Leseprobe aus: Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt



S. 268 ff.



Humboldt, inzwischen einer der angesehensten deutschen Naturforscher, reist mit Unterstützung des preußischen Königs nach Russland. (S. 268 ff.)





Nachmittags machte er lange Spaziergänge durch die Wälder. Inzwischen verirrte er sich nicht mehr, er kannte diese Gegend besser als irgend jemand sonst, schließlich hatte er all dies auf der Karte fixiert. Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde. Es begann zu regnen, er stellte sich zum Schutz unter einen Baum. Das Gras zitterte, es roch nach frischer Erde, und er hätte nirgendwo anders sein wollen als hier.

Humboldts Troß kam nicht gut voran. Seine Abreise war in die Zeit der Schneeschmelze gefallen; ein Planungsfehler, wie er ihm früher nicht unterlaufen wäre. Die Kutschen sanken im Lehm ein und kamen ständig von der durchnäßten Straße ab, immer wieder mußten sie anhalten und warten. Die Kolonne war zu lang, sie waren zu viele Menschen. Schon Königsberg erreichten sie später als berechnet. Professor Bessel empfing Humboldt mit einem Redeschwall, führte sie durch die neue Sternwarte und ließ seinen Gästen die größte Bernsteinkollektion des Landes zeigen. Humboldt fragte ihn, ob er nicht früher mit Professor Gauß gearbeitet habe.

Der Höhepunkt seines Lebens, sagte Bessel, wenn auch nicht einfach. Von dem Moment, als der Fürst der Mathematiker ihm in Bremen empfohlen habe, die Wissenschaft aufzugeben und Koch zu werden oder Hufschmied, falls das nicht schon zu anspruchsvoll für ihn sei, habe er sich lange nicht erholt. Immerhin habe er noch Glück gehabt, sein Freund Bartels in Petersburg habe es mit diesem Mann schlimmer getroffen. Gegen solche Überlegenheit helfe nur Sympathie. Auf der Weiterfahrt nach Tilsit war die Straße vereist, mehrmals brachen die Wagen ein. An der russischen Grenze stand ein Kosakentrupp, der angewiesen war, sie zu begleiten.

Das sei wirklich nicht nötig, sagte Humboldt.

Er solle ihm vertrauen, sagte der Kommandant, es sei nötig.

Er habe Jahre ohne Begleitschutz in der Wildnis verbracht!

Dies sei nicht die Wildnis, sagte der Kommandant. Dies sei Rußland.

Vor Dorpat warteten ein Dutzend Journalisten sowie die gesamte naturwissenschaftliche Fakultät. Sofort wollte man ihnen die mineralogischen und botanischen Sammlungen zeigen.

Gern, sagte Humboldt, allerdings sei er nicht der Museen, sondern der Natur wegen hier.

Um die könne sich einstweilen er kümmern, sagte Rose diensteifrig, daran solle es nicht scheitern, dafür sei er ja mitgereist!

Während Rose die Hügel um die Stadt vermaß, führten der Bürgermeister, der Universitätsdekan und zwei Offiziere Humboldt durch eine unwirklich lange Flucht schlecht gelüfteter Zimmer voller Bernsteinproben. In einem der Steine gab es eine Spinne, wie Humboldt noch nie eine gesehen hatte, in einem anderen einen wunderlich geflügelten Skorpion, den man wohl ein Fabelwesen nennen mußte. Humboldt hielt sich den Stein nahe vor die Augen und blinzelte, aber es half nichts, er sah nicht mehr gut. Davon müsse er eine Zeichnung anfertigen!

Selbstverständlich, sagte der plötzlich hinter ihm stehende Ehrenberg, nahm ihm den Stein aus der Hand und trug ihn weg. Humboldt wollte ihn zurückrufen, aber dann ließ er es. Es hätte seltsam gewirkt vor all den Leuten. Die Zeichnung bekam er nicht, und er sah den Stein nie wieder. Als er Ehrenberg später danach fragte, konnte der sich nicht erinnern.

Sie verließen Dorpat in Richtung Hauptstadt. Ein Kurier der Krone ritt voran, zwei Offiziere hatten sich ihnen angeschlossen, auch drei Professoren sowie ein Geologe der Petersburger Akademie, ein gewisser Wolodin, dessen Anwesenheit Humboldt immer wieder vergaß, so daß er jedesmal zusammenzuckte, wenn Wolodin mit seiner leisen und ruhigen Stimme etwas einwarf. Es war, als widerstünde etwas an diesem blassen Wesen der Fixierung im Gedächtnis oder als beherrschte es in besonderer Perfektion die Kunst der Tarnung. Am Narwa-Fluß mußten sie zwei Tage aufs Nachlassen des Eisgangs warten. Sie waren mittlerweile so zahlreich, daß sie zum Übersetzen die große Fähre brauchten, die nur fahren konnte, wenn der Fluß frei war. So erreichten sie Sankt Petersburg mit Verspätung. Der preußische Gesandte begleitete Humboldt zur Audienz. Der Zar drückte ihm lange die Hand, versicherte ihm, daß sein Besuch eine Ehre für Rußland sei, und fragte nach Humboldts älterem Bruder, den er vom Kongreß in Wien in deutlicher Erinnerung habe.

In guter?

Nun ja, sagte der Zar, offen gestanden, habe er ihn immer ein wenig gefürchtet. Jeder europäische Botschafter gab für Humboldt ein

en Empfang. Mehrmals dinierte er mit der Zarenfamilie. Der Finanzminister, Graf Cancrin, verdoppelte das zugesagte Reisegeld. Er sei dankbar, sagte Humboldt, wenngleich er mit Wehmut an die Tage denke, als er sich das Reisen noch selbst finanziert habe.

Kein Grund zur Wehmut, sagte Cancrin, er genieße jede Freiheit, und dies, er schob Humboldt ein Blatt hin, sei die bewilligte Route. Er werde unterwegs eskortiert, man erwarte ihn an jeder Station, alle Provinzgouverneure hätten Anweisung, für seine Sicherheit zu sorgen.

Er wisse nicht recht, sagte Humboldt. Er wolle sich frei bewegen. Ein Forscher müsse improvisieren. Nur wenn er nicht gut geplant habe, wandte Cancrin lächelnd ein. Und dieser Plan, das verspreche er, sei ganz vortrefflich.

Vor der Weiterreise nach Moskau bekam Humboldt nochmals Post: zwei Schreiben vom älteren Bruder, den die Einsamkeit geschwätzig machte. Einen langen Brief von Bessel. Und eine Karte des tief in Magnetexperimente versunkenen Gauß. Er nehme die Sache jetzt ernst, er habe eigens eine fensterlose Hütte errichten lassen, die Tür luftdicht, die Nägel aus nicht magnetisierbarem Kupfer.

Zunächst hatten die Stadträte ihn für verrückt gehalten, Aber Gauß hatte sie so lange beschimpft, hatte gedroht und gejammert und ihnen völlig erfundene Vorteile für Handel, Staatsrenommee und Wirtschaft in Aussicht gestellt, daß sie schließlich zugestimmt und die Hütte neben der Sternwarte gebaut hatten. Nun verbrachte er den Großteil seiner Tage vor einer langen, in einer Verstärkerspule pendelnden Eisennadel. Ihre Bewegung war so schwach, daß man sie mit freiem Auge nicht sah; man mußte ein Fernrohr auf einen über der Nadel angebrachten Spiegel richten, um die feinen Schwankungen der beweglichen Skala zu sehen. Humboldts Vermutung traf zu: Das Erdfeld fluktuierte, seine Stärke änderte sich periodisch. Aber Gauß maß in kürzeren Intervallen als er, er maß genauer, und natürlich rechnete er besser; es belustigte ihn, daß Humboldt entgangen war, daß man die Dehnung des Fadens berücksichtigen mußte, an dem die Nadel hing.

Stundenlang beobachtete Gauß beim Licht einer ÖIlampe dieses Pendeln. Kein Laut drang zu ihm herein. So wie ihm damals die Ballonfahrt mit Pilätre gezeigt hatte, was der Raum war, würde er jetzt irgendwann die Unruhe im Herzen der Natur verstehen. Man brauchte nicht auf Berge zu klettern oder sich durch den Dschungel zu quälen. Wer diese Nadel beobachtete, sah ins Innere der Welt. Manchmal schweiften seine Gedanken zur Familie ab. Eugen fehlte ihm, und Minna ging es schlecht, seit er weg war. Sein Jüngster würde bald mit der Schule fertig sein. Auch der war nicht besonders intelligent, er würde wohl nicht studieren. Man mußte sich damit abfinden, man durfte die Menschen nicht überschätzen. Wenigstens verstand er sich mit Weber immer besser, und erst vor kurzem hatte ein russischer Mathematiker ihm eine Abhandlung geschickt, in der die Vermutung geäußert wurde, daß Euklids Geometrie nicht die wahre sei und parallele Linien einander berührten. Seit er zurückgeschrieben hatte, daß ihm keiner dieser Gedanken neu war, hielt man ihn in Rußland für einen Angeber. Bei dem Gedanken, daß andere bekanntmachen würden, was er so lange schon wußte, fühlte er ein ungewohntes Stechen. So alt hatte er also werden müssen, um zu lernen, was Ehrgeiz war. Hin und wieder, wenn er die Nadel anstarrte und nicht zu atmen wagte, um ihren lautlosen Tanz nicht zu stören, kam er sich wie ein Magier der dunklen Zeit vor, wie ein Alchimist auf einem alten Kupferstich. Aber warum nicht? Die Scientia Nova war aus der Magie hervorgegangen, und etwas davon würde ihr immer anhaften.

Vorsichtig faltete er die Karte Rußlands auseinander.

Man mußte Hütten wie diese über die Leere Sibiriens verteilen, bewohnt von zuverlässigen Männern, die es verstanden, auf Geräte zu achten, Stunden um Stunden vor Teleskopen zu verbringen und ein stilles, aufmerksames Leben zu führen. Humboldt konnte organisieren; vermutlich sogar das. Gauß dachte nach. Als er mit der Liste der geeigneten Standorte fertig war, riß sein jüngster Sohn die Tür auf und brachte einen Brief. Wind schoß herein, Blätter flogen durch die Luft, die Nadel schlug panisch aus, und Gauß gab dem Kleinen zwei Ohrfeigen, die er nicht so bald vergessen würde. Erst nach einer halben Stunde des Stillsitzens und Wartens hatte sich der Kompaß soweit beruhigt, daß Gauß es wagte, sich zu bewegen und den Brief zu öffnen. Man müsse die Pläne ändern, schrieb Humboldt, er könne nicht, wie er wolle, man habe ihm eine Route vorgeschrieben, von der abzuweichen ihm nicht vernünftig erscheine, auf ihr könne er messen, anderswo nicht, und er ersuche, die Berechnungen anzupassen Gauß legte traurig lächelnd den Brief weg. Zum erstenmal tat Humboldt ihm leid.




         
         
         
         
     
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