Leseprobe aus: Marek B. Majorek, Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand

(S. 366 ff., Kapitel 6.3.1 Sinnlichkeitsfreies Denken: Eigenschaften)






Steiner geht in seinen Ausführungen über das sinnlichkeitsfreie Denken eindeutig von seiner Erfahrung der Realität dieses Prozesses und vor allem von der Realität der Gedankenwelt, deren Offenbarung dieses Denken ist, aus. Er beschreibt die Qualitäten dieser Gedankenwelt folgendermaßen: Sie ist eine "völlig auf sich selbst gebaute Wesenheit, eine in sich selbst geschlossene und vollendete Ganzheit"69, ein vollkommener Organismus70, ein "sich selbst tragendes Wesensweben"71, sie ist eine Allheit72, eine Einheit73, eine Harmonie74, eine "unendliche Vollkommenheit selbst"75, eine "in sich beschlossene Wesenheit"76, eine "Welt-Wesenheit", welche zugleich dem Menschen und der von ihm unabhängigen Welt angehört77, wo ein jedes Element ein "dienendes Glied" des Ganzen ist78, und jeder Begriff in der Allheit des Gedankengebäudes wurzelt.79 Steiner bezeichnet diese gedankliche Realität bzw. diesen Gedankenorganismus als den "Weltengrund"80. Individuelle Begriffe sind folglich innerhalb dieser Sicht bloß Resultate der spezialisierenden Tätigkeit des menschlichen Verstandes, der die Einheit der Ideenwelt "künstlich auseinanderhält"81, so dass wir zur klaren Erkenntnis gelangen können.82 Und die Vernuft hat die Aufgabe, sie aus der für die Indivdualisierung des Menschen notwendigen Vereinzelung in den organischen Zusammenhang der Gedankenwelt zurückzuführen.83 Die Verschiedenheit der Gedankenansichten liegt demnach laut Steiner bloß in der "Verschiedenheit unserer Verstandeswelten"84, der jedoch eine grundsätzliche Einheit der Gedankenwelt zugrunde liegt. Erkennen heißt in diesem Sinne nicht, "allgemeine Begriffe zu bilden", sondern sich als "individuelle [...] Persönlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt" hineinzuarbeiten85, in den Kern der Welt, aus welchem "alles hervorgeht"86, um dann, von diesem Zentrum ausgehend, sich so lange herauszuarbeiten, bis uns "ein solches Gedankengebilde vor die Seele tritt, das uns mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint".87

Es ist wichtig, dabei zu betonen, dass für Steiner die Initiative zur Erkenntnis nicht vom Subjekt, sondern - so paradox es klingen mag - vom Objekt, oder genauer gesagt, von der im Erkenntnisobjekt tätigen Gedankenwelt ausgeht. "Wir treten der konkreten Wahrnehmung gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes aus dem Dunkel unseres Bewusstseins"88, und zuvor: "Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, dass sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann."89

Der Abschluss des Erkenntnisprozesses ist aus dieser Sicht - um es nochmals zu bekräftigen (s. oben, 6.2) - nicht ein Abbild der Wirklichkeit, eine Art innere gedankliche "Fotografie" oder "Karte" der Welt90: Begriffe und Ideen dürfen nach Steiner nicht als Abbilder oder Fotografien der Dinge aufgefasst werden.91 Man muss es viel mehr so verstehen, dass der Mensch in dem gedanklichen Erkenntnisprozess real in das Wesen des Erkenntnisgegenstandes eindringt. "Wenn man über sie [die äußeren Dinge] nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt92, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur."93 Deshalb hieß es auch an der oben zitierten Stelle, dass man aus dem Zentrum der Welt sich so lange "herausarbeitet", bis man an ein "Gedankengebilde" kommt, welches dem wahrgenommenen Gegenstand nicht entspricht, sondern mit ihm identisch ist.94 Rudolf Steiner spricht auch vom Erlebnis, innerhalb eines Dinges zu stehen,95 oder vom menschlichen Geist als dem Organ, durch welches die Dinge ihr Wesen aussprechen.

Eine zusätzliche und wichtige Nuance des Erkenntnisprozesses ist aus Steiners Sicht, dass er nicht die Wirklichkeit wiederholt, sondern sie zu einer neuen, früher nie dagewesenen Form erhebt:

"Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist. [...] Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der Wissenschaft entwirft, ist die letzte wahre Gestalt derselben."96


(GA = Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach, Schweiz)

66 Lichtenberg, G.C.: Sudelbücher II, Heft K, § 76, S. 412.
67 Vgl. GA 13, S. 253f; GA 16, S. 39; GA 17, S. 11; GA 35, S. 289f; GA 134, S. 58 usw.
68 GA 217, S. 78.
69 GA 2, S. 39.
70 Ebd., S. 49; GA 13, S. 253; GA 17, S. 10.
71 GA 4, S. 149.
72 GA 1,S. 171.
73 Ebd., S. 168; GA 4, S. 170, 254.
74 GA 1, S. 169.
75 Ebd., S. 202.
76 GA 4, S. 93, 149, 262f.
77 GA 17, S. 10.
78 GA 1, S. 169.
79 GA 2, S. 49.
80 GA 1, S. 199; GA 2, S. 64, 94; GA 3, S. 165.
81 GA 1, S. 172.
82 Ebd.
83 Ebd., S. 172, 173.
84 Ebd., S. 173.
85 G A 2, S. 41.
86 GA 1, S. 163.
87 GA 1, S. 162.
88 GA 2, S. 49.
89 Ebd., S. 38. Vgl. auch die folgende Stelle: "In dem Augenblicke, wo eine Wahrnehmung in meinem Beobachtungshorizonte auftaucht, betätigt sich durch mich auch das Denken" (GA 4, S. 109, Hervorhebung von mir, M.M.). Vgl. ebd., S. 94.
90 GA 28, S. 321.
91 GA 1, S. 177; GA 2, S. 42, 43.
92 Es muss nebenbei bemerkt werden, dass Steiner an dieser, wie auch an manchen anderen Stellen, der Konvention huldigt, welche die Dichotomie objektiv/subjektiv als gleichbedeutend mit außen/innen betrachtet, was ungefähr der "ontologischen" Bedeutung des Begriffs entspricht.
93 GA 1, S. 333.
94 Ebd., S. 162.
95 Ebd., S. 163.
96 GA 2, S. 64. Es muss hinzugefügt werden, dass Rudolf Steiner mit "Wissenschaft" an dieser Stelle nicht die real existierende empirische Naturwissenschaft meint, sondern eine neue, erst zu entwickelnde Erkenntnisform.

         
         
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