Leseprobe 1 aus: S. Lenz, Deutschstunde


SZ-Bibliothek-Ausgabe, S. 125 ff.


(Beginn des 6. Kapitels, "Das zweite Gesicht". Der Glüseruper Heimatverein lädt zu einem Abend unter dem Motto "Meer und Heimat" ein)


Erst einmal lasse ich es dunkel werden und gebe die Verantwortung für den ersten Teil des Abends dem Bildwerfer, der registriertes Eigentum des Glüseruper Heimatvereins ist, gebraucht gekauft und vom Vorsitzenden, Per Arne Scheßel, den ich aus Gewohnheit meinen Großvater nenne, aufbewahrt, gereinigt und auch bedient wird. Der Bildwerfer steht auf einem Tisch, der Tisch steht im mittleren Gang, zu beiden Seiten des Ganges stehen schwere, sagen wir ruhig klobige Bänke, auf denen, aus unerklärlichen Gründen, den meisten Zuschauern kurzfristig die Beine absterben. Damit der Bildwerfer die Leinwand vollkommen trifft und deckt, hat man ihm an der Vorderseite die beiden Bücher untergeschoben, die für diesen Zweck immer bereitliegen: Storms »Die Söhne des Senators« und Klopstocks »Messias«, diese Bücher garantieren durch ihren Umfang, dass der Lichtstrahlenkegel mit dem Rand der Leinwand sauber abschließt.

Die Leinwand: das ist die Rückseite einer historischen Karte von Schleswig-Holstein, ein grauweißes, oben links leicht geflecktes Rechteck, das unter dem fordernden Lichtkegel die Konturen von Inseln, Küsten und Mündungen durchschimmern lässt und jedem Zweifler auch so noch beweist, dass dieses Land, wenn auch nicht vom Meer umschlungen, so doch zweiseitig von ihm bedrängt wird. Auf diese Leinwand blik-ken acht, was sage ich: zwölf oder sogar sechzehn Personen, die links und rechts zu beiden Seiten des Ganges sitzen; einige fühlen sich durchs Licht geblendet, das durch einen Schlitz seitlich aus dem Bildwerfer fällt und von den Glaswänden der Schränke und Kästen zurückgeworfen wird, die an den Wänden und zwischen den verdunkelten Fenstern stehen. Durch den Lichtkegel sirren Insekten, taumelt ein gedrungener Falter, der mehrmals die Entfernung zwischen Linse und Leinwand nachmisst, und jedesmal, wenn er irgendwo anstößt, einen kleinen metallenen Wirbel schlägt. Auf den Bänken unterhält man sich gedämpft, hier und da wird gehustet, geraucht wird nicht. Es ist warm.

Aus dem benachbarten Stall ist von Zeit zu Zeit reißendes Kettengeräusch zu hören, das etwa entsteht, wenn ein Tier den Kopf hochwirft; manchmal dringt auch ein Poltern hier herein oder ein rasendes Scharren. Windstöße. Hundegebell. Aus dem Halbdunkel schiebt sich das rote, längliche, sauertöpfische Gesicht meines Großvaters vor die Leinwand; selbst der Schattenriss seines Kopfes erscheint noch sauertöpfisch. Der Bauer Per Arne Scheßel lacht nicht und lächelt nicht, er zwinkert keinem zu, nicht mal ein Winken hat er übrig; er steht einfach nur da, ragend und grüblerisch wie ein Fischreiher, was zur Folge hat, dass nicht mehr geflüstert, dass nur noch vereinzelt, allenfalls auf Vorschuss, gehustet wird: ich hoffe, damit ist man im Bilde.

So, und die nun eintretende Stille möchte ich dazu benutzen, um darauf hinzuweisen, dass sich bis hierher, bis zum Auftritt meines Großvaters vor der Leinwand, alle Abende auf Külkenwarf glichen, die der Heimat zwischen Husum und Glüserup, ihrem Wachsen und Werden, ihren reizvollen Ablagerungen, ihrem teuren Schlick, ihren Tieren, Pflanzen und Gräben, vor allem aber ihrem Wesen gewidmet waren. Wenn ich mich konzentriere, untertauche, so muss ich feststellen, dass mein Gedächtnis von den Begegnungen des Heimatvereins atmosphärisch vor allem dies bewahrt hat: das warme Halbdunkel, den Lichtkegel des Bildwerfers, die benommenen Insekten, die nahen Stallgeräusche und die flüsternde, ich möchte sagen: gutgelaunte Erwartung der Teilnehmer, die von Per Arne Scheßel schriftlich, im Winter öfter als im Sommer, nach Külkenwarf, dem sogenannten Stammsitz der Scheßels, eingeladen wurden.

Aber ich erinnere mich auch noch, dass da in den Sitzungen zwischen Wohnhaus und Stall, den mein Großvater in den Dienst der Heimatforschung gestellt hatte, verschlossene und unverschlossene Zeugnisse der Geschichte, der Kultur, und, natürlich, der landschaftlichen Eigenart ausgestellt waren. Nehmen wir, nur zum Beispiel, die Zackenharpune aus Rengeweih. Nehmen wir Schaber, Äxte und Hämmer aus Stein. Urnen möchte ich erwähnen. Armreifen der mittleren Bronzezeit, Schwertscheidenbeschläge sowie reichverzierte Pötte aus der jüngeren Steinzeit, die ich mich entschließen könnte, jederzeit für kurzstielige Blumen zu gebrauchen. Schwertgriffe, Holzgeschmeide und die bekannte Goldscheibe von Treenbarg kann ich nicht übergehen, ebensowenig die zahlreichen Erd-, Sand- und Gesteinsproben, die Bootsreste aus dem Norschlotter Moor, komische und indiskutable Kleidungsstücke von frühen Jägern und Moorbauern und schließlich, als Attraktion, die verdorrte, geschrumpfte, zu Leder verwandelte Leiche eines Mädchens, das mit einer Schlinge erwürgt worden war - selbstverständlich aus Rentierhaut -, und diese Schlinge immer noch wie ein riskantes Schmuckstück um den Hals trug. Nicht zuletzt die Bücher, die Spezialbibliothek, die Per Arne Scheßel zusammengetragen hatte: »Erdgeschichtliche Reise durch Schleswig-Holstein«, »Wirken und Werden an der Küste«, »Ein Leben in Schobüll«, »Meiner Inseln grünes Kleid«, »Das Wehen der Frühe«; und dann die Stapel seiner eigenen, im Selbstverlag erschienenen Broschüren und Bücher, darunter »Die Sprache der Grabhügel«, »Die Moor- und Opferfunde von Norschlotten« sowie »Die großen Sturmfluten und ihre Folgen« und so weiter.

Sollte jemand einen Titel oder einen Fund vermissen, so kann er ihn einfach dazuschreiben, ich möchte mich mit diesen Daten begnügen, weil ich meinen Großvater einfach nicht zu lange in den Lichtkegel des Bildwerfers blicken lassen kann, obwohl er, woran andere sich auch erinnern, ausdauernd ins Dunkle und ebenso ausdauernd und ohne Schaden in irgendeine Lichtquelle starren konnte. Außerdem sehe ich mich gezwungen, den Eindruck zu zerstreuen, dass jener der Heimatkunde gewidmete Abend, der in üblicher Weise begann, auch in üblicher Weise weitergeht und somit nur als ein Abend unter vielen beschrieben werden könnte.

Wie gesagt, bis zu dem Augenblick, wo Per Arne Scheßel vor die Leinwand trat, rechnete ich mit einem mittleren Abend ohne besondere Vorkommnisse, und das taten gewiss auch die meisten Teilnehmer, aber Überraschung lag schon in der Luft, als mein Großvater auf einmal beide Hände hob, verdächtig zur Tür spähte und darum hat, uns ganz still zu verhalten. Wir verhielten uns ganz still, sogar Kapitän Andersen bezwang seinen Husten. Hinter der Tür regte sich nichts. Unnachsichtig, den Mund leicht geöffnet und seine schlechten Zähne zur Schau stellend, behielt mein Großvater die Tür im Auge. Alle sahen jetzt dorthin, richteten sich auf, hielten den Atem an und schafften es dennoch nicht, dass ein untersetzter Rentierjäger, ein unzeitgemäßer Moorbauer oder König Sven, der frühe Englandfahrer, persönlich auftraten. Aber hinter der für tat sich, je länger wir dorthin blickten, doch etwas, der Glutklumpen einer Zigarette wurde da hinter der schmalen Milchglasscheibe sichtbar, ein Räuspern war zu hören, und während Per Arne Scheßel sich zu einer kargen, aber immer noch einladenden Geste bereitfand, trat endlich Asmus Asmussen ein, Autor des Buches »Meeresleuchten« und Ehrenvorsitzender des Glüseruper Heimatvereins. Obwohl er in Marineuniform, als Stabsobergefreiter eintrat, wurde er sofort erkannt, mit Rufen und Beifall begrüßt, worauf er leger, doch militärisch zurückgrüßte und die Zigarette ausdrückte. Der Schöpfer von Timm und Tine, der bei uns ziemlich populären Figuren aus dem »Meeresleuchten« - beide hatten sich, wenn ich mich nicht täusche, durch eine Flaschenpost kennengelernt, fanden diesen Austausch so ergiebig, dass sie auch als Verlobte und Verheiratete Flaschenpost wechselten, trieben das Spiel unermüdlich weiter, hielten die Flaschenpost auch noch in hohem Alter für die schönste, jedenfalls sparsamste Art der Mitteilung und gaben somit ihrem Autor die Möglichkeit, lange nach ihrem Tode immer noch an entlegenen Stränden verkorkte Post zu entdecken, mit der zeilenschindend bekenntnishafte Neuigkeiten von Timm und Tine nachgeliefert wurden.

Also dieser Asmus Asmussen, der auf einem Vorpostenboot in der Nordsee Dienst tat, war auf einen Kurzurlaub von Bremerhaven heraufgekommen. Fr war ein säbelbeiniger Mann mit starkem, gewissermaßen lohendem Haarwuchs, seine Halsmuskeln waren erschreckend ausgebildet wie bei einem Gewichtheber, der Blick beherrschte alle Spielarten zwischen kühn und gütig, und man hätte sich ihn nicht ohne weiteres als Schöpfer von Timm und Tine vorstellen können, wenn da nicht sein aufschlussreicher Mund gewesen wäre, ein empfindsamer, rundlicher Pfennigmund, will ich mal sagen. Der Mund verriet ihn. Geschickt zog er sich die Matrosenmütze mit den langen Bändern vom Kopf, hielt sie vorschriftsmäßig. Kokarde und Adler nach vorn, unterm Arm und ließ sich von meinem Großvater willkommen heißen. Er nickte fast zu jedem Satz des Willkommens. Er schien einverstanden damit, dass Per Arne Scheßel ihn zunächst einen intimen Kenner der Heimat nannte, dann einen wehrhaften Vorposten der Heimat, auch erhob er keine Einwände, als man in ihm den Gestalter von einheimischem Schicksal und schließlich sogar das Gewissen von Glüserup begrüßte. Asmus Asmussen nickte nur, und er lächelte zustimmend, als mein Großvater das Thema des Abends bekanntgab, zu dem ein Berufener sich äußern werde; das Thema hieß: »Meer und Heimat«; der Berufene: Asmus Asmussen. Darauf setzte sich mein Großvater.

Der Verfasser von »Meeresleuchten« legte seine Mütze auf den Tisch, achtete, dass die Bänder glatt und lang nach unten fielen, griff in seinen Brustausschnitt, langte tiefer, war immer noch nicht am Ziel, suchte jetzt, bei hochgezogenen Schultern und gespanntem Gesäß, in der Gegend der linken Hüfte, hielt grinsend still, zog langsam, sehr besorgt einen Briefumschlag mit Bildern heraus und hob den Briefumschlag hoch in den Lichtkegel: es konnte beginnen. Ich wollte sofort in die erste Bankreihe klettern, doch mein Vater hielt mich fest und drückte mich nieder, und so musste ich bei ihm am Fenster bleiben und zusehen, wie Asmus Asmussen durch den mittleren Gang zum Bildwerfer ging, das erste Bild einlegte, aber es noch nicht zur Ansicht freigab.

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