Marie, Ausschnitt 1

Prolog aus "Marie, Engel der Grenze"







Was, ich hab dir die Geschichte tatsächlich noch nicht erzählt?

Weißt du, es gab eine Zeit, da habe ich sie jedem aufgedrängt, ob er sie hören wollte oder nicht. Die ersten Male unter Tränen, wirklich, da war alles noch am Lodern, alles ein Feuermeer und ich mitten drin. Ich brauchte Menschen, mit denen ich in meiner Verzweiflung reden konnte, auf der Stelle. Wenn ich die nicht gehabt hätte, wäre ich wahnsinnig geworden. Auch später habe ich mich immer mehr durch das Reden geheilt, Satz für Satz, Wort für Wort manchmal. Die Heilung hat lange gedauert, aber je öfter ich die Geschichte erzählt habe, desto weniger hat sie mich schließlich zerstört. Im Grunde habe ich sie immer nur mir selber erzählt, um sie endlich ertragen zu können. Das alles ist viele Jahre her. Die Geschichte zerstört mich nicht mehr, schon lange nicht mehr. Und dass mir noch einmal in meinem Leben so etwas begegnen könnte, glaube ich nicht. Es hat für mehr als ein Leben gereicht. Man denkt immer, Menschen nehmen sich das Leben, weil sie vielleicht aus irgendeiner hoffnungslosen Lage keinen Ausweg sehen, nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Seit der Geschichte mit Marie weiß ich, warum Menschen sich umbringen: weil ihr Leben Tag für Tag, Minute für Minute eine solche Qual ist, dass sie es nicht länger aushalten. Du weißt nicht, was es heißt, Monate lang Tag und Nacht ohne Pause deinen Herzschlag wie einen riesigen Hammer in der Brust zu fühlen, immer am Rande des Zusammenbruchs. Irgendwann, dachte ich, geht es nicht mehr.

Nachdem alles schon viele Jahre vorbei war, habe ich den Werther gelesen. Kennst du das Buch? Da erlebt einer meine Gefühle und hat sie vor über zweihundert Jahren aufgeschrieben, in sehr genauen, schönen Worten. In gewisser Weise war das ein später Trost für mich. Ich hatte damals angefangen, andere in meinem Alter, Männer wie Frauen, genauer anzuschauen: kennen sie das, was ich erlebe, wissen sie, was ich weiß? Haben sie es schon hinter sich? Ahnen sie, was gerade auf sie zukommt? Stecken sie vielleicht wie ich gerade mittendrin? Frauen, dachte ich mir, müssen das ganz anders erfahren als Männer, aber wie? Das war eine brennende Frage. Überhaupt habe ich in dieser Zeit viel über Männer und Frauen nachgedacht. Oder, eigentlich ist nachdenken gar nicht das richtige Wort: ich hatte am laufenden Band Erlebnisse, Erkenntnisse, Einsichten, ständig was Neues, wie in einem permanenten Rausch.

Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, in was für einem Zustand ich war. Ich habe gespenstische Dinge erlebt: Eines Tages sah ich zum Beispiel glasklar, dass Männer und Frauen auf verschiedenen Planeten leben, unabänderlich und endgültig. Wie ein sinnliches Schauen war das, ich habe diese Trennung tatsächlich gesehen. Wie wenn mir jemand ein Gemälde oder ein Foto gezeigt hätte, ich kann das nicht besser wiedergeben. Wenn du ein Bild anschaust, dann weißt du ja, was du siehst - so war das für mich. Und nichts konnte über diese Teilung hinwegtäuschen: gemeinsame Kultur, Sprache und so weiter, alles Oberfläche, alles Schnickschnack. Unüberwindbar getrennt und einander abgewandt gingen sie ihre Wege, Männer wie Frauen.

Ein anderes Mal bin ich in der Nacht aufgewacht und habe mich unvermittelt im Körper einer Frau befunden, völlig durchdrungen von Weiblichkeit, von oben bis unten. Ich habe nicht geträumt, ich war absolut wach. Kannst du dir vorstellen, wie mich das mitgenommen hat? Ich wusste nicht, was mit mir los war, ob ich noch ich selber war, ob ich überhaupt am Leben war. Ich war nahe daran meinen Verstand zu verlieren.

Der einzelne Mensch, sagt Thorwald Dethlefsen, ist un-heil, erst die Verschmelzung mit dem anderen, also von Mann und Frau, ist das Heil. Wir leben in dieser Gegensätzlichkeit, sie ist unser irdisches Schicksal. Erst ihre Überwindung führt uns - jenseits des Lebens - wieder dahin zurück, woher wir gekommen sind, um die Erfahrungen und Prägungen des ganzen Lebenslaufes reicher. Während des Lebens ist die Liebe die einzige Möglichkeit, dieses polarisierte, isolierte Dasein zu überwinden. Im gemeinsamen Orgasmus - also, gleichzeitig sollte er dann schon sein - haben wir die Möglichkeit, uns wie ausgelöscht und zugleich vereinigt zu fühlen: göttlich, völlig raum- und zeitlos, ein Geschenk, das uns ahnen lässt, aus welchen Bereichen wir Menschen eigentlich stammen. In diesem Moment ist alles, was uns mit der Schwere unseres Daseins ans Leben fesselt, aufgehoben. Natürlich brauchen wir dazu unseren Körper, aber was wir da erleben, ist nicht mehr von dieser Welt.

Schön sagt er das, nicht wahr? La petite mort, Aufhebung alles Irdischen.

Das alles ging mir damals durch den Kopf, der Erkenntnisgewinn von Lebenskrisen kann überwältigend sein. Wenn du nicht von selber gescheit wirst, dann hilft das Schicksal nach: die Krise als Selbsterfahrungsworkshop. Andere brauchen dazu Jahre der Meditation, ich war von heute auf morgen in diesem Zustand, aber er hat mich beinahe das Leben gekostet.