Leseprobe aus: Hartmut Lange, Das Konzert



S. 81 ff.



[1] Lewanskis Konzert in der Villa von Frau Altenschul, auf das er sich lange vorbereit hat, steht bevor (S. 81 ff.)





[1]

Lewanskis Konzert in der Villa von Frau Altenschul, auf das er sich lange vorbereit hat, steht bevor (S. 81 ff.)

Nach dem Passahfest war es endlich soweit. Frau Altenschul hatte die letzten Vorbereitungen beendet, konnte also in der Sache nichts mehr tun.

»Die Halle ist zu groß«, sagte sie, »und wird man bis in die hinteren Plätze hinein auch alles hören!«

»Da können Sie beruhigt sein«, antwortete Liebermann. »Es ist in Ihrem Sinne und berechtigt Sie gewissermaßen zu einigem Stolz, daß unser Freund nun endgültig aus dem Kreis des Privaten herausgetreten ist und sich an eine Öffentlichkeit wendet, für die, wenn man den Voraussagen glauben darf, die Philharmonie keineswegs ausreichen wird.«


Das Ereignis, das Lewanski mit diesem Konzert in Szene setzen sollte, hatte sich bis nach Prag und London herumgesprochen. Obwohl Frau Altenschul sich jede Reklame verbeten hatte, wußte man doch: In Berlin, in jener Stadt, von der man kaum etwas Sensationelles erwartete, bereiteten sich ungeheure Dinge vor. Ein hochtalentierter, in jungen Jahren ermordeter Jude, hieß es, wolle sich seinem Schicksal widersetzen und die Laufbahn eines Pianisten, um die man ihn gebracht hatte, im Tode nachholen.

Es klang wie eine Botschaft, und so füllte sich am Vormittag schon, das Konzert sollte erst gegen einundzwanzig Uhr beginnen, die Kassenhalle der Philharmonie mit jenen, die darauf hofften, doch noch die Berechtigung für den Konzertabend zu bekommen. Aber es war aussichtslos, und man debattierte in dem nahen Cafe darüber, warum es nicht möglich sein sollte, das Konzert durch Lautsprecher zu übertragen.

Man sah überwiegend junge Leute, darunter Mädchen mit kahlgeschorenem Kopf, den sie beizubehalten wünschten, so lange, versicherten sie, bis man ihnen bewiesen hätte, daß diese Demütigung, die sie vor ihrem Tode empfangen mußten, rückgängig zu machen war. Sie waren skeptisch und wanderten unruhig hin und her.

Als die Lampen vor der Alten Philharmonie aufleuchteten, gingen einige zum Hintereingang, wo man Lewanskis Wagen erwartete, aber es zeigte sich niemand, obwohl das Konzert in einer Stunde beginnen sollte. In Lewanskis Garderobe residierte Frau Altenschul. Sie hatte sich Ruhe ausgebeten, aber dies erwies sich bei der allgemei-nen Aufregung als unmöglich. Ständig wurden irgendwelche Glückwünsche und vor allem Blumen hereingereicht, und wie sollte man den Enthusiasten, die nicht von ihrer Seite wichen, begreiflich machen, daß ihre Hochgestimmtheit den Pianisten, den man jeden Augenblick erwartete, würde stören müssen.

Zuletzt erschien Liebermann, hüstelte verlegen, sprach davon, daß die Philharmonie einer belagerten Festung glich, wollte wieder fort, aber seine Blicke auf Frau Altenschul und die Unmißverständlichkeit, mit der er ihr seinen Arm bot, um sie endlich, es war höchste Zeit, in die gemeinsame Loge zu führen, blieben ohne Erfolg. Sie machte sich Sorgen, ob Lewanski für seinen Auftritt in angemessener Weise gekleidet sein würde, und sie wollte partout, daß er den weißen Seidenschal lose um den Kragen legen und damit seinem Auftritt das allzu Feierliche nehmen sollte.

Über den Rest, versicherte sie, müsse man sich keine Gedanken machen, und sie zitierte als unumstößlichen Beweis eine Nachricht, die ihr Lewanski vor ein paar Tagen hatte zukommen lassen:

»Liebe, verehrte Freundin, denken Sie nicht, ich sei undankbar oder ich hätte es bereut, in Ihrer Nähe wieder seßhaft zu werden. Ich weiß, wie sehr Sie mich lieben, ich bewundere Ihre Hartnäckigkeit, mit der Sie unser aller Schicksal rückgängig machen wollen. Ich spiele Beethoven, immer nur Beethoven, und ich kann Ihnen sagen, daß ich voller Zuversicht bin.«

In der Tür, aber so, daß er mit seinem Rücken die Wand des Korridors fast berührte, stand Schulze-Bethmann.

Er wollte offenbar etwas sagen, fand aber keine Gelegenheit, und man wunderte sich, daß er, der sonst in fast unhöflicher Weise zurückhaltend war, derart im Wege stand, und Liebermann hatte Mühe, an ihm vorbeizukommen, als er mit den Worten: »Gut, dann werde ich das Schauspiel allein genießen« die Garderobe verlassen wollte.

»Wir werden Nachbarn sein«, sagte Schulze-Bethmann, »und ich habe einen Gast mitgebracht, der Sie durchaus nicht erschrecken soll.«

»Was meinen Sie?« fragte Frau Altenschul, die immer bereit war, eine gewisse Gereiztheit, die sie beim Anblick Schulze-Bethmanns überkam, nicht zu unterdrücken.

»Da es, wie ich höre, ein Auferstehungskonzert werden soll«, sagte Schulze-Bethmann, »sollte man auch den Gedanken an eine Versöhnung nicht außer acht lassen.«

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Frau Altenschul.

»Dann bin ich beruhigt.«

Die Glocke läutete, man wurde aufgefordert, die Plätze einzunehmen. Frau Altenschul trat zu Liebermann auf den schmalen Korridor hinaus, der zum Foyer führte, bemerkte noch, daß Schulze- Bethmann zögerte, ihnen zu folgen. Sie freute sich über den Anblick einer überfüllten Konzerthalle.

»Nun hat er sein zweites Leben«, flüsterte Liebermann und meinte Lewanski. »So viel Erfolg konnte er früher nicht geltend machen.«

Dabei sah er in die Nachbarloge zu seiner Linken, erwiderte das Lächeln Schulze-Bethmanns und suchte vergeblich nach jenem Begleiter, den ihm der Novellist angekündigt hatte.

Man war zehn Minuten über der Zeit, das Saallicht brannte immer noch, während sich im Parkett schon eine freudige Ungeduld, eine Bereitschaft zum Jubel bemerkbar machte.

Aber ach!

Es gibt in Berlin einen Ort, der mit dem Makel des Unberührbaren gekennzeichnet bleibt. Hier ist Niemandsland, säuberlich planiert. Wer vom Westen her über die Mauer blickt, die den Zutritt zum Brandenburger Tor verhindern soll, sieht das Hotel Adlon und jenes bewußt ausgesparte Rechteck, auf dem die Reichskanzlei stand. Krähen fliegen darüber hin, sie verschwinden im Tiergarten. Tags fahren gepanzerte Fahrzeuge über die verruchte Erde, um die Grenzen der geteilten Stadt abzusichern, aber nachts verlöschen mitunter alle Lampen, und die Scheinwerfer überwinden die Dunkelheit nicht, und eine Gestalt steht, wie ein Todesengel, im Weg und verhindert die Weiterfahrt.

Wanderer, sei freundlich zu uns
und gedenk der Gebeine
über die dich dein Weg führt!
Ein Abgrund tut sich auf, eine Treppe aus marmoriertem Gestein lockt in die Tiefe, und schon schreiten der Engel und jene, die in dem Fahrzeug, das der Engel angehalten hat, saßen, die Stufen hinab. Es schimmert das Metall ihrer Helme, und ein Gesang, ach, was für ein unwiderstehlicher Gesang, führt sie tiefer und tiefer, dorthin, wo unter der Erde einer dazu verdammt ist, ewig seine Hochzeit zu feiern.
Denn der Mensch ist sterblich
und Gott nur scheidet das Gute vom Bösen
und der Böse segnet das Zeitliche
indem er sich in unendlicher Güte übt!
Lewanski hatte, in der sicheren Absicht, die Alte Philharmonie noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, gegen sieben Uhr die Villa verlassen. Er benutzte ein Taxi, wollte aber, da noch genügend Zeit war, eine Strecke Wegs, obwohl er nicht wußte, wie lange dies dauern würde, zu Fuß gehen, und damit man seinen Frack nicht bemerkte, hatte er einen leichten Staubmantel übergestreift.

Den Tiergarten, den er bald vor Augen hatte, wollte er nicht betreten. So ging er die Spree entlang, betrachtete die Kähne, die stromabwärts schwammen, spiegelte sich dort, wo das Ufer flach und ohne Mauerumrandung war und wo man Bänke aufgestellt hatte, in dem öligen Wasser. Ein prüfender Blick auf den Frack, der Griff nach dem weißen Seidenschal, Frau Altenschul sollte zufrieden sein. Er fühlte sich bereit, vor sein Publikum zu treten, wollte aber kein Hochgefühl aufkommen lassen, indem er sich einredete, mit jedem Auftritt der Musik und nur der Musik zu dienen und daß dies in aller Bescheidenheit und immer mit der letztmöglichen Anstrengung zu geschehen habe.

Gegen acht Uhr, als es dunkel geworden war, hatte er das Gefühl, wie in den letzten Tagen, nicht wirklich allein zu sein. Aber dies kümmerte ihn nicht weiter. Er war ruhig, ließ den Großstadtlärm und den schwachen Widerschein der Lampen auf sich einwirken, die in dem Strom, wenn die Kähne die Oberfläche aufwühlten, hin und her tänzelten.

Als er meinte, es sei an der Zeit, wollte er die wenigen Schritte bis zur Philharmonie hinter sich bringen, wunderte sich noch, daß er, da er doch vorhatte, den Tiergarten nicht zu betreten, wieder zwischen die Rhododendronsträucher geriet. Die gußeiserne Brücke wollte er meiden, und so ging er seitwärts durch die Rabatten. Ein Graben versperrte ihm den Weg. Er verlor die Orientierung, irrte zwischen mannshohem Baumgestrüpp hin und her, bemerkte, daß er, als er auf eine Lichtung zugehen wollte, in eine nasse, sumpfähnliche Wiese geraten war, aber dann sah er schon eine Hand, die sich ihm hilfreich entgegenstreckte.

»Kommen Sie, mein Herr«, sagte jemand, der in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. »Kommen Sie. Man kann in diesem Garten die Wege nicht verlassen, ohne echauffiert zu sein.«

Lewanski trat, von dem anderen sanft gezogen, auf ein freies Feld hinaus, war erleichtert, als er sah, daß der Frack unter dem Staubmantel keinerlei Schaden genommen hatte, wollte den anderen, der ihm behilflich gewesen war, mit einem Lächeln stehen lassen, aber ...

»Dies ist unmöglich«, sagte er, indem er bemerkte, daß er sich nicht, wie er angenommen hatte, an der Südgrenze des Parks, sondern in der Wilhelmstraße vor dem Erdhügel befand. »Dies ist unmöglich«, wiederholte er, und bevor er sich vergewissern konnte, in welche Richtung er jetzt, um zur Philharmonie zu gelangen, hätte gehen müssen, sah er sich von dem Licht zweier Scheinwerfer erfaßt. Er sah, wie sein Schatten über Säulen aus Marmor geworfen wurde, bemerkte eine Treppe, die in die Tiefe führte, und als er näherkam, als er prüfen wollte, ob es jener Abgrund war, den er neulich im Nacken gespürt hatte, sagte der andere:

»Treten Sie ein, mein Herr. Sie werden erwartet.« Und indem er seine Mütze wie in feierlicher Absicht zog: »Es sind zehn Minuten über der Zeit.«

Lewanski sah ihm ins Gesicht und erkannte an dem Wundmal, daß es der Uniformierte war.





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