Aus "Marie, Engel der Grenze", I. Teil, Kapitel 7







Für oder gegen die Liebe zu Marie – jetzt ist es so weit, dachte ich, jetzt kann Bettina mich mit einiger Berechtigung auffordern, es bleiben zu lassen. Aber gleich meuterte ich: ist eine Liebe dazu nicht viel zu kostbar? Es war doch viel zu schön, zu lieben. Unmöglich, mich dagegen zu entscheiden. Bleiben lassen könnte ich Marie ab Dezember immer noch. In den Momenten der Vergangenheitsform hatte ich mich im Geheimen schon in einer Trauer über den Tod meiner Liebe einrichten wollen. Jetzt aber, voller nachbebender Wirklichkeit, lebte und liebte ich wieder, so lange und so intensiv es nur ging.

Bevor ich mich am nächsten Tag auf den Weg zum Bahnhof machte, um Bettina vom Zug abzuholen, schaute ich kurz zu Manuel ins Gewächshaus. Ein paar Sätze über Marie, das musste noch sein, das Reden über sie und meine Gefühle zu ihr war mir inzwischen zur Droge geworden.

"Wie geht’s dir mit Marie?"

Die Frage konnte ich ihm sowohl als Chef, der sich um die persönlichen Angelegenheiten seines Lehrlings kümmerte, als auch – dank Manuels Alter – von Mann zu Mann stellen. Schließlich kannten wir uns länger als er mit Marie zusammen war. Manuel konnte zu Marie durchaus eine gewisse Distanz einnehmen, er war dreizehn Jahre älter als sie und hatte genügend Erfahrungen gesammelt, um Vergleiche ziehen zu können.

"Mal so, mal so. Es ist nicht leicht mit ihr".

Nicht leicht? Ach, könnte ich doch als Meister zum Lehrling sagen: komm, lass mich mal! Ich zeig dir wie das geht. Aber immerhin gab es eine Gemeinsamkeit in unseren Urteilen über Marie: sie musste das Reden lernen. Hier wähnte ich mich allerdings kühn im Vorteil, hatte ich doch Manuel ein gutes Dutzend Lebensjahre voraus. Zerrissen wie ich war, empfand ich an diesem Punkt mein Alter wieder als etwas Nützliches. Ich sah zudem – wenn auch widerwillig –, dass von ihrer Zurückhaltung eine große Gefahr ausging: wer so wenig spricht, ist eine glänzende Projektionsfläche für Phantasien, Wunsch- und Trugbilder aller Art.

Manuel schien die Tatsache, dass ich mich in Marie verliebt hatte, nicht als Bedrohung aufzufassen. War ich kein ernstzunehmender Konkurrent? Oder war es ihm egal, da ihm ohnehin nicht so viel an ihr lag? Oder wollte er mir seine Bedrängnis nicht zeigen? Einerlei, ich nahm ihn in jedem Fall als willkommenen sachkundigen Gesprächspartner, wusste er doch von allen Menschen in meiner Nähe am meisten über Marie. Mit Manuel über sie zu sprechen, war wie ein erschlichenes Zusammensein mit ihr, ohne dass sie davon wusste.

"Worüber redet ihr denn meistens?" Ich wollte, dass er mir jedes ihrer Worte berichtete.

"Viel über unsere Beziehung. Das heißt, ich erzähle ihr von mir. Von ihr was zu erfahren ist schwieriger, ich muss dauernd fragen, sie redet so wenig, weißt du." Ja ja, ich wusste. Manuel war ebenfalls kein Held der Rede, in der Disziplin des Schweigens aber stellte Marie ihn ohne weiteres in den Schatten.

"Und dann", fuhr er fort, "ist sie so absolut. Sie will alles. Irgendwie überfordert sie mich. Sie will zum Beispiel, dass ich ständig bei ihr bin. Aber ich brauch doch auch Zeit für mich. Das versteht sie nicht."

Auch ich hatte Mühe Manuel zu verstehen. Zeit wofür? Für sein blödes Motorrad? Wäre ich an seiner Stelle gewesen, wäre mir jede Stunde, die ich mit Marie hätte verbringen dürfen, zu kurz geworden, hätte ich jede Minute in ihrer Gegenwart ins Unendliche ausdehnen wollen.

Resigniert zog er sein Resümee: "Sie ist schon eine harte Nuss."

Harte Nuss. Manuel lebte offenbar in einer anderen Welt. Ich war randvoll gepumpt mit dem süßen Gift der Worte über Marie, als ich zum Bahnhof fuhr. Mein Verstand wusste sehr wohl, wie zerstörerisch der Zustand der Sucht ist, aber die Köstlichkeit des Rausches überstrahlte alle Bedenken. Der Süchtige kennt keinen Morgen danach, nur ein entstelltes, bewusstloses Hier und Jetzt. Er kennt keine anderen, nur sich selbst.

Wie sollte das nur enden. Ich hatte Angst vor der Begegnung mit Bettina. Die Liebe zu Marie war in mir derart gegenwärtig, dass sogar in dem Moment, als ich aus dem Auto ausstieg und Bettina entgegenging, nicht der geringste Raum für andere Gedanken blieb als für die an Marie. Wie konnte ich da vor meine Frau treten?

Der Tag verlief schlimmer als ich befürchtet hatte. Schweigend waren Bettina und ich vom Bahnhof nach Hause gefahren, eine geballte Wolke ihrer unterdrückten Wut hing zwischen uns und verschloss mir und ihr den Mund. In gewisser Weise war mir das recht, ich hätte ohnehin nicht gewusst, was ich sagen sollte.

Elisabeth empfing uns in der Küche: "Hallo Mama." "Hallo meine Süße. Na, mein Kleiner!" Sie nahm Felix auf den Arm, der aus seinem Zimmer gesaust kam, als er uns kommen hörte. Bettina versuchte die Last Marie abzuschütteln, mit den Kindern gelang ihr das meist halbwegs. "Was habt ihr die ganze Zeit gemacht, als ich nicht da war?"

"Ich hab gestern den Felix ganz allein ins Bett gebracht, Mama", platzte Elisabeth heraus.

"Wieso?!" Bettina drehte sich aufgebracht zu mir. "Warst du denn nicht da?"

"Papa und Marie sind gestern Abend weggegangen", sagte Elisabeth schneller als ich irgendetwas antworten konnte, "und ich durfte dem Felix was aus Pippi Langstrumpf vorlesen. Und dann ist er auch eingeschlafen." Sie war stolz auf ihre Leistung. Felix wand sich zweimal um sich selber, wie immer etwas unangenehm berührt, wenn von ihm die Rede war, umrundete Bettina zweimal in Höchstgeschwindigkeit und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Als auch Elisabeth nach zwei, drei weiteren Sätzen wieder weg war, rastete Bettina aus. "Was glaubst du eigentlich, wie du dich hier aufführen kannst! Das kann doch nicht wahr sein, oder? Kaum bin ich aus dem Haus, fängst du hier an mit ihr rumzumachen! Weißt du was? Du bist nichts als ein Idiot, der auf meine Kosten lebt, und ich habe jetzt die Schnauze voll, mir reicht’s!" Sie knallte die Küchentür zu und lief in ihr Zimmer.

O Gott! Ich hatte doch, dachte ich, nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich in der Zeit, in der Bettina weg war, mich mit Marie treffen würde, oder? Hatte ich nicht vorher versucht ihr zu erklären, dass ich meine Beziehung zu Marie – oder wie immer man das nennen wollte – nur in der Realität abwickeln könnte, und hatte sie nicht gesagt, dass sie auch deswegen wegfahren würde, um möglichst wenig davon mitzukriegen?

Am Abend erzählte mir Elisabeth, dass sich Ole und Maren, Corinnas Eltern, scheiden lassen wollten. Niedergeschlagen und voller Angst fing ich an, mir ein Leben nach einer Trennung von Bettina auszumalen. Als ich anderntags vom Markt zurückkam, lag auf dem Küchentisch ein Brief von Bettina. Darin kündigte sie mir an, mich zu verlassen und mit den Kindern nach Bayern zurückzugehen. Voller Panik lief ich in die Kinderzimmer um nachzuschauen, ob sie vielleicht schon gepackt hätte. Doch alles war wie sonst, und gegen Abend kehrten alle drei windzersaust von einem Ausflug ans Meer zurück. Nach langer schweigsamer Einleitung kam spät an diesem Abend noch ein gequältes Gespräch zwischen Bettina und mir in Gang, zwei, drei Stunden lang. Der Ton war gereizt, laut, unsachlich. Grauenhaft.

"Wieso hast du mir überhaupt die ganze Geschichte erzählt? Verlieb dich, in wen du willst, aber behalt es für dich. Lass mich mit dem ganzen Zeug zufrieden! Das ist doch dein Mist." Sie wehrte sich dagegen, durch mein – wie sie es nannte – gedankenloses Bekenntnis in eine Mitverantwortung für die Krise hineingezogen zu werden.

Zum Schluss dann ein Eklat, wie an den meisten Abenden. Mein Schmerz und meine Trauer beleidigten sie. Wenn ich mich schon verliebte, warum sprühte ich nicht wenigstens vor Energie und Lebenslust? Dann hätte sie wenigstens auch etwas davon.

"Wie soll ich denn sprühen", war meine Gegenfrage, "ich muss doch immerzu ein schlechtes Gewissen haben!"

Da geriet sie derart in Wut, dass der Abend damit zu Ende war. Ich verstand sie nicht. Wir folterten einander und gerieten immer wieder aufs Neue in einen Zustand, in dem wir den Bodensatz der letzten Jahre aufwühlten und das dort halbverdaut Abgelagerte ins grelle Flutlicht der gegenwärtigen Affekte zerrten.

"Ich weiß überhaupt nicht, wieso ich letztes Jahr mit hierher gekommen bin!" schleuderte sie mir entgegen, "Wieso bin ich nicht mit den Kindern in Bayern geblieben! Das hier war doch sowieso nie mein Ding!" Sie war völlig außer sich. "Ich hab den Umzug in diese komische Gegend doch nur deshalb auf mich genommen, weil ich gemeint hab, wir haben hier eine gemeinsame Zukunft als Familie. Wir alle miteinander. Was du jetzt machst, ist nichts anderes als Verrat! Die Gefühle, die ganze Leidenschaft, alles, was du jetzt in die Marie hineinsteckst, das steht ganz allein mir zu, weißt du das? Verlass dich drauf: ich nehm das nicht so einfach hin!"

Rücksichtslos wühlten wir in den Wunden, die wir einander in den letzten Jahren geschlagen hatten. "Du hast doch nie einen konstruktiven Vorschlag gemacht, damals als Welger angefangen hat, uns das Haus wegzubaggern und wir nicht gewusst haben, wie es weitergehen soll", gab ich zurück. "Wo warst du denn, als wir eine Zukunft gebraucht haben?" Es war nicht schwer, mit der Wut der verletzten Liebe auf dem langen gemeinsamen Weg die entscheidenden Pflastersteine zu finden und herauszureißen, um den anderen damit zu steinigen. Gewalttätig brach jeder die Narben des anderen auf, und jäh klaffte die Zukunft als blutender Krater zwischen uns, ohne Weg noch Steg.

Mit größter Anstrengung gelang es uns, über Tage hinweg eine Art fortwährender Auseinandersetzung in Gang zu halten. Die immer weiter aufreißenden Gräben konnten wir damit nicht mehr zuschütten. Im Zenit des gemeinsam aufgeführten Dramas gewann ich für eine kurze Zeitspanne Abstand zu Marie. Der bittere Nachdruck, mit dem Bettina und ich unsere mögliche Trennung abhandelten, hatte eine ernüchternde Wirkung auf mich. Aber ich ertrug den Entzug nicht lange: kaum mehr als einen halben Tag, dann fiel ich wieder – resignierend und triumphierend zugleich – in die Überzeugung zurück, dass mich keine noch so große Bedrohung von meinem Wahn, Marie lieben zu müssen, befreien würde. Als ich Bettina gegenüber verzweifelt von Suchtkrankheit sprach, war es das einzige Mal, dass sie aufhorchte und bereit schien, mich zu verstehen. Für einen Moment.

Ich erlebte meine täglichen Rückfälle, meine Kicks: Herzklopfen, wenn ich Maries Schritte über mir hörte, meine ununterbrochenen Gedanken an sie: was ich ihr heute, morgen, jeden Tag sagen, was ich ihr schenken wollte – während Bettina mir gleichzeitig androhte mich zu verlassen, falls ich mich nicht besinne.
         
         
         
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