Leseprobe aus: François Lelord, Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück
S. 142 ff.
Hector hat seine Reiseerfahrungen in Form von kurzen Lektionen aufgeschrieben. Er zeigt seine Notizen einem Professor, der ein "weltberühmter Spezialist für das Glück" ist.
Hector fand ihn außergewöhnlich, wie er beim Reden kreuz und quer durchs Zimmer schritt, als wolle er ein Maximum an Raum ausfüllen. Man spürte auch, dass er sehr gelehrt war.
Schließlich zeigte ihm Hector die Liste.
"Ah ja", sagte der Professor und setzte sich eine Brille mit kleinen Gläsern auf die Nase, "Agnes hat schon davon gesprochen, ein tolles Mädchen, häm? häm? Ich habe ja schon viele Studentinnen kennengelernt, aber sie ist von wahrhafter Intelligenz und dazu noch so charmant..."
Während der Professor die Liste las, fragte sich Hector, ob er womöglich denken würde, dass er, Hector, nicht gerade von wahrhafter Intelligenz war, sondern eher von wahrhafter Naivität oder, warum nicht, von wahrhafter Dümmlichkeit. Also war er richtig aufgeregt, aber gleichzeitig sagte er sich, dass jemand, der dem Tode entronnen ist, nicht aufgeregt sein sollte, wenn er einem Professor gegenübersteht, der immerzu "hämhäm" macht.
Der Professor las die Liste ganz durch. Hector hatte sie noch einmal in Schönschrift abgeschrieben, und falls Sie die Lektionen schon vergessen haben sollten, haben auch wir sie Ihnen noch mal abgeschrieben:
Lektion Nr. 1: Vergleiche anzustellen ist ein gutes Mittel, sich sein Glück zu vermiesen.
Lektion Nr. 2: Glück kommt oft überraschend.
Lektion Nr. 3: Viele Leute sehen ihr Glück nur in der Zukunft.
Lektion Nr. 4: Viele Leute denken, dass Glück bedeutet, reicher oder mächtiger zu sein.
Lektion Nr. 5: Manchmal bedeutet Glück, etwas nicht zu begreifen.
Lektion Nr. 6: Glück, das ist eine gute Wanderung inmitten schöner unbekannter Berge.
Lektion Nr. 7: Es ist ein Irrtum zu glauben, Glück wäre das Ziel.
Lektion Nr. 8: Glück ist, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt.
Lektion Nr. 8b: Unglück ist, von den Menschen, die man liebt, getrennt zu sein.
Lektion Nr. 9: Glück ist, wenn es der Familie an nichts mangelt.
Lektion Nr. 10: Glück ist, wenn man eine Beschäftigung hat, die man liebt.
Lektion Nr. 11: Glück ist, wenn man ein Haus und einen Garten hat.
Lektion Nr. 12: Glück ist schwieriger in einem Land, das von schlechten Leuten regiert wird.
Lektion Nr. 13: Glück ist, wenn man spürt, dass man den anderen nützlich ist.
Lektion Nr. 14: Glück ist, wenn man dafür geliebt wird, wie man eben ist.
Anmerkung: Zu einem lächelnden Kind ist man freundlicher (sehr wichtig).
Lektion Nr. 15: Glück ist, wenn man sich rundum lebendig fühlt.
Lektion Nr. 16: Glück ist, wenn man richtig feiert.
Frage: Ist Glück vielleicht einfach eine chemische Reaktion im Gehirn ?
Lektion Nr. 17: Glück ist, wenn man an das Glück der Leute denkt, die man liebt.
Lektion Nr. 19: Sonne und Meer sind ein Glück für alle Menschen.
Der Professor kicherte beim Lesen vor sich hin, und Hector war ganz verlegen, aber er suchte einen Gedanken, mit dem er sich trösten konnte, und schließlich fand er in seinem Kopf auch einen: "Glück ist, wenn man der Meinung anderer Leute nicht zu viel Gewicht beimisst." Das konnte vielleicht auch eine gute Nr. 18 abgeben und den Satz, den er durchgekritzelt hatte, ersetzen.
Am Ende schaute der Professor noch einmal auf die Liste, und dann schaute er Hector an.
"Das ist ja spaßig, Sie haben fast alle zusammengetragen!"
"Alle was?"
"Alle Determinanten des Glücks. Jedenfalls die, zu denen man Forschungen betreibt. Es ist gar nicht mal blöd, Ihr Dings!"
"Möchten Sie damit sagen, dass alle Lektionen funktionieren können?"
"Ja, so ziemlich. Ich könnte Ihnen zu jeder einzelnen Lehre zwei Dutzend Studien raussuchen, die zum Beispiel nachweisen, dass ... (er schaute wieder auf die Liste) ... dass unser Glück, wie Lektion Nr. l besagt, von Vergleichen abhängt. Wissen Sie, ich werde Ihnen drei Fragen stellen. Zunächst bitte ich Sie, über den Abstand zwischen Ihrem gegenwärtigen Leben und dem, das Sie gerne führen würden, nachzudenken."
Hector überlegte und meinte dann, er sei recht zufrieden mit seinem Leben und wolle vor allem, dass es lange so weitergehe wie jetzt.
Natürlich hätte er gern Ying Li wiedergesehen und zur gleichen Zeit Clara geliebt, aber er sagte dem Professor einfach nur: "Vielleicht hätte ich gern ein stabileres Liebesleben."
Der Professor seufzte sehr tief, und dann bat er Hector, über einen anderen Abstand nachzudenken: den zwischen seinem gegenwärtigen Leben und der besten Lebensphase in seiner Vergangenheit.
Hector sagte, er habe schöne Erinnerungen an seine Jugend, aber dennoch scheine ihm sein Leben heute interessanter zu sein. Er erinnerte sich, dass auch Agnes gemeint hatte, sie sei heute glücklicher als früher. Mit Charles damals im Flugzeug war das ein bisschen anders gewesen. Er hatte sich daran erinnert, schon mal in der first class geflogen zu sein, und fühlte sich jetzt in der business class weniger wohl.
"Dritte Frage, dritter Abstand", sagte der Professor. "Denken Sie über den Abstand zwischen dem nach, was die anderen haben, und dem, was Sie selbst haben."
Diese Frage schien Hector sehr interessant. In seinem Land waren die Armen reicher als die meisten übrigen Bewohner der Erde, aber diese Erkenntnis machte sie nicht glücklicher, denn sie sahen alle Tage, dass ihre reicheren Mitbürger sich eine Menge angenehmer Dinge leisten konnten, die für die Armen zu teuer waren. Und die Werbung machte ihnen das jeden Tag noch zusätzlich bewusst. Wenn man wenig hat, ist das die eine Sache, aber wenn man weniger hat als die anderen, fühlt man sich ein bisschen wie der schlechteste Schüler der Klasse, und das kann unglücklich machen. Deshalb hatten die armen Leute aus dem Meist-Land (und aus allen anderen Ländern übrigens auch) den Strand so gern: Am Strand waren alle Menschen beinahe gleich. Die Reichen dagegen zeigten gern, dass sie mehr besaßen als die anderen, sie kauften sich beispielsweise superteure dicke Autos, die eigentlich gar nicht praktisch waren.
Aber Hector quälten diese Vergleiche nicht besonders. Zunächst einmal hatte er das große Glück, zu den Leuten zu gehören, die so ziemlich alles hatten, was sie wollten. Früher im Gymnasium hatte er sich mit den Jungs verglichen, die es mit den Mädchen besser hinkriegten, oder mit denen, die besser in Sport waren, und manchmal hatte ihn das geärgert, aber inzwischen hatte er das mit den Mädchen ein bisschen nachgeholt, und ein toller Sportler musste man sowieso nicht sein, wenn man Psychiater war. Alles in allem verglich er sich nicht so oft mit den anderen. Er kannte Leute, die reicher oder berühmter waren als er, aber er hatte nicht den Eindruck, dass sie auch glücklicher waren. (Der Beweis dafür war, dass manche von ihnen in Hectors Sprechstunde kamen, um über ihr Leben zu klagen, und es gab sogar welche, die sich umzubringen versuchten!) Also war es ihm einigermaßen schnurz. Edouard hingegen verglich sich oft mit Leuten, die reicher waren als er, aber bei Geschäftsleuten ist das häufig so, sie machen immer eine Art Wettrennen.
"Na schön", sagte der Professor, "ich finde, dass Sie ziemlich glücklich sein müssen, häm? häm? Ich habe nämlich einen Kollegen, der gezeigt hat, dass die Summe dieser drei Abstände - zwischen dem, was man hat, und dem, was man gern hätte, zwischen dem, was man heute hat, und dem, was man früher schon mal hatte, sowie zwischen dem, was man hat, und dem, was die anderen haben -, na ja, dass eben dieser durchschnittliche Abstand sehr viel mit dem Glück zu tun hat. Je geringer er ausfällt, desto glücklicher ist man."
"Aber wie soll man das Glück messen?"
"Ha, das ist eine gute Frage!" sagte der Professor. Und er fing wieder an, um seinen Schreibtisch Runden zu drehen, und war ganz aufgedreht, und das Haarbüschel wippte auf seinem Kopf hin und her. Hector erinnerte sich, dass Agnes ihm erzählt hatte, die Glücksmessung sei sein eigentliches Spezialgebiet als Professor.
Da freute sich Hector nun aber wirklich: Wenn er lernen würde, das Glück zu messen, konnte er sich sagen, dass seine Reise nützlich gewesen war!