Leseproben aus: Ian McEwan, Abbitte



S. 122 ff./134 ff., 314 ff., 434 ff.



[1] Sommer 1935 auf einem Landsitz in England. Robbie Turner ist 23, Cecilia Tallis 16. Die beiden haben ihre ganze Kindheit in großer Vertrautheit miteinander verbracht, doch trennt sie ein Standesunterschied. Eine wertvolle Vase ist bei einem Streit zwischen ihnen zu Bruch gegangen. Robbie versucht durch einen Brief die Situation zu bereinigen. (S. 122 ff./134 ff.)

[2] Zweiter Weltkrieg, Ende Mai 1940 in Flandern. Robbie ist, wie viele englische Soldaten, auf dem ungeordneten Rückzug nach Dünkirchen. (S. 314 ff.)

[3] Briony Tallis, die 1935 13 Jahre alt war, und damals durch kindlichen Unverstand und Trotz schicksalhaft in das Leben von Robbie und ihrer Schwester Cecilia eingegriffen hatte, lässt sich im Krieg zur Krankenschwester ausbilden. (S. 434 ff.)




[1]

Sommer 1935 auf einem Landsitz in England. Robbie Turner ist 23, Cecilia Tallis 16. Die beiden haben ihre ganze Kindheit in groß;er Vertrautheit miteinander verbracht, doch trennt sie ein Standesunterschied. Eine wertvolle Vase ist bei einem Streit zwischen ihnen zu Bruch gegangen. Robbie versucht durch einen Brief die Situation zu bereinigen. (S. 122 ff./134 ff.)

Er tippte Datum und Anrede und hob gleich mit einer Entschuldigung für sein "tolpatschiges und unbedachtes Benehmen" an. Dann hielt er inne. Sollte er ihr seine Gefühle offenbaren und wenn ja, wie weit sollte er gehen?
Falls es eine Entschuldigung geben kann, vermag ich nur zu sagen, daß mir auffiel, wie leichtsinnig mir in letzter Zeit in Deiner Gegenwart zumute ist. Ich meine, schließlich bin ich noch nie zuvor barfuß in ein fremdes Haus gegangen. Es muß wohl an der Hitze liegen!
Wie fadenscheinig er klang, dieser vorgeschützte leichte Ton. Er führte sich wie ein Mann mit akuter Tb auf, der tat, als habe er nur eine Erkältung. Zweimal riß er an dem Bügel für den Wagenrücklauf und schrieb diesmal: Es kann kaum als Entschuldigung gelten, ich weiß, aber in letzter Zeit scheine ich in Deiner Nähe schrecklich leichtsinnig zu werden. Was habe ich mir nur dabei gedacht, barfuß ins Haus zu gehen? Und habe ich je zuvor den Rand einer Vase abgebrochen? Er ließ die Hände auf den Tasten ruhen und widerstand dem Drang, noch einmal ihren Namen zu tippen. Ich glaub, Cee, es lag nicht an der Hitze! Nun war das Launige dem Melodram gewichen, womöglich gar der Wehleidigkeit. Rhetorische Fragen hatten etwas Klebriges an sich, und das Ausrufezeichen war stets eine willkommene Zuflucht für jene, die schreien mußten, um sich verständlich zu machen. Eine solche Zeichensetzung verzieh er nur seiner Mutter, die in ihren Briefen ein gutes Bonmot mit einer Reihe von fünf Ausrufezeichen markierte. Er drehte die Walze und kreuzte das Satzzeichen mit einem "x" wieder aus. Ich glaub, Cee, es lag nicht an der Hitze. Den Humor war er damit los, dafür klang es jetzt nach Selbstmitleid. Das Rufzeichen mußte wieder her. Offenbar sorgte es nicht bloß für eine gewisse Lautstärke.
Er spielte noch eine weitere Viertelstunde mit den Sätzen, dann spannte er ein neues Blatt ein und tippte den Text ins reine. Die entscheidenden Zeilen lauteten nun: Barfuß ins Haus zu tapsen, die antike Vase zu zerbrechen - es wäre nur allzu verständlich, wenn Du mich für verrückt hieltest. In Wahrheit aber fühle ich mich in Deiner Gegenwart ziemlich dumm und tölpelhaft, Cee, und ich glaube nicht, daß es an der Hitze liegt! Kannst Du mir verzeihen? Robbie. Den Stuhl nach hinten gekippt träumte er einige Augenblicke vor sich hin, dachte an die Seiten, bei denen sich neuerdings die Anatomy stets von allein aufzuschlagen schien, ließ sich dann nach vorn fallen und tippte, ehe er sich zurückhalten konnte: In meinen Träumen küsse ich Deine Möse, Deine süße, feuchte Möse. In Gedanken liebe ich Dich von früh bis spät.
Da - es war passiert, die Reinschrift ruiniert. Er zog das Blatt aus der Schreibmaschine, legte es beiseite und schrieb den Brief von Hand noch einmal neu, fand er doch, daß dieser persönliche Zug dem Anlaß angemessen war. Bei einem Blick auf die Uhr fiel ihm schließlich ein, daß er noch seine Schuhe putzen mußte. Er erhob sich vom Schreibtisch und achtete darauf, sich nicht den Kopf an den Deckenbalken zu stoßen.
Er kannte keine gesellschaftliche Scheu, was manch einer ziemlich ungehörig fand. So war er bei einem Abendessen in Cambridge mal während eines plötzlich auftretenden Schweigens von jemandem, der ihn nicht mochte, laut nach seinen Eltern gefragt worden. Robbie hatte den Mann mit offenem Blick gemustert und ihm freundlich geantwortet, daß sein Vater sich schon vor langem auf und davon gemacht habe und daß seine Mutter als Reinemachefrau arbeite, ihr Einkommen aber gelegentlich auch als Wahrsagerin aufbessere. Sein unbekümmerter, nachsichtiger Ton verzieh dem Fragesteller dessen Unwissenheit. Danach erläuterte Robbie eingehend seine näheren Lebensumstände und erkundigte sich zum Schluß höflich nach den Eltern seines Gegenübers. Manche Leute behaupteten, daß es seine Unschuld sei, seine Unerfahrenheit, die ihn vor jeder Kränkung schütze, daß er eine Art heiliger Narr sei, der selbst durch einen mit glühender Kohle ausgelegten Salon gehen könne, ohne sich weh zu tun. Doch Cecilia wußte, in Wahrheit verhielt es sich einfacher. Robbie hatte sich von klein auf ungehindert zwischen dem Pförtnerhaus und dem Haus der Familie Tallis bewegen können. Jack Tallis förderte ihn, Leon und Cecilia waren seine besten Freunde, zumindest bis zum Gymnasium. Und als Robbie an der Universität feststellte, daß er schlauer als die meisten Studenten war, streifte er auch noch die letzten Fesseln ab. Er brauchte sich seine Überlegenheit nicht anmerken zu lassen.

(kurz darauf und einige Seiten später - S. 134 ff. - ist Robbie auf dem Weg ins Haus der Tallis', wo am Abend das Dinner stattfindet, zu dem er eingeladen ist. Den Brief an Cecilia trägt er mit sich. Er trifft Briony, Cecilias jüngere Schwester)

Seine Schritte durch den stillen Sommerabend beschleunigten sich im Rhythmus der sich überschlagenden Gedanken. Vor ihm, keine hundert Meter weiter vorn, lag die Brücke, und er meinte zu sehen, wie sich auf dem dunklen Weg ein weißer Schemen abhob, den er im ersten Moment für ein Stück vom fahlen Mauerwerk der Brüstung gehalten hatte. Als er ihn genauer in Augenschein zu nehmen versuchte, verschwammen die Konturen, formten aber schon nach wenigen Schritten die Umrisse einer menschlichen Gestalt, doch ob sie ihm Gesicht oder Rücken zukehrte, ließ sich auf diese Entfernung nicht genau sagen. Sie verharrte reglos, und er nahm an, dass er beobachtet wurde. Ein, zwei Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, einen Geist vor sich zu haben, doch glaubte er nicht ans Übernatürliche, so daß er die Gestalt nicht einmal für jenes äußerst harmlose Wesen halten mochte, das angeblich in der normannischen Dorfkirche spukte. Vor ihm stand ein Kind, soviel erkannte er jetzt, und deshalb mußte es Briony mit ihrem weißen Kleid sein, in dem er sie heute schon gesehen hatte. Schließlich erkannte er sie deutlich, hob eine Hand und rief ihr zu: "Ich bin's, Robbie", aber sie rührte sich immer noch nicht.
Während er auf sie zuging, fiel ihm ein, daß es möglicherweise besser wäre, wenn der Brief vor ihm im Haus einträfe, da er ihn sonst vielleicht im Beisein anderer Leute übergeben mußte, etwa vor den Augen ihrer Mutter, die sich ihm gegenüber recht distanziert gezeigt hatte, seit er von der Universität zurückgekehrt war. Vielleicht würde er Cecilia den Brief auch überhaupt nicht geben können, weil sie ihn nicht in ihre Nähe ließ. Wenn er aber den Brief Briony gab, hätte Cecilia Zeit, ihn in Ruhe zu lesen und daräber nachzudenken. Und ebendiese Minuten würden sie vielleicht wieder besänftigen.
"Ich habe mich gefragt, ob du mir wohl einen Gefallen tun könntest", sagte er, als er vor Briony stand.
Sie nickte und wartete.
"Läufst du voraus und gibst Cee diesen Brief?" Während er sie fragte, drückte er ihr den Umschlag schon in die Hand, und sie nahm ihn ohne ein Wort.
"Ich komme in ein paar Minuten nach", wollte er noch sagen, aber sie hatte sich bereits umgedreht und rannte über die Brücke davon. Er lehnte an der Brüstung, nahm eine Zigarette und sah Briony nach, wie sie davonhüpfte und allmählich in der Dämmerung verschwand. Ein schwieriges Alter für ein Mädchen, sinnierte er nachsichtig. Zwölf, oder war sie schon dreizehn? Ein, zwei Sekunden verlor er sie aus den Augen, dann sah er, wie sie die Insel überquerte, ein heller Fleck vor der dunklen Ansammlung von Bäumen. Schließlich verschwand sie wieder, und erst als sie am anderen Ende der zweiten Brücke wieder auftauchte, die Auffahrt verließ und eine Abkürzung über den Rasen nahm, zuckte er plötzlich zusammen und erstarrte vor Entsetzen und absoluter Gewissheit. Ein unaufhaltsamer, wortloser Schrei brach aus ihm hervor, dann lief er rasch einige Schritte über die Auffahrt, stockte, lief weiter, blieb erneut stehen und begriff, dass jede Verfolgung sinnlos war. Er konnte sie nicht mehr sehen, als er die Hände um den Mund wölbte und Brionys Namen hinausbrüllte. Auch das war sinnlos. Er stand da, bemühte sich verzweifelt, sie ausfindig zu machen - als ob das helfen könnte -, strengte ebenso verzweifelt sein Gedächtnis an und wünschte sich, dass er unrecht habe. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Den handgeschriebenen Brief hatte er auf Gray's Anatomy gelegt, aufgeschlagen auf Seite 1546, Sektion Splanchnologie: die Vagina. Das getippte Blatt aber, das neben der Schreibmaschine gelegen hatte, war das Blatt, das er genommen und in den Umschlag gesteckt hatte. Da brauchte es keinen Freudschen Scharfsinn, die Erklärung war praktisch und simpel: Der harmlose Brief hatte auf Bild 1236 mit der kühn sprießenden, vorwitzig aufragenden Krone Schamhaar gelegen, die obszöne Version aber in bequemer Reichweite auf dem Tisch. Wieder brüllte er Brionys Namen, obwohl er ahnte, dass sie jeden Augenblick am Haus sein würde. Und da war sie auch schon, Sekunden später; ein ferner Rhombus aus ockerfarbenem Licht zeigte ihre Umrisse, die sich weiteten, stockten und dann zu nichts zusammenschrumpften, als Briony das Haus betrat und die Tür sich hinter ihr schloss.


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[2]

Zweiter Weltkrieg, Ende Mai 1940 in Flandern. Robbie ist, wie viele englische Soldaten, auf dem ungeordneten Rückzug nach Dünkirchen. (S. 314 ff.)

Inzwischen hatten sie einen Straßenabschnitt erreicht, der beinahe lückenlos von zerstörter Ausrüstung gesäumt wurde. Wie von einem schweren Bulldozer zusammengeschoben, türmten sich ein halbes Dutzend 2 5-Pfunder hinterm Graben. Vor ihnen fiel das Land wieder ab, und an einer Nebenstraßenkreuzung stockte der Verkehr. Gelächter brandete auf, dann waren vom Straßenrand laute Stimmen zu hören. Als Turner näher kam, sah er einen Major des East Kent Regiments, einen Soldaten der alten Schule, um die Vierzig, mit rosigem Gesicht, der laut schreiend über zwei Felder hinweg auf einen Wald in anderthalb Kilometer Entfernung zeigte. Er zerrte Männer aus der Kolonne, oder versuchte es doch zumindest, aber die meisten ignorierten ihn einfach und gingen weiter, andere lachten ihn aus. Vom Offiziersrang eingeschüchtert blieb jedoch der ein oder andere stehen, obwohl dem Mann selbst jede persönliche Autorität fehlte. Sie hatten sich mit ihren Gewehren um ihn versammelt und starrten ihn unsicher an.
"He, Sie da. Ja, genau, Sie meine ich."
Die Hand des Majors lag auf Turners Schulter. Er blieb stehen und salutierte, noch ehe er recht wußte, was er tat. Die Unteroffiziere waren hinter ihm.
Ein kurzer Oberlippenbart überschattete die schmalen, zusammengepreßten Lippen, zwischen denen er barsch die Worte hervorstieß: "Der Jerry steckt drüben im Wald. Von uns eingekesselt. Muß eine Vorhut sein. Zwei Maschinengewehre. Verdammt gut eingegraben. Wir gehen rein und holen ihn da raus."
Turner fühlte, wie ihn eisiges Entsetzen packte, die Knie begannen zu schlottern. Er zeigte dem Major die leeren Handflächen.
"Aber womit denn, Sir?"
"Mit List und einem bißchen Kameradschaftsgeist." Wie konnte er sich bloß gegen diesen Idioten zur Wehr setzen? Turner war zu müde zum Nachdenken, doch wußte er, daß er nicht mitgehen würde.
"Also, ich habe da oben die Reste von zwei Zügen auf dem östlichen..."
Reste war das Wort, das ihnen alles sagte und das Mace dazu brachte, ihm ins Wort zu fallen und seine ganze Kasernenhoferfahrung aufzubieten.
"Entschuldigen Sie, Sir. Erbitte Erlaubnis, sprechen zu dürfen."
"Erlaubnis verweigert, Unteroffizier."
"Besten Dank, Sir. Befehl vom Hauptquartier. Sofort, schnell, zügig und unverzüglich nach Dünkirchen vorzurücken, Sir, ohne zu debattieren, deroutieren oder sich zu verdünnisieren, und zwar zum Zweck der allgemeinen und sofortigen Evakuierung, da sonst Gefahr droht, von allen Seiten kolossal und katastrophal eingekesselt zu werden, Sir."
Der Major drehte sich um und pochte mit dem Zeigefinger Mace auf die Brust.
"Jetzt hören Sie mir mal zu. Dies ist unsere allerletzte Chance..."
Verträumt warf Unteroffizier Nettle ein: "Kam von Lord Gort. Hat den Befehl höchstpersönlich aufgesetzt und selbst überbracht."
Turner fand es unglaublich, daß er es wagte, so mit einem Offizier zu reden. Und riskant. Doch der Major hatte noch gar nicht begriffen, daß man ihn zum Narren hielt. Irgendwie schien er zu glauben, Turner habe mit ihm gesprochen, denn die kleine Ansprache, die er nun hielt, richtete er vor allem an ihn: "Ein absolutes Chaos, dieser Rückzug. Um Himmels willen, Mann, das ist die allerletzte Gelegenheit, denen zu zeigen, was in uns steckt, wenn wir entschieden und entschlossen vorgehen. Außerdem ..."
Er sagte noch eine ganze Menge, aber es war, als hätte sich plötzlich eine dumpfe Stille über das helle, spätmorgendliche Land gelegt. Diesmal war Turner nicht eingeschlafen. Er blickte über die Schultern des Majors nach vorn. Dort hing, weit fort, etwa zehn Meter über der Straße und in der Hitze wabernd, etwas, das wie ein Holzbrett aussah und waagerecht in der Luft lag, in der Mitte eine kleine Beule. Die Worte des Majors drangen nicht mehr zu ihm durch, selbst seine eigenen klaren Gedanken kamen nicht mehr bei ihm an. Ohne größer zu werden, schwebte diese waagerechte Erscheinung am Himmel, und obwohl ihm langsam klar wurde, was sie zu bedeuten hatte, konnte er sich wie in einem Traum nicht regen und nicht rühren. Es gelang ihm bloß, den Mund zu öffnen, aber er brachte keinen Laut hervor, und hätte er reden können, hätte er nicht gewußt, was er sagen sollte.
Dann, genau in dem Augenblick, als der Lärm wieder über ihm zusammenbrach, platzte der Schrei aus ihm heraus: "Weg hier!" Schnurstracks lief er auf die nächste Deckung zu. Es war ein ungenauer, ganz und gar nicht soldatischer Rat gewesen, aber er spürte, daß die beiden Unteroffiziere ihm dicht auf den Fersen waren. Seine Beine schienen wie gelähmt. Es war kein Schmerz, den er unterhalb seiner Rippen spürte, eher ein Gefühl, als würde etwas über seine Knochen schaben. Er ließ den Militärmantel fallen. Fünfzig Meter vor ihm lag ein umgekippter Dreitonner. Sein schwarzes, öliges Chassis, sein knorriges Getriebe war sein einziges Zuhause. Ihm blieb nicht viel Zeit. Ein Kampfflugzeug sauste im Tiefflug über die Kolonne. Die breit gestreuten Geschoßgarben näherten sich mit dreihundertfünfzig Kilometern die Stunde, ein ratternder, lärmender Kugelhagel, der auf Glas und Metall niederprasselte. In den fast zum Stillstand gekommenen Fahrzeugen reagierte noch niemand. Fahrer wurden erst jetzt durch ihre Rückspiegel auf das Schauspiel aufmerksam. Sie waren dort, wo er noch vor Sekunden gestanden hatte. Die Männer hinten auf den Lastwagen ahnten noch nichts. Ein Feldwebel stand mitten auf der Straße und legte das Gewehr an. Eine Frau schrie. Dann erreichte ihn das Feuer, gerade als er sich in den Schatten des Lasters warf. Der Stahlrahmen zitterte, als Kugeln im wilden Stakkato eines Trommelwirbels einschlugen. Schon brauste das Feuer über ihn hinweg, huschte die Kolonne entlang, gefolgt vom Röhren der Kampfflugzeugmotoren und einem flirrenden Schatten. Er preßte sich neben dem Vorderrad in die Dunkelheit des Chassis. Nie hatte Schmieröl herrlicher gerochen. Wie ein Fötus rollte er sich zusammen; die Arme um den Kopf, die Augen fest geschlossen, dachte er nur ans Überleben und wartete auf das nächste Flugzeug.
Es kam keines mehr. Nur das Summen der Insekten, die entschlossen ihr spätfrühlingshaftes Treiben wieder aufnahmen, und der Gesang der Vögel setzten nach angemessener Pause wieder ein. Und dann, als hätten die Vögel ihnen das Stichwort gegeben, begannen die Verwundeten zu stöhnen und zu schreien, weinten verschreckte Kinder.


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[3]

Briony Tallis, die 1935 13 Jahre alt war, und damals durch kindlichen Unverstand und Trotz schicksalhaft in das Leben von Robbie und ihrer Schwester Cecilia eingegriffen hatte, lässt sich im Krieg zur Krankenschwester ausbilden. (S. 434 ff.)

Der Mann konnte es gar nicht schaffen, dachte Briony. Es war schon schwierig genug gewesen, auch nur eine Vene zu finden, um ihm Morphium zu spritzen. Irgendwann in den letzten zwei Stunden hatte Briony bereits zwei Pflegerinnen geholfen, ihn auf die Bettpfanne zu heben, und er hatte geschrien, sobald sie nur Hand an ihn legten.
Die Bunyanbeutel waren große Zellophantüten, in denen das verletzte Körperteil schwamm, umhüllt von einer Salzlösung, die exakt die richtige Temperatur haben mußte. Selbst eine Abweichung von nur einem Grad wurde nicht toleriert. Als Briony ans Bett trat, wärmte eine Lernschwester bereits mit Hilfe eines Primuskochers auf einer Fahrbahre die frische Lösung an. Die Beutel mußten ziemlich oft gewechselt werden. Unteroffizier Maclntyre lag rücklings unter einem Bettbogen, weil er es nicht ertrug, daß seine Haut mit Wäsche in Berührung kam. Er jammerte erbärmlich und verlangte nach Wasser. Verletzte mit Verbrennungen litten immer unter Feuchtigkeitsentzug, doch die Lippen des Unteroffiziers waren wund und geschwollen, die Zunge mit Blasen übersät, weshalb man ihm nichts zu trinken geben konnte. Und der Katheter hatte in der kaputten Vene nicht gehalten, weshalb er auch nicht mehr am Tropf mit der Salzlösung hing. Eine Krankenpflegerin, die Briony noch nie zuvor gesehen hatte, hängte einen neuen Beutel an, während Briony in einer Schüssel die Borsäure vorbereitete und sich einen Wulst Watte nahm. Sie wollte mit den Beinen beginnen, um der Pflegerin nicht im Weg zu stehen, die seinen schwarzen Arm nach einer brauchbaren Vene absuchte.
"Wer hat Sie denn hergeschickt?«" fragte die Pflegerin.
"Stationsschwester Drummond."
Die Pflegerin war kurz angebunden und blickte nicht einen Moment von ihrer Suche auf. "Er hat zu starke Schmerzen. Ich will nicht, daß er behandelt wird, ehe er nicht genügend Flüssigkeit im Körper hat. Suchen Sie sich irgendeine andere Arbeit."
Briony tat wie geheißen. Sie wußte nicht, wie viele Stunden später - vermutlich erst nach Mitternacht - sie losgeschickt wurde, um frische Handtücher zu holen. An der Tür zur Wäschekammer stand die Krankenpflegerin und weinte unauffällig vor sich hin. Unteroffizier MacIntyre war tot. In seinem Bett lag bereits ein anderer Patient.
Die Lernschwestern und die Krankenschwestern im zweiten Lehrjahr arbeiteten zwölf Stunden ohne Pause. Die Assistenzärzte und ausgebildeten Schwestern arbeiteten auch danach noch weiter, und niemand schien zu wissen, wie lang sie schon auf der Station waren. Später begriff Briony, daß ihre Ausbildung eine durchaus nützliche Vorbereitung gewesen war, vor allem in Sachen Gehorsam, doch was sie über Krankenpflege wußte, das hatte sie in jener Nacht gelernt. Nie zuvor hatte sie einen Mann weinen sehen. Anfangs war sie schockiert, doch nach einer Stunde hatte sie sich daran eewöhnt. Dann wiederum erstaunte sie der Gleichmut mancher Soldaten, er widerte sie sogar an. Wenn die Männer etwa nach einer Amputation zu sich kamen und meinten, gräßliche Witze reißen zu müssen. Womit soll ich denn jetzt meiner Madame einen Tritt in den Hintern verpassen? Der Körper gab all seine Geheimnisse preis - Knochen ragten aus dem Fleisch, Gedärm oder Sehnerv boten sich frevlerischen Blicken dar. Aus dieser neuen, intimen Perspektive lernte sie eine einfache, offenkundige Tatsache, die ihr immer schon bewußt gewesen war und die jeder kannte: Der Mensch ist nicht zuletzt auch ein materielles Ding, leicht zu zerstören und gar nicht so leicht wieder zu heilen. Näher als in dieser Nacht sollte sie einem Schlachtfeld niemals kommen, hatte doch jeder Patient, um den sie sich kümmerte, einige wesentliche Bestandteile mitgebracht - Blut, Öl, Sand, Dreck, Meerwasser, Kugeln, Schrapnellsplitter, Motorfett, Korditgeruch oder den klammen, verschwitzten Kampfanzug, dessen Taschen außer verschimmelten Essensresten auch einige klebrige Krümel irgendwelcher Amo-Riegel enthielten. Oft, wenn sie wieder einmal an das Waschbecken mit den mächtigen Hähnen und dem Stück Sodaseife zurückkehrte, mußte sie sich Sandkörner vom Strand von den Händen waschen. Sie und die übrigen Lernschwestern ihrer Gruppe nahmen sich gegenseitig nur noch als Krankenhauspersonal und nicht mehr als Freundinnen wahr: Briony hatte nicht mal recht registriert, daß eines der Mädchen, die geholfen hatten, Unteroffizier MacIntyre auf die Bettpfanne zu heben, Fiona gewesen war. Und manchmal, wenn Briony sich um einen Soldaten kümmerte, der schreckliche Schmerzen litt, überkam sie ein unpersönliches Mitgefühl, das sich gleichsam vor sein Leid schob, wodurch es ihr möglich wurde, die Arbeit zügig und ohne jeden Widerwillen zu erledigen. In solchen Momenten begriff sie, was Krankenpflege bedeuten konnte, und sie wünschte sich nichts mehr, als ihren Abschluß zu machen und das Schildchen einer ausgebildeten Krankenschwester zu tragen. Dann konnte sie sich sogar vorstellen, daß sie ihren Ehrgeiz aufgab, Schriftstellerin werden zu wollen, um ihr Leben ganz diesen Augenblicken glücklicher, unterschiedsloser Menschenliebe zu widmen.


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