Leseproben aus: Javier Marias, Alle Seelen



S. 54 ff., 203 ff.



[1] Der Ich-Erzähler, ein spanischer Schriftsteller, der in Oxford einen auf zwei Jahre begrenzten Lehrauftrag hat, ist zu einem high table seiner Fakultät eingeladen, eine streckenweise offenbar reichlich absurde Veranstaltung. Hier lernt er Clare Bayes kennen, deren Liebhaber auf Zeit er wird. (S. 54 ff.)

[2] Die Beziehung zwischen dem Erzähler und Clare geht ihrem zwangsläufigen Ende entgegen. Sie treffen sich auf ein letztes Wochenende in einem Hotel in Brighton. Diese Szene mündet in die erwähnte Schlusspassage. (S. 203 ff.)






[1]

Der Ich-Erzähler, ein spanischer Schriftsteller, der in Oxford einen auf zwei Jahre begrenzten Lehrauftrag hat, ist zu einem high table seiner Fakultät eingeladen, eine streckenweise offenbar reichlich absurde Veranstaltung. Hier lernt er Clare Bayes kennen, deren Liebhaber auf Zeit er wird. (S. 54 ff.)


Während jener endlosen Minute fand ich Gelegenheit, sämtliche Tischgäste in meinem Blickfeld zu beobachten: Die literarische Autorität am entgegengesetzten Kopfende teilte Schläge gegen die ihr zu Leibe rückenden Kellner aus, die, eifrig bemüht, den Tisch im Gleichgewicht zu halten, ihr weiter die Frisur zerzausten und die Ellbogen ihrer zehn kräftigen Arme gegen die Ohren stießen; zu ihrer Rechten hatte Frau Dr. Wetenhall mehr als eine Hand zuwenig bei ihrem dreifachen Versuch, sich die Ohren zuzuhalten, zwei Flaschen zu fassen, die bereits (halbvoll) auf den warden zurollten, und ein (womöglich neues) prekäres Haarteil mit Strähnen festzuhalten, das sich zu lösen begann, während ihr anderer Nachbar, der Leiter meiner Abteilung (Professor Kavanagh, ein ungezwungener Ire, der sich vor allem für die erfolgreichen Schauerromane interessierte, die er unter Pseudonym schrieb, ein Mann, der bei Kollegen und Untergebenen schlecht angesehen war, eben weil er Ire war, Romane schrieb und ungezwungen war), amüsiert wirkte und ironisch zum Getöse des warden beitrug, indem er im gleichen Takt mit einem Löffel an sein Weinglas schlug, wie man es noch heute beim Nachtisch tut, um eine Rede anzukündigen; zu seiner Rechten saßen zwei Mitglieder des college (mit Namen Brownjohn und Willis, Wissenschaftler mittleren Alters und folglich reflexarm), die lediglich Seitenblicke auf Lord Rymer wagten und versuchten, die herumfahrenden Augengläser ihres holländischen Gastes einzufangen, der, obwohl sicher auf seinem Platz sitzend, angesichts des Verlusts seine Arme ausgestreckt hatte (und mit ihnen das wenige umwarf, was in seinem Umkreis noch aufrecht stand), als fürchtete er, jeden Moment zu stolpern, wie Blinde, wenn sie sich ihres Stocks beraubt sehen; Dayanand, ebenfalls Mitglied des college und charaktervolles Individuum, war einer der wenigen, die das Gedröhn des warden hätten unterbrechen können, aber wenn auch vieles in seiner Haltung darauf hindeutete, beschränkte er sich doch darauf, ihm tödliche Blicke zuzuwerfen und auf dem Tisch die Fäuste zu ballen und zu öffnen (»dieser indische Arzt wird sich das teuer bezahlen lassen, auch wenn er zehn Jahre warten muß«, dachte ich; »vor diesem indischen Arzt muß man auf der Hut sein«); die Leuchte Atwater und der Ökonom Halliwell hatten endlich innegehalten in ihrem Wortschwall, und die bloße Tatsache zu schweigen schien sie noch mehr zu verwirren als das Gehämmer des warden, das sie wahrschein lieh bis zu jener Minute tosender Stille gar nicht wahrgenommen hatten; von der schreckhaften Harpyie habe ich schon gesprochen, und was Cromer-Blake betraf, so war sein Gesicht ein Rätsel: Während er an seinem wächsernen Kinn zupfte, schien er mit einem Anflug von Lächeln (das eines Mannes, der kurz davorsteht, in schallendes Lachen auszubrechen, oder das eines Mannes, in dem sich vielleicht der Zorn sammelt) zu warten, als wüßte er als guter Kenner der Angewohnheiten seines warden bereits, daß die Minute eine Minute dauern würde. Die übrigen vier Tischgäste, zu denen Edward Bayes gehörte, entzogen sich meinem Blickfeld. Aber bei dieser Wanderung, die mein Blick in sechzig Sekunden unternahm und die er auch jetzt nach so viel Zeit und in sehr viel längerer Zeit und in der Stadt Madrid unternimmt, in die ich zurückgekehrt bin, habe ich Clare Bayes ganz bewußt übersprungen.

Tatsächlich war es so, daß während jener Minute niemand wirklich – das heißt mit dem Blick – auf Lord Rymer achtete: Ein Teil der Tischrunde blickte ihn verstohlen und furchtsam an, konnte ihn jedoch nicht sehen, wie ich schon erklärt habe; ein anderer Teil war zu sehr damit beschäftigt, seine Haltung zu bewahren und wenigstens zu verhin dern, daß die von den Hammerschlägen erschütterten Flaschen, Augengläser und umherrollenden Trinkgefäße auf den Boden fielen; und ein dritter Teil nutzte die Gelegenheit, um Blicke untereinander zu tauschen oder, was das gleiche ist, um einander direkt und ohne irgendeinen Schleier ins Gesicht zu schauen. Zu den ersten gehörten die Harpyie, der Schauerromancier Kavanagh, die Leuchte der Sozialwissenschaften Atwater und der Apfelwein-Ökonom Halliwell, wobei die beiden letzteren als Mitglieder des college sich vielleicht (nicht sehr viele) Gedanken darüber machten, ob sie eingreifen und Lord Rymer das Instrument entziehen oder weiter untätig abwarten sollten, daß andere sich dem Risiko aussetzten, durch ihren kühnen Versuch unter den Hammer zu geraten oder – später – von Vergeltungsmaßnahmen getroffen zu werden; unter den zweiten befanden sich die literarische Autorität beziehungsweise der bereits so gut wie emeritierte Professor Toby Rylands, die Wissenschaftler Brownjohn und Willis, die perückentragende Frau Dr. Wetenhall und der fürchterliche Mineraloge in seiner Finsternis; und zu den dritten gehörten, wie ich während der letzten Sekunden jener Minute feststellen konnte, Dayanand und Cromer-Blake, Clare Bayes und ich sowie möglicherweise ihr Mann: gewiß auch er. Der abgemilderte (lediglich argwöhnische oder strenge) Blick, den Dayanand während des Abendessens hin und wieder auf mich gerichtet hatte und der jetzt mit seiner ganzen Intensität Lord Rymer traf, richtete sich plötzlich unverändert auf seinen Freund Cromer-Blake; das heißt, Dayanand warf ihm zu, was ich zuvor einen tödlichen Blick nannte, während er weiter seine Hände oder Fäuste auf dem Tisch ballte und öffnete, wie bei eine.m empörten Menschen, der sich mit knapper Not beherrscht; und als Cromer-Blake seinerseits die Augen des indischen Arztes wie Feuerblitze auf sich spürte, hob er den Blick, und obwohl ich seine Augen nicht gut sehen konnte, da sie sich im Profil befanden, also eigentlich nur das rechte, bemerkte ich, daß sein anfängliches Lächeln sich in die äußerst harte Linie verwandelte, die seine schmalen, wie blutlos wirkenden Lippen bisweilen zu bilden vermochten.

Und in diesem Augenblick schaute ich offen in das Gesicht von Clare Bayes, und ohne sie zu kennen, sah ich sie wie jemanden, der bereits meiner Vergangenheit angehörte. Ich meine, wie jemanden, der nicht mehr zu meiner Gegenwart gehörte, wie jemanden, der einen sehr interessiert hat und aufgehört hat, einen zu interessieren, oder schon gestorben ist, wie jemanden, der war oder den man an einem schon weit zurückliegenden Tag dazu verurteilt hat, gewesen zu sein, vielleicht weil dieser jemand einen sehr viel früher dazu verurteilt hat, nicht mehr zu sein. Jenes ausgeschnittene Kleid, das unter dem Talar zum Vorschein kam und indirekt so viel Aufruhr verursacht hatte, stammte aus einer anderen Zeit, wie so oft die Galakleidung in England. Und sogar das Gesicht von Clare Bayes war ein wenig altmodisch mit seinen zu vollen Lippen und seinen hohen Wangenknochen. Aber daran lag es nicht. Es lag daran, daß auch sie mich anschaute, und sie schaute mich an, als würde sie mich seit uralten Zeiten kennen, fast als wäre sie eine jener ergebenen, zweitrangigen Gestalten, die unsere Kindheit bevölkern und später nicht fähig sind, uns als die abscheulichen Erwachsenen anzuschauen, die wir sind, sondern uns mit ihrem reglosen, von der Erinnerung entstellten Auge – zu unserem Glück – in alle Ewigkeit als Kinder sehen werden. Diese naive Unfähigkeit findet sich häufiger bei Frauen als bei Männern, insofern Kinder für Männer ärgerliche Entwürfe von Erwachsenen sind, während sie für Frauen vollkommene Wesen darstellen, dazu bestimmt, zu verderben und abzustumpfen, und deshalb bemüht sich ihre Netzhaut, das Bild der vorübergehenden Gottheit zu bewahren, die verurteilt ist, es einmal nicht mehr zu sein, und wenn diese Netzhaut sie nicht kennengelernt hat, dann verwenden sie alle Vorstellungskraft, die der Umgang mit einer anderen Person stets erfordert, auf die Vorstellung dieses Kindes, das sie vielleicht nur von Photographien kennen oder in der schlafenden Gestalt dessen, der schon erwachsen und vielleicht gealtert ist, oder aus den gemächlichen Erzählungen, die der Usurpator ihnen vielleicht auf einem Bett anzuvertrauen gewagt hat, dem einzigen Ort, an dem die Männer sich bereit zeigen, mit lauter Stimme weit zurückliegender Dinge zu gedenken. So schaute Clare Bayes mich an, als kennte sie meine Kindheit in Madrid und hätte in meiner eigenen Sprache meine Spiele mit meinen Brüdern und meine nächtlichen Ängste und meine verabredeten Prügeleien nach dem Ende des Schulunterrichts erlebt. Und daß ich so von ihr gesehen wurde, bewirkte, daß ich sie in ähnlicher Weise sah. Ich habe später erfahren – als ich mehr von ihr wußte –, daß ich in jenen letzten Sekunden einer Minute, die nur jetzt existiert, ihre Kindheit in Indien aufblitzen sah, das nach-denkliche Gesicht des kleinen Mädchens, das nicht viel zu tun hatte in jenen südlichen Städten und unter der Obhut der braunen Stimmen heiterer Dienstboten einen Fluß vorbeifließen sah. Ich wußte nicht, daß ich ihn sah (und deshalb irre ich mich vielleicht oder lüge und sah ihn nicht und darf es nicht sagen), aber ich muß einfach sagen, daß durch diese dunklen blauen Augen jener in der Nacht glänzende, helle Fluß zog, der Yamuna oder Jumna, der durch Delhi fließt, gesprenkelt mit kleinen, rudimentären Lastkähnen, die Getreide, Baumwolle und Holz und auch Steine auf seinem Lauf dahinschleppen, vom Ufer her von nichtssagenden Gesängen gewiegt, gesäumt von Kieselsteinen, die von seinen steilen Ufern rollen, wenn er die Stadt hinter sich läßt, so wie in meinen Augen sich vielleicht Madrider Bilder aus der Calle de Génova, de Covarrubias und de Miguel Angel malten, die sie nie betreten noch gesehen hatte: vielleicht das Bild von vier Kindern, die mit einem alten Dienstmädchen durch diese Straßen gehen. Und gewiß war da auch die gewaltige Eisenbahnbrücke, die den Yamuna auf der Höhe der Stadt überspannt, die ständig aus der Ferne betrachtete Brücke, von der sich, wie ihr die Kinderfrau mit geheimnisvoller Stimme erzählte, wenn sie allein waren, mehr als ein unglückliches Liebespaar hinabgestürzt hatte: der breite blaue Fluß, zerteilt von der langen Brücke mit ihren diagonalen, gekreuzten Eisenträgern, die meiste Zeit leer, im Dunkeln, müßig und verschwommen, genau wie eine jener ergebenen, zweitrangigen Gestalten der Kindheit, die sich später entziehen, um nach langer Zeit, wenn sie gerufen werden, nur für die Dauer eines Augenblicks wiederzuerscheinen und aufzuleuchten und sich sogleich wieder im Dunkel ihrer unbekannten, austauschbaren Existenzen zu verlieren, nachdem sie ihren kurzen Dienst geleistet oder das Geheimnis offenbart haben, das man plötzlich von ihnen fordert. Und so existieren sie nur, damit das Kind, immer wenn es das Bedürfnis danach spürt, durch sie hindurchgehen kann. Das kleine englische Mädchen schaut jetzt auf die schwarze Eisenbrücke und wartet, daß ein Zug sie überquert, um zu sehen, wie sie aufleuchtet und sich im Wasser spiegelt, einer jener Züge mit lebhaften Farben, voller Licht und unhörbarer Geräusche, welche den Yamuna von Zeit zu Zeit überqueren, den Jumna, den sie geduldig von ihrem Haus in der Höhe anschaut, während die Kinderfrau ihr Worte zuflüstert oder ihr Vater, der Diplomat, sie in ihrem Rücken vom Rand des Gartens her betrachtet, wenn die Dunkelheit schon hereingebrochen ist, in Gala für das Abendessen und ein Glas in der Hand. Die Stunde naht, da das kleine Mädchen ins Bett geht, aber vorher muß noch ein Zug vorbeifahren, einer mehr, denn das frische Bild des vorbeifahrenden Zuges und des von seinen Fenstern erleuchteten Flusses (die Männer auf den Lastkähnen verlieren das Gleichgewicht, während sie nach oben schauen) hilft ihr, in den Schlaf zu finden und sich mit der Vorstellung des nächsten Tages in einer Stadt abzufinden, zu der sie nicht gehört und die sie erst dann als ihre sehen wird, wenn sie sie verlassen hat und ihrer nur noch mit ihrem Sohn oder mit einem Liebhaber mit lauter Stimme gedenken kann. Alle drei, das kleine Mädchen, die Kinderfrau und der melancholische Vater, warten, bis der Postzug, der aus Moradabad kommt und immer mit unberechenbarer Verspätung eintrifft, rasch die Eisenbrücke überquert, sie von einem Ende zum anderen ausfüllt mit seinen klapprigen tausendfarbigen Waggons, die man im Mondlicht wie einen Splitter erkennen kann: Und dann, nachdem sie die hin und her pendelnde Laterne des letzten Waggons aus den Augen verloren und ihr mit der Hand einen Abschiedsgruß zugewunken hat, der niemals um einer Antwort willen erfolgte, steht Clare Bayes auf und zieht sich die Schuhe an und küßt, auf die Fußspitzen gestellt, ihren schweigsamen Vater, der nach Tabak und Pfefferminzlikör riecht, und verschwindet schließlich im Innern des Hauses an der Hand der Kinderfrau, von der sie vielleicht, bevor sie einschläft, irgendein nichtssagendes Lied hören wird. So schaute Clare Bayes mich an, und so schaute ich sie an, als wären wir einer des anderen wachsame und mitfühlende Augen, Augen, die aus der Vergangenheit stammen und nicht mehr zählen, weil sie schon seit langer Zeit wissen, wie sie uns sehen müssen: Vielleicht schauten wir uns an, als seien wir beide ältere Geschwister. Und obwohl ich sie noch nicht kannte, wußte ich, daß ich sie kennen und ihr auf einem Bett die Details erzählen würde, die ich ihr im Verlauf so vieler Monate regelloser und immer wieder unterbrochener Begegnungen in meiner pyramidenförmigen Wohnung in Oxford und auch in der ihren und in den immer gleichen Hotels in London und Reading und einem in Brighton über die Calle de Genova, de Covarrubias und de Miguel Angel anvertraute.

Sie wandte den Blick ab. Plötzlich schien der warden Lord Rymer aus seiner lüsternen Selbstversunkenheit zu erwachen. Er griff energisch nach dem Hammer, und als er in seinem Umkreis eine so große Stille gewahrte (das Gemurmel hatte aufgehört, sämtliche Studenten waren mit ihrem elenden Abendessen fertig und schon vor einer Weile von den tiefen Tischen geflohen, in der Tasche das eine oder andere Messer zur Entschädigung), setzte er eine verächtliche, vage Miene auf, zeigte mit dem Stiel auf uns und sagte: »Was ist los mit Ihnen? Haben Sie sich nichts zu sagen, oder ist gerade ein Engel vorbeigegangen?« Dann stand er auf, schob mit der Hüfte (eine Geste des Ekels) den Teller mit seinem unberührten und erbsenlosen Steak beiseite, stieß einen groben lateinischen Brocken hervor, ohne sich noch im geringsten um eine glaubhafte Aussprache zu bemühen, versetzte dem übel zugerichteten Sockel einen letzten, erbarmungslosen Schlag und rief euphorisch: »Nachtisch!«


nach oben



[2]

Die Beziehung zwischen dem Erzähler und Clare geht ihrem zwangsläufigen Ende entgegen. Sie treffen sich auf ein letztes Wochenende in einem Hotel in Brighton. Diese Szene mündet in die erwähnte Schlusspassage. (S. 203 ff.)


»Die Geographie ist ein Grund, der mächtig genug ist, um Menschen zu trennen. Manchmal ist er unwiderruflich. Du willst nicht fortgehen und möchtest doch gern fortgehen, also weißt du nicht sehr genau, was du willst. Ich weiß, daß ich von nirgendwo fortgehen kann oder will. Aber es ist auch egal, daß du es nicht weißt, denn du mußt in jedem Fall gehen, und du wirst fortgehen. Es hat keinen Sinn, über etwas zu reden, das keinen Zweifel zuläßt.«

Ich sagte: »Aber du könntest mit mir kornrnen«, und ich dachte, daß ich damit zu meiner Überraschung schon fast alles gesagt hatte, was an diesem Juniabend und Samstagabend in der Stadt Brighton wesentlich zu sein schien (und deutlich sein mußte) (und ich dachte auch, daß Clare Bayes sagen würde, dies sei unmöglich).

»Wohin? Nach Madrid? Sei nicht albern. Das ist unmöglich.«

Ich sagte: »Würdest du denn mit mir kommen, wenn es möglich wäre?« Und ich dachte, daß ich auch ihr die Gelegenheit bot, zu sagen, daß sie etwas täte, von dem wir beide wußten, daß es nicht sein würde. Aber sie ergriff sie nicht, denn dies war nicht ihre Rolle, sondern die meine.

»Ich würde gerne wissen, wie, aus Neugier.«

Ich sagte: »Ich weiß nicht, wie, man müßte einen Weg finden, es gibt immer Wege, wenn man sie finden will. Aber zuerst muß man sie suchen wollen, ich muß wissen, daß du es möchtest oder daß du bereit bist, dir diese Frage zu stellen; und daß du nicht zulassen wirst, daß es noch einmal vier Wochen wie die letzten geben wird. Ich will auch nicht, daß dein Sohn mich seltsam anschaut, wenn ich ihn sehe, sondern daß er mich kennt und mit uns lebt, wenn wir zusammenleben, daß er auch mein Sohn ist oder mein Stiefsohn. Ich kann ohne dich nicht leben, wenn mir das auch zu spät klargeworden ist, jetzt, da ich schon kurz davor stehe, ohne dich leben zu müssen. Aber so ist es imrner«, und ich dachte, daß ich viel zu früh etwas zu sagen wagte, was zu sagen ich nicht einmal vorgehabt hatte und von dem ich nicht sicher wußte, ob ich es überhaupt sagen wollte, gleich ob am Anfang oder vielleicht am Ende (das Wort zusammen, das Wort Sohn, das Wort Stiefsohn); und ich dachte auch, daß die letzten Sätze, sogar der allerletzte, innerhalb der schmalen Skala möglicher Verhaltensweisen bei nicht blutsverwandten Beziehungen annehmbar gewesen waren. An Clare Bayes war es jetzt, überrascht zu sein, wenigstens ein bißchen, obwohl ihre Überraschung vorgetäuscht sein müßte. Aber ihre Vortäuschung bestand darin, sich nicht überrascht zu zeigen, was eine Form ist, die Überraschung (ihre Vortäuschung) dem anderen Teil zu überlassen.

»Es ist nicht zu spät«, sagte sie und zündete sich ihre erste Zigarette im Bett an, ihre erste Bedrohung für ihre Strümpfe: Während des Abendessens und während des Spazierganges hatte sie kaum geraucht, als hätte sie es für den Abend und das Zimmer aufgehoben. »Es ist keine Frage der Zeit, denn dafür gab es nie eine bestimmte Zeit. Es befand sich außerhalb jeder Zeit, es war immer ausgeschlossen, und so ist es weiterhin, jetzt noch mehr. Du wirst bald nach Madrid zurückkehren, und es ist besser, daß wir uns in den letzten Wochen und Monaten nicht gesehen haben, so haben wir uns allmählich daran gewöhnt, ich habe mich ziemlich daran gewöhnt. In Madrid wirst du mich nicht so vermissen wie hier, hier bist du allein. Jeden Tag, den du dort bist, werde ich dir ferner rücken, und du wirst mich verschwommener sehen. Es hat keinen Sinn, darüber zu sprechen. Laß uns dieses Wochenende so gut wie möglich verbringen und morgen Abschied nehmen. Zumindest davon, daß wir uns allein sehen. Es ist genug gewesen.«

Ich sagte: »So einfach«, und ich dachte, daß endlich sie das Wort übernommen hatte und daß ich vielleicht überhaupt nicht mehr sprechen müßte, sondern nur zuhören und ausruhen könnte.

»Nein, es ist überhaupt nicht einfach, glaub nicht, daß es einfach ist. Ich habe viel an dich gedacht, als Eric zu Hause war, und ich werde oft an dich denken, wenn du fortgegangen bist.«

Ich sagte: »Aber ich werde dauernd an dich denken, so wie ich in diesen Wochen dauernd an dich gedacht habe. Wenn du nicht mit mir kommen willst, dann muß ich einen Weg finden, hierzubleiben, und wäre es auch mit einer anderen Arbeit«, und ich dachte, daß ich nicht in Oxford bleiben wollte, um an einem Institut Spanischunterricht zu geben, und auch nicht in London, um beim Rundfunk zu arbeiten (das war das einzige, was mir in jenem Augenblick einfiel), und auch nicht mit dem Gesicht eines Chinesen und blauen Augen enden wollte, wie sie vielleicht, die ihre Kindheit weit entfernt, in Delhi und Kairo, verbracht hatte.

»Du würdest es hier nicht viel länger aushalten, du hast dein Land nicht so vergessen, wie du glaubst. Und wenn du bleiben würdest, wäre ich nicht mit dir zusammen, oder ich wäre nicht anders mit dir zusammen als bisher. Wir würden uns weiter so sehen, in Hotels oder kurz in unseren Wohnungen zwischen zwei Lehrstunden von mir. Wir haben niemals darüber gesprochen, ich nehme an, aus gegenseitiger Höflichkeit und weil es stillschweigend vorausgesetzt war. Es war nicht nötig; und auch aus Zeitmangel, um uns unsere kurzen Feste nicht zu verderben. Wir haben nie viel über irgend etwas gesprochen. Ich werde das Leben mit Ted nie aufgeben.«

Im Rahmen der Schritte, die in klaren Gesprächen über die Zukunft getan werden müssen (der Schritte, die nur Formalitäten sind), hatte ich jetzt die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Ich konnte fragen (ich blickte auf den Strand), ob dieses Verlassen nie in Betracht käme, weil sie den Ehemann trotz allem liebte (aber an diesem Juniabend und Samstagabend in der Stadt Brighton wollte ich nicht das Risiko eingehen, zu hören, daß es sich so verhielt, noch versuchen müssen, sie durch unvermeidlich eitles Gebaren meinerseits zu widerlegen); oder ich konnte ihr – indem ich tat, als existierte diese Möglichkeit nicht – ihren mangelnden Wagemut und ihre Fügung in die Gegebenheiten vorwerfen (ich drehte mich um und blickte zu den Kuppeln: ich warf die Zigarette aus dem Fenster – wie eine Münze –, ich sprach mit dem Rücken zu ihr), in Gegebenheiten, bei denen ich nicht dabeigewesen war und für die ich weder Verantwortung noch Achtung empfand. Es war gleichgültig, daß ich mich für die zweite Möglichkeit entschied, denn Clare Bayes antwortete, als hätte ich mich für die erste entschieden.

»Ich werde dir jetzt nicht sagen, daß ich in Ted verliebt bin, denn weder weiß ich genau, ob ich es bin, noch in welcher Weise, hingegen weiß ich, daß ich es nicht bin, wie ich es vor Jahren war, als wir heirateten und vorher und danach. Um die Wahrheit zu sagen, ich stelle mir nicht viele Fragen, ich frage mich das gewöhnlich nicht. Aber selbst wenn es wahr wäre, daß ich es bin, und diese Überzeugung besäße, würde ich es dir auch nicht sagen. Es ist lächerlich, daß eine Frau ihrem Liebhaber so etwas sagt oder ein Mann seiner Geliebten, und noch dazu jemandem, der kein Gelegenheitsliebhaber ist, sondern jemand, den sie seit geraumer Zeit kennt und gern hat. Ich könnte es nicht vor dir vertreten, auch wenn ich sicher wäre. Aber es ist nicht nötig. Es genügt, wenn ich dir sage, daß ich gern mit ihm lebe, das weißt du schon. Es ist nicht nur angenehm, ich bin auch daran gewöhnt. Es ist das Leben, das ich gewählt habe, und ich wähle es weiterhin aus unter all den Leben, die mir möglich wären, vergessen wir die unmöglichen. Einen Liebhaber haben steht nicht im Widerspruch dazu, nicht einmal, wenn ich dir wie eine leicht lächerliche Frau sagen würde, daß ich Ted mehr als alles andere liebe.«

Ich sagte: »Liebhaber nehmen sich Zeit und sind guten Willens und bringen große Begeisterung auf, ist es nicht so?« Und ich dachte, daß ich mir auch mit Muriel, der falschen Dicken aus Wychwood Forest, Zeit genommen hatte und guten Willens gewesen war; aber ich hatte keinerlei Begeisterung aufgebracht.

»Du bist ein Dummkopf«, sagte Clare Bayes zu mir, wie an jenem fünften November in ihrem Arbeitszimmer in All Souls, in der Catte Street, gegenüber der Radcliffe Camera, und deshalb war es das zweitemal, daß sie mich einen Dummkopf nannte (ohne daß ich mich verletzt fühlte, weder dieses noch das andere Mal): Sie hatte sich über meinen Kommentar geärgert und sicher auch, weil ich sie unterbrochen hatte, als sie bereits fest entschlossen war, das Wort zu behalten und mit mir eine kindliche Unterhaltung zu führen: den ganzen Prozeß der Annäherung, der Erfüllung und der Entfernung aufzurollen; den Prozeß der Fülle, des Kampfes und der Zweifel; der Gewißheiten, der Eifersucht und des Verlassens; und des Lachens (dieser ganzen Mühe ein Ende zu machen). »Du bist ein Dummkopf«, sagte sie zu mir. »Ja, ihr Liebhaber nehmt euch Zeit und seid guten Willens und bringt große Begeisterung auf, aber nicht für lange, und so muß es sein. Das ist eure Rolle, und darin liegt auch euer Charme. Auch der meine als deine Geliebte, vergiß das nicht; auch der meine, obwohl du nicht verheiratet bist. Unsere Aufgabe ist es, nicht zu lange zu dauern, nicht zu beharren, nicht zu bleiben, denn wenn wir etwas über Gebühr dauern, dann hört der Charme auf, und es beginnen die Leidensgeschichten und folgen die Tragödien. Dumme Tragödien, vermeidbare Tragödien, gesuchte Tragödien.«

Ich sagte: »Ich habe nicht viele Tragödien gesehen in diesen Zeiten«, und ich dachte, daß es sie zwischen Clare Bayes und mir unmöglich geben konnte, weder in Oxford noch in London noch in Reading noch in Brighton. Nicht einmal auf dem Bahnhof in Didcot.

»Es ist egal, ob sie in diesen Zeiten passieren oder in anderen passiert sind, die Zeiten sind nie sehr verschieden, auch wenn es so aussieht. Wer kennt denn eine andere Zeit als die seine. Vor dreißig Jahren, das heißt zu meiner Zeit, habe ich eine Tragödie gesehen, die wahrscheinlich dumm war, und seitdem, oder vielleicht seitdem ich wußte, daß ich sie gesehen hatte, versuche ich mein ganzes Leben lang, unverletzbar zu sein, pessimistisch und kalt genug, um gegen dumme Tragödien gefeit zu sein; um immun gegen sie zu sein und sie nicht zu suchen. Du hast nichts gesehen und kannst dir noch viel erlauben, aber ich nicht. Und ich will auch nicht.«


nach oben





         
         
         
         
     
Ausdrucken