Leseproben aus: Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein



S. 79 f., 83, 239 f., 401 f.



[1] Nahtoderfahrungen verändern in der Regel nachhaltig grundlegende Einstellungen und Überzeugungen der Betroffenen (S. 79 f. u. 83)

[2] "Wer von der Quantentheorie nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden" (Niels Bohr, Quantenphysiker und Nobelpreisträger, 1885—1962) (S. 239 f.)

[3] Aus dem "Epilog" (S. 401 f.)





(Da der Begriff "Nahtoderfahrung" im Buch sehr häufig vorkommt, wird er durch die Abkürzung "NTE" ersetzt)



[1]

Nahtoderfahrungen verändern in der Regel nachhaltig grundlegende Einstellungen und Überzeugungen der Betroffenen (S. 79 f. u. 83)


Selbstakzeptanz und ein verändertes Selbstbild

Das Erleben transpersonaler Aspekte während einer NTE ermöglicht ein neues Bewusstsein dafür, wer man im tiefsten Innern seines Wesens ist. Mit transpersonalen Aspekten sind hier Anteile des menschlichen Bewusstseins gemeint, die über das Persönliche oder das Ego hinausgehen (siehe auch Kapitel 14). Diese Erfahrung kann mit einem gesteigerten Selbstwertgefühl einhergehen. Der Wandel des Selbstbildes macht einen unabhängiger von der Anerkennung anderer, man kann besser mit Stress umgehen, wird abenteuerlustiger und geht höhere Risiken ein. Man entwickelt eine andere Einstellung zum eigenen Körper und wird sich neuer Denkmuster bewusst. Man denkt mehr in großen Zusammenhängen, verstrickt sich weniger in Details und kann sich eher eine objektive Meinung bilden, läuft damit aber auch Gefahr, sich stärker von anderen zu distanzieren. Menschen mit einer NTE gehen leichter in einer Beschäftigung auf und sind sich daher ihrer Umgebung weniger bewusst. Sie sind viel neugieriger und verspüren einen starken Wissensdrang. Daher wenden sie sich besonders theologischen Fragen, der Philosophie, der Psychologie und den Naturwissenschaften, besonders der Quantenphysik, zu, obwohl die eigene Schulbildung für diesen tieferen Wissensdurst oft keine gute Basis bietet. Bemerkenswert ist auch das wachsende Interesse an körperlichen und psychischen Prozessen und den Möglichkeiten der Heilung und Selbstheilung.


Mitgefühl für andere

Die Beziehung zu den Mitmenschen hat sich spürbar verändert. Man kann ihnen nun mitfühlender begegnen: »Heute ist mir sehr bewusst, dass meine NTE ‘mein ganzes Lebensgefühl’ und ‘mein ganzes Gefühlsleben’ verändert hat. Bei allem, was ich tue, bemühe ich mich darum, dieses Gefühl der Liebe noch einmal zu erleben und weiterzugeben.«

Man ist versöhnlicher, toleranter, urteilt weniger über andere und ist insgesamt gefühlvoller. Die Wertschätzung menschlicher Beziehungen wächst, man verbringt mehr Zeit mit seiner Familie, seinen Verwandten und Freunden und ist eher bereit und in der Lage, seine Gefühle mit anderen zu teilen. Man ist mitfühlender, fürsorglicher und sucht stärker nach bedingungsloser Liebe. Aber es entstehen auch neue Beziehungsprobleme. In einigen Fällen nimmt das Interesse an sexuellem Kontakt zu, in anderen wird es geringer. Manchmal kommt es zu Kommunikationsschwierigkeiten, weil man nach einer NTE nur schwer die richtigen Worte finden kann. Man verspürt ein starkes Gerechtigkeitsgefühl und den Drang, die Wahrheit zu sagen und offen auszusprechen, was man denkt. Hatte man früher vielleicht eine aggressive Haltung, so ist diese nach der NTE meist völlig verschwunden. An ihre Stelle tritt ein starkes Bedürfnis, anderen Menschen nützlich zu sein, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Aus diesem Bedürfnis heraus suchen sich viele Menschen nach einer NTE einen anderen Arbeitsplatz und wechseln zum Beispiel in pflegerische Berufe – in die Krankenpflege, die häusliche Pflege Sterbender oder die ehrenamtliche Arbeit für Senioren in sozialen Brennpunkten. Man ist nun eher bereit, etwas für einen guten Zweck zu spenden oder sich für soziale Belange zu engagieren.

(S. 79 f.)


Welche Auswirkung die Befreiung von der Todesangst hat, lässt sich schön an der Geschichte eines 83-jährigen Patienten illustrieren, der mit einem sehr schweren Fall von Herzversagen auf der Station aufgenommen worden war, auf der ich als Kardiologe arbeitete. Er befand sich in der Sterbephase, seine Atemnot war auch durch die verabreichten Medikamente nicht mehr zu lindern. Gewöhnlich ist das Zimmer eines sterbenden Patienten ein Raum, um den Pflegekräfte und Ärzte am liebsten einen weiten Bogen machen. Denn der Patient ist »austherapiert«, das heißt, »man kann nichts mehr für ihn tun«. In diesem Fall war alles anders. Dieser Patient hatte etwa zehn Jahre vor seinem jetzigen Krankenhausaufenthalt einen schweren Herzinfarkt erlitten. Er war damals erfolgreich reanimiert worden und hatte während des Herzstillstands eine tiefe NTE, sodass er sich vor dem Sterben nun nicht mehr fürchtete. Er wusste, dass er sterben würde. Aber er lag trotz seiner Atemnot mit einem strahlenden Lächeln im Bett. Immer war bei ihm schöne, klassische Musik zu hören und sein Zimmer war von morgens bis abends von Pflegekräften, Angehörigen und Mitpatienten belagert, denen er behilflich sein wollte. Er war heiter, hatte für jeden ein offenes Ohr, und es war ein wirkliches Vergnügen, in seiner Nähe zu sein. So starb er auch, freundlich, heiter und hilfsbereit zu jedermann. Als er schließlich gestorben war, lag er mit einem friedvollen Lächeln auf dem Gesicht in seinem Bett und viele Menschen kamen, um sich von ihm zu verabschieden.

(S. 83)



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[2]

"Wer von der Quantentheorie nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden" (Niels Bohr, Quantenphysiker und Nobelpreisträger, 1885—1962) (S. 239 f.)


Ein neuer Blick auf einige Elemente einer NTE

Lassen Sie uns die Inhalte einer umfangreichen Nahtoderfahrung, wie sie in Kapitel 3 dargestellt wurden, noch einmal sorgfältig in den Blick nehmen. Einige subjektive Aspekte dieser tief greifenden Erfahrung zeigen Ähnlichkeit mit Konzepten der Quantenphysik. In diesem Kapitel werde ich ausführlich auf diese Konzepte und Begriffe eingehen. Während eines Lebensrückblicks kann jedes Detail der eigenen Vergangenheit erneut durchlebt werden. Alles ist mit allem verbunden (Verschränkung). Alles scheint eins zu sein. Alle Ereignisse der Vergangenheit sind gewissermaßen gespeichert, zugänglich und immer dann sofort verfügbar, wenn man sich ihnen aufmerksam zuwendet. Zeit spielt keine Rolle mehr. Alles ist zeitlos gegenwärtig.

Das gilt nicht nur für die Zeit, sondern auch für den Ort. Man ist an jedem Ort der Vergangenheit präsent, sobald man an diesen Ort denkt und dort sein möchte, ganz gleich ob man wieder als Baby in der Wiege seines Elternhauses liegt, in der Grundschule an einem Sportwettkampf teilnimmt oder als Student ein Praktikum an einer amerikanischen Universität oder einen Urlaub in Australien macht. Man ist sofort wieder dort und erlebt alles, was einem damals wichtig war, ein zweites Mal, einschließlich der emotionalen Bedeutung, die dieses Ereignis für einen selbst und andere Beteiligte hatte. In einer Dimension, die weder an die Zeit noch an den Ort gebunden ist, ist im Bewusstsein alles gleichzeitig präsent.

Auch bei einer Vorausschau oder einem Ausblick machen Menschen die Erfahrung, dass es den alltäglichen Begriff von Zeit im Bewusstsein nicht gibt. Wir erleben diesen zeitlosen Aspekt des Bewusstseins auch in Träumen, in denen sich alles anscheinend zeitlos ereignet. Aber die klare Wirklichkeit, die während einer NTE erlebt wird, lässt sich mit der alltäglichen Wirklichkeit oder einem Traum nicht vergleichen. Während einer NTE kann man sowohl Bilder der eigenen Zukunft als auch der zukünftigen Weltentwicklung sehen. In dieser zeitlosen Dimension ist alles als Möglichkeit präsent und zugänglich. Und offenbar bestätigen sich Jahre später die damals vorhergesehen Ereignisse und werden als Bestandteil einer früheren NTE erkannt oder als Déjà-vu erlebt.

Zu einer nicht an einen Ort gebundenen Erfahrung kann es während einer NTE auch durch ein Verlassen des Körpers kommen: Losgelöst von seinem Körper ist man im Bewusstsein augenblicklich an dem Ort, an den man denkt. Wenn man zum Beispiel nach einem schweren Verkehrsunfall in einem Autowrack im Koma liegt und an seinen Partner denkt, ist man augenblicklich daheim und nimmt wahr, was er oder sie gerade tut. Man kennt sogar die Gedanken des Partners. Im Nachhinein bestätigen sich die Wahrnehmungen oftmals als richtig. Es ist also offenbar möglich, nicht-lokal mit dem Bewusstsein eines anderen Menschen verbunden zu sein. Und ebenso kann man nicht-lokal mit den Gefühlen und Gedanken verstorbener Freunde und Familienmitglieder in Kontakt stehen und durch Gedankenübertragung mit ihnen kommunizieren. Nach einer NTE bleibt diese Möglichkeit der nicht-lokalen Verbundenheit oft weiterhin bestehen, was sehr verwirrend sein kann. Ohne es zu wollen, ist es immer noch möglich, unabhängig von Zeit und Distanz zu kommunizieren. Man verfügt über eine erhöhte intuitive Sensibilität. Dieses Phänomen habe ich bereits im Kapitel 4 angesprochen, im Kapitel 14 werde ich noch einmal darauf zurückkommen.

Menschen, die während einer NTE ein Tunnelerlebnis haben, erfahren den Übergang von unserer materiellen Welt, die auch Raumzeit (die vierdimensionale Verbindung der drei Raumkoordinaten und der Zeit) genannt wird, in einen höherdimensionalen Raum anscheinend bewusst. Der theoretische Physiker Stephen Hawking bezeichnet den unvermittelten Übergang von der Raumzeit in einen höherdimensionalen Raum, in dem Raum und Zeit nicht mehr von Bedeutung sind, als Wurmloch.1 Modelle eines Wurmlochs haben eine große Ähnlichkeit mit einem sanduhrförmigen Tunnel.


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[3]

Aus dem "Epilog" (S. 401 f.)


Nahtoderfahrung und unser Menschenbild

Eine NTE ist eine existentielle Krise, sie führt aber auch zu einer tief greifenden Lebenserkenntnis. Die Veränderungen, die eine NTE bei vielen Menschen auslöst, entstehen aus der bewussten Erfahrung einer Dimension, in der Zeit und Distanz nicht von Bedeutung sind, in der man die Vergangenheit und die Zukunft sehen kann, in der man sich eins mit sich und geheilt fühlt, und in der man unendliches Wissen und bedingungslose Liebe erfahren kann. Diese Lebensveränderungen beruhen vor allem auf der Erkenntnis, dass Liebe und Achtsamkeit sich selbst, anderen und der Natur gegenüber zu den wichtigen Grundlagen des Lebens zählen. Nach einer NTE ist man sich darüber bewusst, dass jeder und alles miteinander verbunden ist, dass jeder Gedanke Einfluss auf das eigene Ich und auf andere hat und dass unser Bewusstsein nach dem körperlichen Tod weiter existiert. Diese Erkenntnis verändert nicht nur wissenschaftliche Theorien, sondern auch unser Menschen- und Weltbild.

Dag Hammarskjöld (1905—1961) schrieb in seinem Buch Zeichen am Weg: »Wie wir dem Tod entgegensehen, entscheidet darüber, wie wir im Leben stehen.«2 Solange wir glauben, dass mit dem Tod alles zu Ende sei, investieren wir unsere Lebenszeit vor allem in Vergängliches, Materielles, Äußerliches und sind weniger bereit, an die zukünftige Entwicklung der Umwelt und an die Lebenswelt unserer Kinder und Enkelkinder zu denken. Unser Bewusstsein prägt unsere Weltsieht. Wenn wir verliebt sind, erscheint uns die Welt wunderbar, sind wir dagegen depressiv, gleicht dieselbe Welt einem Jammertal, und wenn wir uns fürchten (zum Beispiel weil wir uns von der Politik und der Presse Angst einjagen lassen), wird unsere Welt zu einer angsterfüllten Welt. »Denn unser Sinn ist selbst ein Ort, er schafft aus Himmel Höll, aus Hölle Himmel sich«, schrieb John Milton (1608—1674) schon 1667 in seinem Gedicht Das verlorene Paradies3

Wie Ervin Laszlo in seinem Buch Wie kann ich die Welt verändern? deutlich macht, können wir unsere Lebensweise und unsere Welt nur verändern, wenn wir uns bemühen, unser eigenes Bewusstsein zu verändern.4 Jeder Wandel in der Welt beginnt bei uns selbst. Oder wie mir eine NTE-Betroffene aus den USA in einer E-Mail anvertraute:

»Erst wenn die Macht der Liebe stärker wird als unsere Liebe zur Macht, wird sich unsere Welt ändern.«

Dazu bedarf es eines Bewusstseinswandels. Zu dieser Einsicht können wir gelangen, wenn wir der Bedeutung einer NTE offen gegenüberstehen und den Menschen, die ihre Erfahrung mit uns teilen wollen, wirklich zuhören. Diese Erkenntnisse sind schon Tausende von Jahren alt, zeitlos und zugleich gegenwärtig, denn über Nahtoderfahrungen werden sie auch in unsere Zeit getragen und geben uns so die Möglichkeit, mit unserem Herzen zuhören zu lernen. Für neue Einsichten über Leben und Tod muss man nicht selbst eine Nahtoderfahrung erleben.




1 Hawking, S.: Das Universum in einer Nussschale, Hamburg 2002

2 Hammarskjöld, D.: Zeichen am Weg, München 2005

3 Milton, J.: Das verlorene Paradies, München 1966

4 Laszlo, E.: Wie kann ich die Welt verändern? Berlin 2006




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