Leseprobe aus: J. Lusseyran, Das wiedergefundene Licht


Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch 39029, S. 33 ff.


Als ich fünfzehn Jahre alt war, verbrachte ich lange Nachmittage in Gesellschaft eines blinden Jungen meines Alters, der – das muss ich hinzufügen – unter ganz ähnlichen Umständen erblindet war wie ich. Selbst heute habe ich wenige Erinnerungen, die mir so peinlich sind wie jene. Dieser Junge erfüllte mich mit Schrecken: er war das lebende Bild all dessen, was aus mir geworden wäre, wäre ich nicht so glücklich gewesen – glücklicher als er. Er war wirklich blind. Seit seinem Unfall hatte er nichts mehr gesehen. Seine Fähigkeiten waren normal, er hätte sehen können wie ich. Aber man hatte ihn daran gehindert. Um ihn zu schützen, hieß es, hatte man ihn von allem isoliert. All seine Anstrengungen, auszudrücken, was er empfand, hatte man verspottet. In seinem Kummer und seinem Rachegefühl hatte er sich in eine brutale Einsamkeit geflüchtet. Selbst sein Körper lag entkräftet in der Tiefe des Sessels. Und ich sah mit Bestürzung, dass er mich nicht mochte.

Solche Tragödien sind häufiger, als man denkt, und um so furchtbarer, als sie immer vermeidbar sind. Man kann sie vermeiden – ich wiederhole es –, sobald sich die Sehenden nicht auf ihre Art, die Welt zu verstehen, als die allein gültige versteifen.

Mit acht Jahren begünstigte alles meine Rückkehr in die Welt. Man ließ mich herumtollen. Man antwortete auf alle Fragen, die ich stellte. Man interessierte sich für alle meine Entdeckungen, selbst für die sonderbarsten. Wie sollte ich zum Beispiel erklären, wie die Gegenstände sich mir näherten, wenn ich auf sie zuging? Atmete ich sie ein, hörte ich sie? Vielleicht. Was es auch war – es nachzuweisen war oft schwer. Sah ich sie? Augenscheinlich nicht. Und doch! Sie veränderten sich für mich im selben Maße, wie ich näher kam, oft sogar so sehr, dass sich – genau wie beim Sehvorgang – echte Konturen abzeichneten, dass sich im Raum eine wirkliche Form abhob und einzelne Farben sich erkennen ließen.

Ich ging auf einer mit Bäumen gesäumten Landstraße, und ich konnte auf jeden der Bäume entlang der Straße zeigen, selbst wenn diese nicht in regelmäßigen Abständen gepflanzt waren. Ich wusste, ob die Bäume gerade und hoch waren, ob sie ihre Äste trugen wie ein Körper seinen Kopf oder ob sie, zu Dickicht verfilzt, den Boden rings umher bedeckten. Diese Tätigkeit pflegte mich freilich sehr schnell zu erschöpfen; doch sie erreichte ihren Zweck. Und die Ermüdung kam nicht von den Bäumen – ihrer Zahl oder ihrer Form –, sondern aus mir selbst. Um sie auf diese Art wahrzunehmen, musste ich mich in einem Zustand halten, der von all meinen Gewohnheiten so sehr abwich, dass es mir nicht gelang, längere Zeit in ihm zu verharren. Ich musste die Bäume selbst ganz an mich herankommen lassen. Ich durfte nicht die geringste Absicht, auf sie zuzugehen, den geringsten Wunsch, sie kennenzulernen, zwischen sie und mich stellen. Ich durfte nicht neugierig sein, nicht ungeduldig, vor allem nicht stolz auf meine Fähigkeit.

Dieser Zustand ist indes nichts anderes, als was man gewöhnlich „Aufmerksamkeit” nennt; doch kann ich bezeugen, dass eine Aufmerksamkeit, die bis zu einem solchen Grade getrieben wird, nicht leicht fällt. Das Experiment mit den Bäumen am Rande der Straße konnte ich mit jedem beliebigen Gegenstand wiederholen, der eine gewisse – mindestens meine – Höhe hatte: mit den Telegraphenstangen, Hecken, Brückenbogen, den Häuserwänden entlang der Straße, ihren Türen, Fenstern, Vertiefungen und Schutthaufen.

Was die Gegenstände mir mitteilten, war, wie bei der Berührung, ein Druck, doch ein so neuartiger Druck, dass ich zunächst nicht daran dachte, ihn so zu benennen. Wenn ich mich ganz in die Aufmerksamkeit vertiefte und meiner Umgebung keinen eigenen Druck mehr entgegensetzte, dann legten sich Bäume und Felsen auf mich und drückten mir ihre Form ein, wie es Finger tun, die ihren Abdruck in Wachs hinterlassen.

Diese Neigung der Gegenstände, aus ihren natürlichen Grenzen herauszutreten, verursachte Eindrücke, die ebenso deutlich waren wie Sehen oder Hören. Ich brauchte allerdings mehrere Jahre, um mich an sie zu gewöhnen, sie ein wenig zu zähmen. Noch heute bediene ich mich – wie alle Blinden, ob sie es wissen oder nicht – eben dieser Eindrücke, wenn ich mich in einem Haus oder im Freien allein bewege. Später las ich, dass man diesen Sinn den „Sinn für Hindernisse” nenne und dass gewisse Tierarten, Fledermäuse zum Beispiel, anscheinend bis zu einem sehr hohen Grad damit ausgestattet seien.