen einen eigenen Gott: Glaukos Pontios, den Gott der Meerbläue.


nach oben



[2]

Athen heute (S. 146 ff.)

Da kommt einer an in Athen, steigt auf einen der Hügel, schaut hinab auf die Stadt, die so lang seine Sehnsucht war: und was ists? Ein überlaufenes Meer von Würfelhäusern, silbergrau flimmernd im Heißen. Eine gestaltlose Stadt. Eine Stadt ohne Türme, von keinem Glockengeläut überhallt. Eine Stadt ohne Keller. Nichts von ewiger Stadt. Das insektenhafte Gewimmel der Häuser hat jede Planung durchkreuzt. Ein Schwarm kroch den Lykabettos, ein anderer Schwarm kroch den Hügel der Musen hinauf, wieder ein anderer wälzte sich zum Hymettos hinüber und quoll links und rechts Ardettos vorbei. Die Heilige Straße nach Eleusis ist ganz und gar überrannt; hier durch die endlose Vorstadt zu fahren, ist eine Tortur. Es gibt viele Quartiere, in denen sind nicht einmal die Straßen befestigt; sie sind nur in Eile und wie fürs erste gemacht. Die Winterwasser schwemmen rotsandigen Schutt darüber und wühlen kiesige Runsen hinein. Alles nur improvisiert. Die älteste und gepriesenste Stadt des Abendlands ist in Wahrheit eine der jüngsten. Sie ist nur ein Tauschkind, nicht echt.
Man steht am Kerameikos, dem Töpfermarkt der Antike, am Tor, wo Sokrates ging. Hier, denkt man, müßte man spüren: Athen, Herzmitte der Welt. Was aber fehlt? Warum ist es hier nicht wie auf dem Appischen Weg, der sich im Goldstaub der Campagna verliert, oder am Palatin oder an der Piazza Navona?

Ja, Rom. Wer denkt in Athen nicht an Rom. Obgleich in Rom das, was aus der Antike noch steht, nichts, wirklich nichts zu bedeuten vermag gegen eine einzige Parthenonsäule: wie stark aber vernimmt man die Mutterstimme der Ewigen Stadt. Da kommt man an und man kommt wie nach Haus. In seine eigenen Träume geht man hinein. Da ist man geborgen. Da reden die Steine zu jedem.

Doch Athen steht da und ist arm. Während der alte Stock Rom immer neu ausschlug und trieb, sank Athen in den Stand der Geschichtslosigkeit. Eines Tages war es leer. Und so blieb es Jahrhunderte lang; die Fremden vor hundert Jahren fanden auf aschenhafter, verbrannter Halde nur ein paar Häuschen unter der Burg. Dann diese bayerische Gründung, ein biedermeierliches Bürger-Athen, schön und romantisch, aber zu schwach; künstlich, nur ein humanistischer Traum ohne Kosten; nach Athen zurückgesandte Ludwigstraßen-Architektur. So etwas war natürlich dem Sturm nicht gewachsen. Es erlag den letzten Jahrzehnten, schmolz dahin und verlor das Gesicht.

Während Rom, immerhin, die Keller unter sich hatte, um sich in Zeiten der Schwäche und der Verwirrung aus dem aufsteigenden Hauche zu nähren: Katakomben und Krypten.


DENKMAL FÜR EINEN AMERIKANER

Freunde erzählten von einem Amerikaner, der seinen griechischen Aufenthalt nach vierzehn Tagen abbrach und, Verstörung in Wort und Gebärde bekundend, dem Flugplatz zustrebte. Es war ein gebildeter Mann, der bis dahin für Griechenland schwärmte; er erlebte eine grenzenlose Enttäuschung. Er empfand Abscheu vor dem ausgebrannten, kahlen, halbwüsten Land, das eine tiefe Neigung zum Halbkaputten besaß; er hatte an liebliche Auen und Anmut gedacht. Der Mangel an technischer Bewältigungskraft entrüstete ihn. In Athen fand er keineswegs eine klassische, vielmehr massenhaft wimmelnde Stadt; dabei kam er gar nicht in die trostlosen Vorstadt- und Flüchtlingsquartiere. Das Volk schien ihm zu leiden: um so etwas zu sehen, war er gerade nach dem heiteren Hellas gekommen. Mehr noch aber montierte ihn der offenbare Verzicht, an allgemeine Wohlfahrt zu glauben, vielmehr allgemeine Übelfahrt für unumgänglich zu halten: dieser Verzicht auf den Optimismus seines ans Ziel gelangten Jahrhunderts beleidigte das Bild seiner Welt. Dazu kamen die Kellner in den Hotels, die ihn mit Wonne betrogen, und die Taxifahrer und Händler, deren Preise sich nicht nach der Leistung, sondern natürlich nach der Intelligenz des Kunden bemaßen. Sogar ein Konzert, das Furtwängler mit den Wiener Philharmonikern im antiken Theater von Epidauros darbot, zweitausend Autofahrer waren deshalb in die unwirtliche Gegend gekommen: sogar dieser gigantische Akt des Snobismus, gleichsam ihn zu ehren gedacht, vermochte ihn nicht zu versöhnen. Er flog ab.

Ein Denkmal wäre diesem unbekannten Amerikaner zu setzen, denn er betrog sich wenigstens nicht. Er verschmähte es, sich zu einem Enthusiasmus zu zwingen, den jeder Griechenlandfahrer von sich verlangt und, da er nun einmal Reisegeld, Mühe und Bildung aufgewandt hat, natürlich auch heimbringen möchte. Man muß mißtrauisch werden, wenn jemand vier Wochen in Griechenland war und behauptet, es herrlich gefunden zu haben. Wahr ist, daß Griechenland zunächst einmal abstößt, enttäuscht und ärgerlich macht. Das Land, in diesem Punkt weiser als seine Bewohner, widersetzt sich dem Reisebetrieb wie einem erbitterten Feind. Die paar archäologischen Plätze sind die Rückzugslinie, bis zu der es sich preisgab: die Position war nicht zu halten und vielleicht auch des Haltens nicht wert. Dicht dahinter, die griechische Wildnis, blieb heil. Das Reisen im alten, gleichnisbehafteten Sinn ist doch niemals Zerstreuung gewesen, Griechenland läßt sich doch nicht besichtigen: seit wann läßt sich denn Schönheit besichtigen, dann ist es doch keine. Das ist nicht wie in Italien, wo eine bellezza nach der andern auf silberner Platte durch die Luft heranschwebt und alles von tausend Pinseln und Federn erkannt ist. Dergleichen ist eher verdächtig. Wer je eine Begegnung mit der Schönheit erfuhr, weiß doch: sie ist immer ganz anders. Das Schöne tritt nie dort ein, wo man heimlich ein wenig die Tür offen ließ, damit es den Zugang ja finde; es kommt immer anderswoher. Es befremdet und ärgert ein bißchen. Noch etwas: es wird zuweilen an einer etwas tiefer gelegenen Stelle des Bühnendunkels aufscheinen, als man gedacht hat; etwas unterhalb der Erwartung. Gern tritt es über die Schwelle einer gewissen Enttäuschung herein.


nach oben



[3]

Hirten (S. 185)

Die Hirten Arkadiens sind arm, sehr arm, und abgesehen davon fehlte ihnen damals das Brot; sie lebten meistens von Milch und Käse allein. Alter und Krankheit haben größere Macht über sie als in den Städten, und ob sie besser und zufriedener sind als die Menschen im Tal, kann ich nicht wissen. Aber sag einem Hirten, daß es in seinen Bergen schön ist, so wird er es dankbar bejahen. Was sie besitzen, besitzen sie, solang sie das Augenlicht haben und das Rot erblicken, das ihnen der Morgen und Abend auf den Höhen entzündet, solang ihnen die Quellen klarbleiben, solang sie gesund sind und auf den Hängen liegen den ganzen Tag. Sie haben Zeit. Das Leben geht ihnen vorbei wie ein Lied. Sie haben nichts zu erreichen. Was ihnen das Leben schenkt, schenkt es von selbst. Der Ehrgeiz hat keine Macht über sie und deshalb verstehen sie vieles, was in der Welt geschieht, nicht. Sie kennen die Langeweile nicht, die Krankheit, deren Widersinn darin liegt, daß man heftig wünscht, die kleine Zeit möge verrinnen, während man zugleich von der Angst erfüllt ist, die große werde zu schnell verrinnen. Sie schenken gerne und leicht und ohne Selbstüberwindung, was allein den Namen des Schenkens verdient, weil dann aus dem Menschen Güte wie Göttliches quillt.


nach oben



[4]

Ölbaum (S. 222 ff.)

Nur drei Dinge könnte ich nennen, die ich an diesem Lande in gleichem Maße liebe: den Ölbaum, die Granatapfelblüte und die Zikaden. Es hat sich in mir die Überzeugung gefestigt, daß man nur dort wirklich lebt, wo Zikadengeschrill die Mittage füllt und wo Ölbäume stehn. Der Ölbaum ist der Baum aller Bäume, ich liebe ihn. Er hat den Segen, die Stille. Als er sich ausbildete, hat er offenbar überhaupt nicht an sich, nur an den Menschen gedacht. Reine Sorge: Öl gegen den Hunger, Öl für den Körper, die Haut und die Haare, Öl für die Lampe als Licht, Öl als Träger von Duft, der Ölzweig als Friedenszeichen und Siegerpreis. Einen Ölzweig hing der Vater vor die Haustür, wenn ihm ein Sohn geboren war. Er ist das Altwerdenkönnen. Denn er beginnt erst mit fünfzig, sechzig und siebzig Jahren etwas zu taugen und in einem Uralter von mehreren hundert Jahren trägt er auch noch. Er soll mehr als tausend Jahre alt werden. Er ist die bildgewordene Geduld und die bildgewordene Zeit. Es ist wie ein Wunder, daß er gerade aus dem allertrockensten kalkigen Boden seinen Saft preßt wie im Schraubendruck einer Kelter; den fetten und tief gelockerten Boden mag er gar nicht. Wie bescheiden er ist, sieht man an seiner Blüte. Das ist wie bei Getreide und Wein, die sich mit Blütenprunk auch nicht abgeben. Er macht nur ganz zaghafte Perlchen; sie sind hinterm Silbergraugrün der gefiederten Blätter verborgen und duften fast nicht, nur ein bißchen nach Jugend.

Es gibt natürlich ebenso schöne Ölbäume in Italien und in der Provence; aber nur in Griechenland zeigt der Ölbaum sein Durchscheinendes an. Kann man den Platon lesen, ohne den Ölwald silbern schimmern zu sehen, der sich den Kephisos entlang über die Akademia hinzog? und sein Geflüster zu hören? Für dieselben Bäume am Kolonos sind die wunderbaren Sophokleischen Verse gedichtet.

Denn das ist es doch: die Dichter haben ihn immer geliebt. Das hat sich natürlich auf seine Blätter und Zweige niedergeschlagen wie Tau, der nun abträuft: sichtbar, unsichtbar nur für die Blinden. Dergleichen ist doch wie der Schimmer, den Athene über ihre Lieblinge goß: da überschüttete sie mit Anmut Schulter und Haupt ihm.

Wenn Vult, der Flötenspieler in den Flegeljahren, nach langer Zeit wieder ins Heimatdorf kommt und unerkannt durchs Backofenfenster in die leere Stube im Vaterhaus blickt, so heißt es: "... der rote Tisch, die roten Wandbänke, die runden Löffel in der hölzernen Wandleiste, um den Ofen das Trockengestell... aber alles war in den Stein der Ewigkeit gehauen" Was geliebt wird, ist anders geworden, nichts wird vergeblich verehrt. Ein bedichtetes Tal ist für Zeit und Ewigkeit schöner als eines, das keiner besang, und ein Fluß, der einmal ein Gott war, wird für immer aufglänzen, so wie ein geliebter Mensch schöner ist, als ein ungeliebter sein kann.


nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken