Leseproben aus: Vilhelm Moberg, Dein Augenblick



S. 168 ff., 191 ff., 234 ff., 269



[1] Albert Carlson, der 64-jährige Ich-Erzähler erinnert sich an Hausschlachtungen in seiner Kinderzeit. In einem Buch, das sein verstorbener Bruder Sigfrid hinterlassen hatte, fand er dessen Notiz: »Ich hätte besser zu Hause bleiben und bei Schlachter Jonas in die Lehre gehen sollen.« (S. 168 ff.)

[2] Albert Carlson lebt in Kalifornien, einem erdbebengefährdeten Gebiet. Er hat eine Vision. "Jesus-Jensen" ist ein Mann, der täglich eine Stunde am Straßenrand steht und den Autofahrern "stop driving" zuruft. (S. 191 ff.)

[3] Albert Carlson erinnert sich seiner Auswanderung aus Schweden (S. 234 ff.)

[4] Als Albert Carlsons Vater im Sterben liegt, fährt Carlson zurück nach Schweden. (S. 269)




[1]

Albert Carlson, der 64-jährige Ich-Erzähler erinnert sich an Hausschlachtungen in seiner Kinderzeit. In einem Buch, das sein verstorbener Bruder Sigfrid hinterlassen hatte, fand er dessen Notiz: »Ich hätte besser zu Hause bleiben und bei Schlachter Jonas in die Lehre gehen sollen.« (S. 168 ff.)


Vaters Hände konnten alles, was Bauern-Hände in meiner Kindheit können mußten. Er konnte mit Hammer und Hobel umgehen, mit Säge und Stemmeisen. Er tischlerte, zimmerte und schnitzte. Er fertigte selbst viele seiner Geräte an und reparierte sie, wenn sie kaputtgingen. Doch es gab ein Handwerk, das er nicht gelernt hatte: Das des Schlachters. Deshalb ließ er für diese Arbeit jemand kommen. Wenn auf unserem Hof ein Tier getötet werden sollte, ließ er Schlachter Jonas rufen.

Jonas war Hausschlachter. Er zog durch unsere Gegend und stach für die Bauern das Vieh ab und häutete es. Wenn Schlachttag war, kam er früh morgens zu uns. Er setzte sich in die Küche und wetzte seine Messer; ein ganzes Bund großer Messer hatte er, Stechmesser, Schlachtmesser, Schammschneider, Ausbeinmesser und wie sie alle hießen. Er spuckte auf seinen Wetzstein und schärfte die Messer so, daß man ein Haar damit spalten konnte.

Schlachter Jonas war redselig und freundlich. Er lachte laut und schallend und krümmte sich dabei. Er mochte Kinder, er wollte mit uns Spaß machen und spielen. Er kitzelte uns unter den Armen, machte Grimassen, er wollte uns zum Lachen bringen. Immer wollte er mit Sigfrid und mir Spaß machen. Er sagte, er würde uns zu Schlachtern ausbilden. Das sei ein guter Beruf, nicht schwer zu lernen. Wir würden zu Anfang Schafe und Kälber und andere Kleintiere schlachten lernen. Die seien am leichtesten totzumachen. Das könnten wir jetzt schon. Und wenn wir an den kleinen Tieren geübt hätten, könnten wir mit den großen anfangen, Ochsen und Kühen.

Wir aber guckten ängstlich auf Jonas und die langen Messer, die er wetzte. Wir gingen dem scherzenden Schlachter aus dem Weg.

Unsere schwarzbunte Färse war in eine Steinfeld geraten und hatte sich ein Vorderbein gebrochen. Sie konnte nicht mehr allein zum Stall kommen. Das gebrochene Bein hing der Färse schlaff herunter, und mit den anderen drei Beinen konnte sie sich nicht voranbewegen. Wir mußten sie auf einem Heureiter nach Hause fahren.

»Mit der ist nichts mehr zu machen«, sagte Vater. »Wir können keine Kuh behalten, die nur drei Beine hat. Wir müssen Schlachter Jonas holen.«

Und früh am Morgen kam er, setzte sich in die Küche und wetzte seine Messer. Vater goß ihm Branntwein in die Kaffeetasse, einige Male. Und der Schlachter trank das Kaffee-Branntwein-Gemisch und wurde laut. Er lachte laut und krümmte sich vor Lachen. Wie immer, wollte er mit meinem Bruder und mir seine Späße machen: Wir würden zu ihm in die Schlachterlehre kommen.

Heute sollte Sigfrid beim Schlachten Mutter helfen, das Blut aufzufangen. Ich war zu klein, um mitzuhelfen, aber Sigfrid war groß genug, um sich beim Schlachten nützlich zu machen.

Vater führte die schwarzbunte Färse aus dem Stall. Das eine Vorderbein des Tieres hing herab und baumelte, der Hufschleifte über den Boden. Auf drei Beinen humpelte die Färse bis an den Platz vor dem Stall, wo Schlachter Jonas mit Axt und Messern wartete. Heureste hatte sie am Maul, unsere Färse kaute gutes Kleeheu, das Mutter ihr gegeben hatte, als sie die Kühe morgens fütterte. Die allerletzte Futterurig sollte vom besten Heu sein. Die Färse stand da und kaute noch an dem Ort, an dem sie sterben würde.

Mutter kam mit einem Eimer, dessen Boden mit Mehl bestreut war. In dieses Gefäß sollte das Blut laufen und sich mit dem Mehl mischen. Sigfrid sollte ihr beim Auffangen helfen und im Eimer rühren. Er stand neben Mutter, bleich und unbeholfen. Zu mir hatte er gesagt: er wolle nicht dabeisein. Ich stellte mich ein bißehen abseits.

Schlachter Jonas schlug der Färse mit einem großen, schweren Schlachthammer vor die Stirn. Das zweite Vorderbein, das gesunde, knickte auch ein. Jonas schlug noch einmal, die Färse brüllte auf und der Körper sackte nach vorn auf die Vorderbeine. Vater riß an dem Strick, der um die Hufe der Hinterbeine gebunden war, damit das Schlachttier auf die Seite fallen sollte. Gleich stach Jonas ein langes, großes Messer in den Hals, ein dunkelroter Strahl spritzte über die Hand, die das Messer hielt.

Ich stand da und sah aus einigem Abstand zu. Noch blökte die Kuh schwach. Ich konnte nicht länger stehenbleiben, ich rannte weg.

Aber Sigfrid mußte am Stall stehenbleiben. Er sollte lernen, beim Schlachten das Blut aufzufangen, hatte Vater gesagt. Dazu sei er alt genug.

Doch ich konnte nicht zusehen. Ich blieb im Haus, während sie die schwarzbunte Färse schlachteten. Es dauerte einige Stunden, bis sie da drüben am Stall fertig waren. Es dauerte, das Abstechen, Häuten, Öffnen und Stücken eines so großen Tieres wie unserer Färse.

Als ich wieder nach draußen ging, kam Sigfrid vom Schlachtplatz und trug in der Hand den Eimer voll Blut. Er war noch blasser, es würgte ihn, und er hielt sich die Hand auf den Bauch. Ihm war sehr schlecht.

Er sagte:

»Ich habe mich übergeben. Ich muß bestimmt nochmal.«

Er setzte den Eimer ab und ging hinter das Haus. Als er wiederkam, sagte er:

»Hast du nicht gesehn? Sie hat versucht, wieder aufzustehen! Hinten ist sie ein bißchen auf die Beine gekommen! Als sie schon mit Häuten angefangen hatten. Den halben Bauch hatten sie schon abgezogen!«

Und er guckte in den Eimer, den er in der Hand hatte: »Hier siehst du, was wir essen sollen! Aber ich esse nichts!

Nehee! Niemals! Und nie mehr helfe ich beim Schlachten!« Als wieder geschlachtet werden sollte, legte er sich krank ins Bett.

Von dem Blut unserer Färse kochte Mutter nun einen Kessel mit Wurst und Blutpudding. Das wurde uns zum Essen vorgesetzt. Sigfrid weigerte sich. Und ich wollte auch nicht das Gericht aus dem Blut unserer Färse essen. Ich hatte noch das Gebrüll des Tieres im Ohr.

»Und sie hat versucht, wieder aufzustehen!«

Vater und Mutter konnten nicht verstehen, was in uns gefahren war: Dieser Blutpudding und die Wurst waren ein so schmackhaftes und gutes Essen, es zerging nur so auf der Zunge. So meinten sie, auch unsere Schwestern meinten es, alle im Haus meinten es, – – – alle anderen aßen gern von dem Gericht aus Blut. Aber Sigfrid und ich aßen bei dieser Mahlzeit nur Brot. Und Vater sagte: Eigentlich dürften wir gar nichts zu essen bekommen, bevor wir nicht mit dem vorlieb nehmen könnten, was auf dem Tisch stand. Wir müßten lernen, das Essen zu achten.

Und Schlachter Jonas wollte uns sein Handwerk lehren. Das hatte er heute wieder gesagt, als er in der Küche saß und seine Messer wetzte. Sigfrid hatte mir zugeflüstert:

»Der dämliche Tattergreis! Der ekelt mich an!«

Trotzdem schrieb er in die Bibel des Soldaten, als er in der Volontär-Schule mit dem Bajonett üben mußte:

»Ich hätte besser zu Hause bleiben und bei Schlachter Jonas in die Lehre gehen sollen.«

Sigfrid wollte vieles ausprobieren, viele Berufe lockten ihn, viele verschiedene Arten, sein Leben zu gestalten, er wollte alles miterleben hier auf Erden. Doch eine Arbeit wollte er nicht tun, ein Werkzeug wollte er nicht benutzen, – – – ein Leben, das er sich nicht als sein Leben vorstellen konnte.

In eben diesem Leben ging er in die Lehre, und das wurde ihm zum Verhängnis.


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[2]

Albert Carlson lebt in Kalifornien, einem erdbebengefährdeten Gebiet. Er hat eine Vision. "Jesus-Jensen" ist ein Mann, der täglich eine Stunde am Straßenrand steht und den Autofahrern "stop driving" zuruft. (S. 191 ff.)


Der Boden unter meinem Zuhause im Universum bewegte sich etwas in einem unbedeutend kleinen Gebiet. Er erzitterte einige Sekunden lang. Es war kein Erdbeben, keine Erschütterung, nur ein kleiner Stoß. Ein Stuhl, der sich hin und her bewegte, ein Tisch, der umfiel, Fenster, die zersprangen. Das war alles.

Aber es kann auch eine erste Warnung sein. Ein Riß in der Erdkruste weitet sich ein wenig, der Boden reißt auf und öffnet sich. Nachts aufwachen, unter einem eingestürzten Haus liegen, von Schmerzen geweckt werden, eingekeilt zwischen Balken, sich nicht wegbewegen, nicht rühren können. Tiefunten in einem schwarzen Loch mit zerschlagenem Körper aufwachen. Kein Schein des Tageslichts erreicht dich, nicht der leiseste menschliche Laut. Du rufst um Hilfe, doch deine Stimme erreicht niemand. Du bleibst dort liegen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, allein mit deinen Schmerzen, nicht imstande, sie zu lindern, ihnen ein Ende zu setzen.

Die Kommode neben meinem Bett klopfte heute morgen an die Wand und hat mich geweckt. Ich werde heute nacht nicht gut schlafen können.

Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber davor, was mir zustößt, bevor er kommt. Das Danach schreckt mich nicht, aber das, was vorher passieren kann.

Aus meiner Angst vor diesem Vorher entsprang mein Erlebnis neulich nachts. Es war kein Traum; ich fühlte, ich empfand, ich durchlebte alles. Es war Wirklichkeit.

Ich lag in meinem Bett, im Zimmer herrschte stockdunkle Nacht. Plötzlich war hellichter Tag, die Sonne schien mir in die Augen. Und im Sonnenschein sah ich einen Mann auf einem hohen Hügel, über dem sich ein klarer Himmel wölbte. Unbeweglich stand er, mit dem Rücken zu mir, seine Arme und Beine waren gefesselt. Sie waren mit kräftigen, breiten Lederriemen umwickelt, fest gebunden. Er konnte weder Hände noch Füße bewegen. An jeder Seite des Mannes stand ein Polizist und hielt ihn am Ellbogen fest. Er stand eingeklemmt wie in einem Schraubstock zwischen zwei Cops, die in ihren Halftern große Revolver trugen.

Auf dem Hügel war ein Kreuz errichtet, und an dem Kreuz hing mein skandinavischer Landsmann Jesus-Jensen. Er hatte keine Kopfbedeckung, war barfüßig, trug seine lange Mantel-Joppe und hing mit ausgebreiteten Armen an den Querbalken. Sein dichter, üppiger Haarschopf zeichnete sich wie eine Dornenkrone gegen den Himmel ab.

Der Däne hing am Kreuz, aber er war nicht gekreuzigt. Kein Nagel war durch seinen Körper geschlagen. Seine Handflächen lagen am Querbalken, aber es waren keine Nägel darin, auch nicht in den bloßen Füßen am unteren Ende des Kreuzes.

Wie konnte Jesus-Jensen dort oben hängen? Auf welche Weise war er dort befestigt?

Er sah von der Höhe des Kreuzes herab, lachte laut, sein Lachen hallte über den Hügel. Er rief den Männern da unten zu: »Seht her! Es tut nicht weh! Warum sollte es wehtun? Ich bin nicht angenagelt. Sie können keine Nägel in mich schlagen. Kein Nagel dringt ein. Ich bin nämlich Gottes Sohn! Niemand begreift das, aber ich bin es. Und sie können keine Nägel in den Körper von Gottes Sohn einschlagen! Also fühle ich auch nichts. Weshalb sollte ich Schmerzen haben?«

Jesus-Jensen am Kreuz verlachte die, die darunter standen: »Niemand kann mir das Leben nehmen.«

Zwei Männer in Overalls, die so aussahen wie Arbeiter bei den Schildern Men at work, hatten jeder einen Spaten in der Hand und schaufelten neben dem Kreuz eine Grube. Mit ihren Spaten warfen sie einen kleinen Erdhügel auf. Als die Grube fertig war, nahmen sie einen langen Pfahl und einen kurzen Querbalken.

Die Männer errichteten noch ein Kreuz.

Der Mann zwischen den beiden starken Polizeibeamten, an Händen und Füßen gefesselt, war bisher stumm geblieben. Jetzt öffnete er den Mund und rief:

»Das zweite! ... ? Wer ... ?«

Die Polizisten gaben ihrem Gefangenen keine Antwort. Es war, als hätten sie ihn nicht gehört. Die Revolvertaschen baumelten an ihren kräftigen Oberschenkeln, ihre Hände streichelten lüstern die Waffen. Der gefesselte Mann schrie lauter:

»Das zweite da ... ? Wer ... ? Wer ... ?«

Aber keiner antwortete ihm.

Die beiden Männer in den Overalls setzten ihre Arbeit fort, Sie machten die Grube fertig. Sie nagelten den Querbalken am Pfahl fest, richteten diesen auf und setzten ihn in die Grube.

Auf dem Hügel standen nun zwei Kreuze nebeneinander, das eine war leer.

Der Mann zwischen den Polizisten schrie noch lauter und wiederholte seine Frage noch einmal: »Wer ... ?«

Da bekam er Antwort. Jesus-Jensen sprach vom Kreuz her zu ihm:

»Du bist nicht Gottes Sohn! Du bist nur ein Mensch, also wird es ... Hör zu, was ich sage: Es wird ... «

Und er stimmte ein Hohngelächter an, daß der Pfahl zitterte.

Die beiden Polizisten umfaßten die Ellenbogen ihres Gefangenen fester und fingen an, ihn vorwärtszuzerren. Er wehrte sich, ich sah ihn seinen Körper zwischen zwei große, kräftige Cops werfen, er riß an den Riemen und versuchte, seine Hände zu befreien, er wehrte sich mit den Füßen. Er widersetzte sich mit aller Kraft. Aber der Gefesselte war hilflos den beiden Polizisten gegenüber. Sie zerrten ihn mit sich den Hügel hinauf.

Der Weg zum Ziel war nicht weit. Am Ziel standen zwei Männer und warteten mit neuem Werkzeug in den Händen.

Da versank plötzlich der Hügel mit den beiden Kreuzen in die Unterwelt. Nur eine große Dunkelheit blieb. Alles, was ich gesehen hatte, verschwand: Jesus-Jensen, die Polizisten, die Arbeiter in den Overalls – – – und der Gefangene.

Das Gesicht des Gefesselten hatte ich nie gesehen. Die ganze Zeit über hatte er mit dem Rücken zu mir gestanden. Aber die ganze Zeit über wußte ich, wer er war.

Und ich sank zurück in mein Hotelzimmer und lag wieder in der Geborgenheit meines Bettes. Mir drohte keine Gefahr, niemand in meiner Nähe wollte mir Böses. Dennoch, geträumt hatte ich nicht, ich war nicht aus der Unwirklichkeit zurückgekehrt: Ich kam von einer Wirklichkeit in die andere. In einem Teil meines Gehirns hatte dieses Ereignis stattgefunden. Dort lebt sie nämlich, meine Furcht vor diesem Vorher.


Vorher, ehe ich wieder dort bin, wo ich war. Vorher, ehe alles vorbei und verwandelt und wieder so geworden ist, wie das Gestern zum Heute. Heute wird schnell morgen, morgen wird heute und gestern, morgen wird bald zu fünfzig vergangenen Jahren.

Über die Zeitspanne vor mir kann man vielleicht sagen, daß sie genauso lang war, wie die Zeitspanne sein wird, die nach mir kommt. Damals befand ich mich in demselben unerreichbaren Raum, der mich jetzt wieder erwartet. An die Zeit in diesem Raum habe ich keine bösen Erinnerungen. Wo das Nichts ist, kann auch das Böse nicht wohnen.

Noch befinde ich mich auf dem kleinen zittrigen Landstreifen der Unsicherheit. Und um die Furcht vor dem zukünftigen Vorher zu vertreiben, die das Jetzt verdunkelt, rufe ich mir die Vergangenheit zurück.


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[3]

Albert Carlson erinnert sich seiner Auswanderung aus Schweden (S. 234 ff.)


I was born in Sweden and emigrated to the United States at the age of 22 and have resided here for over 40 years.

An einem Abend im Mai des Jahres 1920 stieg ich auf dem Bahnhof meiner Kinderzeit in den D-Zug. Meine Schwester Jenny hatte mich begleitet, Vater und Mutter wollten nicht mitgehen. Jenny blieb gut gelaunt, beim Abschied machte sie sich lustig über meine Reise. Sie wollte mir zum Abschied sagen, was der Bauer seinem Sohn sagt, wenn dieser zum ersten Mal das Haus verläßt, um in die Welt zu gehen: Der Herr sei mit dir bis zum Hoftor. Dann halte dich an die Landstraße.

Meine Schwester wünschte mir viel Glück. Ich war Emigrant geworden.

Nach fünfzehn Jahren in den Vereinigten Staaten machte ich meinen ersten Besuch in der Heimat. Da hatte sich der Bauernsohn Karlssons Albert verwandelt in Mr. Albert Carlson, Chef des Andrew W. Johnson realestate-office in Iron Creek, Michigan, USA, verheiratet mit der Tochter des Firmeninhabers, dessen einzigem Kind. Ich war verheiratet und Familienvater. Bisher hatte ich in der Immobilienbranche Erfolg gehabt, mein Schwiegervater, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, war sehr zufrieden mit mir. Finanziell war es gut vorangegangen. Und mein Vater hatte Verständnis und fand, daß ich recht gehandelt hatte, mein Glück im fremden Land zu suchen. Er war es, der nicht recht hatte, als er mich daran hindern wollte, zu emigrieren. – Vater hat nie erfahren, daß ich damals nach Schweden kam, um zu sehen, ob ich nicht wieder zurückkommen könnte.

Ich hatte mein Heimatland verlassen, aber noch nach fünfzehn Jahren fühlte ich mich in Amerika nicht heimisch. Jetzt wußte ich, es würde auch nie so werden. Ich verdiente mehr Geld als ich verbrauchen konnte, fühlte mich aber sehr unwohl mit der Arbeit, die mir das Geld einbrachte. Ich war mit einer der hübschesten Frauen von Iron Creek verheiratet, aber seit zehn Jahren liebten meine Frau und ich uns nicht mehr. Ich hatte zwei Söhne, aber das Büro, die Geschäfte und Dienstreisen nahmen so viel Zeit in Anspruch, daß ich selten Zeit für sie hatte. Ich hatte ein großes, modern eingerichtetes Haus in Iron Creek, ein Sommerhaus an einem Waldsee im Norden von Michigan und eine Etagenwohnung mit guter Adresse in Chicago. Aber keine der Wohnungen war ein Zuhause geworden.

Im Land der großen Möglichkeiten wollte ich so viel Geld verdienen, daß ich mich befreien könnte. Das Geld habe ich verdient – – – doch ich fühlte mich in Amerika wie ein Gefangener. Ich war eingezwängt zwischen Rücksichtnahme und Verpflichtungen, ich war Familienvater, hatte Frau und Kinder. Als mein Schwiegervater sich zurückzog, hatte ich sein Unternehmen übernommen, in der Stadt hatte ich Ansehen erreicht, ich war an die Ansprüche anderer an mich gebunden, an WertsteIlungen, die nicht meine eigenen waren. Ich wollte aus Iron Creek wegziehen, aber Esther wollte auf keinen Fall ihre Heimatstadt verlassen. Ich saß gefangen in Andrew W. Johnsons realestate-office. Aus der einen Gefangenschaft war ich in eine andere geflohen.

Mein Vater erfuhr nicht, daß der Sohn einen Fluchtversuch gemacht hatte: Würde ich frei, wenn ich zurückkäme? Aber wohin gehörte ich, wenn ich es recht bedachte? Während meines ersten Besuches in der Heimat begriff ich, daß ich endgültig das Los des Emigranten teilen würde.

In der heimatlichen Umgebung war ich bereits ein Fremder, ein Schwedisch-Amerikaner, der zu Besuch war. Ich hatte mich verändert, die Menschen, die ich kannte, hatten sich verändert. Ich traf alte Freunde und Mitschüler, aber wir hatten uns nichts zu sagen. Fünfzehn erlebte Jahre in verschiedenen Ländern hatten uns auseinandergebracht, so, wie der Atlantik die Erdteile trennt. Wir versuchten tastend, einander neu kennenzulernen: Wie geht es dir? Wie ist es dir ergangen? Wie lebst du? Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Wie lange bleibst du hier?

Die Antworten auf die Fragen waren nicht gelogen, aber die Wahrheit habe ich auch nicht gesagt. Meine Eitelkeit ließ es nicht zu. Und die Menschen, die mich befragten, fanden, daß es mir gut gegangen war in Amerika. Ich hatte Erfolg im Leben. Etliche meiner alten Freunde und Gefährten gehörten zur Gruppe der Neider. Ihre Mißgunst war offensichtlich und stieß mich ab. Warum hatten sie es nicht wie ich gemacht? Sie hätten es doch tun können.

Ich hätte sie wissen lassen können, wen sie beneideten –, den Emigranten, der das Gesuchte nicht gefunden hatte und heimkehren wollte. Doch ich gönnte ihnen nicht, den Neid in Schadenfreude zu verwandeln.

In meiner Heimat war ich nicht mehr zu Hause. Aber wohin gehörte ich? Gehörte ich nirgendwo hin?

Meine erste Schwedenreise wurde eine Enttäuschung. Als ich im letzten Sommer aber meine dritte und letzte Reise machte, hatte ich mich mit meinem Schicksal abgefunden. Da kam ich aus dem Land der Apfelsinenbäume, in dem ich als Obstbauer mehr Befriedigung fand als bei allem anderen, womit ich gearbeitet hatte. Mir hatte ein schöner Garten gehört, ein großes Stück Land voll der Gewächse mit den goldenen Früchten. Ich hatte den Anblick meiner Apfelsinenbäume in der Blüte genossen, hatte die Wandlung der Blüte zur Frucht bis zur Reife beobachtet. Geerntet hatte ich, was meine Bäume an Früchten für mich getragen hatten, sie den Menschen angeboten und das Gefühl gehabt, etwas Nützliches zu tun. Und tief traf mich der Anblick meiner letzten Ernte, die der Frost geraubt hatte: Schnee bedeckte die Erde meiner Pflanzung, und durch den Schnee schimmerte die goldgelbe Schale der Apfelsinen.

Und den gesunden Saft der goldenen Früchte, den Morgentrunk, kann man nicht mit dem anderen Getränk vergleichen, das ich getrunken habe: dem Wacholderbier, das Mutter braute.

Der Wacholder ist der Baum meiner Kindheit, und seine Beeren hatten für mich den Geschmack von Wald und Grassoden. Nichts ist diesem Getränk vergleichbar. Hergestellt ist es aus den Früchten des Sonderlings, der auf den Hügeln wächst, dem herben, zähen, den man nicht ausrotten, nicht formen, nicht bezwingen kann. Der Wacholder auf den heimatlichen Weiden hat mir nahegestanden, wie ein Verwandter, der einzige, dem ich ähnlich sein wollte.

Letzten Sommer haben wir uns wiedergesehen, zum letzten Mal. Ich umarmte den Wacholder auf dem Hang. Er traf mich mit seinen scharfen Reisern und ritzte meine Hände brennend wund. Er, der geblieben war, der Treue, antwortete mir, dem Abtrünnigen: Nein!

Zu lange war ich fortgewesen. Der einzige in der Heimat, mit dem ich Verwandtschaft fühlte, kannte mich nicht mehr, mein einziger lebender Verwandter hatte mich abgewiesen.

Und ich hatte es schon lange gewußt: Es war zu spät.


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[4]

Als Albert Carlsons Vater im Sterben liegt, fährt Carlson zurück nach Schweden. (S. 269)


Vaters Schwindelanfälle kamen immer häufiger, die klaren Augenblicke immer seltener. Jenny und ich wechselten uns ab mit der nächtlichen Wache bei ihm. Er war wieder still und ruhig geworden.

Der Augenblick des Endes kam für uns überraschend. Längere Zeit schon hatte ich nicht genug Schlaf bekommen. Eines Nachts saß ich im Korbstuhl an meines Vaters Bett und nickte ein. Ich war nur kurz eingeschlafen. Als ich aufwachte, sah ich in Vaters Gesicht eine Veränderung, eine neue Ruhe, eine merkwürdige Unbeweglichkeit. Ich brauchte nicht lange nach dem Grund zu fragen: Er atmete nicht.

Er hatte geschlafen, als ich einnickte, aber er schlief keinem Erwachen entgegen. Statt dessen fand er den Schlaf ohne Ende. Es schien nicht so, als ob der Tod und er miteinander gekämpft hatten; sie waren sich nur begegnet und einig geworden.

Ich wünsche mir, daß ich so gehen kann wie Vater: Mit derselben ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der das welke Blatt sich vom Zweig löst, an dem es saß, und langsam und still zur Erde fällt.




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