Leseproben aus: Haruki Murakami, Kafka am Strand



S. 121 ff., 404 ff., 452 ff.



[1] Nachdem Kafka Tamura von zu Hause fort ist, trifft er die 22-jährige Sakura. Er erzählt ihr von seiner Bewusstlosigkeit und eigenartigen Ereignissen in der vergangenen Nacht (S. 121 ff.)

[2] Saeki-san ("Frau Saeki") ist die Leiterin einer Privatbibliothek, in der Kafka Tamura untergekommen ist. Er ist nicht sicher, ob sie vielleicht seine Mutter ist (die die Familie verlassen hatte). In der Nacht zuvor haben sie miteinander geschlafen. Und wieder eine Nacht zuvor hat Kafka mit ihr als 15-jährigem Mädchen geschlafen ... (S. 404 ff.)

[3] Kafka Tamura wird als Zeuge von der Polizei gesucht, da sein Vater ermordet wurde. Oshima, Mitarbeiter in der Bibliothek, bringt ihn in die Berge. (S. 452 ff.)




[1]

Nachdem Kafka Tamura von zu Hause fort ist, trifft er die 22-jährige Sakura. Er erzählt ihr von seiner Bewusstlosigkeit und eigenartigen Ereignissen in der vergangenen Nacht (S. 121 ff.)


Bis ich zu Ende erzählt habe, vergeht eine ganze Weile. Sakura sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, am Küchentisch und hört mir aufmerksam zu. Ich bin erst fünfzehn und noch in der Mittelstufe, habe meinem Vater Geld gestohlen und bin aus meinem Zuhause im Tokyoter Stadtteil Nakano davongelaufen. Ich wohne in einem Hotel in Takamatsu und gehe jeden Tag in die Bibliothek, um zu lesen. Plötzlich bin ich, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen ist, blutbeschmiert auf dem Gelände eines Schreins aufgewacht. So viel erzähle ich ihr. Natürlich sage ich ihr auch manches nicht. Die entscheidenden Dinge bringe ich nicht so einfach über die Lippen.

»Deine Mutter ist also mit deiner Schwester fortgegangen, als du vier warst, und hat deinen Vater und dich verlassen.«

Ich hole das Strandfoto aus meiner Brieftasche und zeige es ihr. »Das ist meine Schwester.« Nachdem Sakura es eine Weile betrachtet hat, gibt sie es mir wortlos zurück.

»Danach habe ich meine Schwester nie mehr gesehen«, sage ich. »Meine Mutter auch nicht. Ich habe keine Verbindung zu ihnen; ich weiß nicht einmal, wo sie sind. Wie sie aussehen, weiß ich auch nicht mehr. Es gibt nur noch dieses eine Foto. Meine Erinnerung ist nur noch wie ein Hauch. Ich erinnere mich an ein Gefühl, aber an kein Gesicht.«

»Hm«, seufzt Sakura und sieht mich, den Kopf weiter in die Hände gestützt, forschend an. »Das ist ziemlich schlimm.«

»Wahrscheinlich.«

Sie schweigt und schaut mich weiter an.

»Und mit deinem Vater verstehst du dich nicht gut, oder?«, fragt sie dann.

Nicht gut verstehen. Was soll ich darauf antworten? Wortlos schüttele ich den Kopf.

»Ja, klar, sonst wärst du wohl nicht von zu Hause abgehauen«, sagt Sakura. »Und das bist du ja. Heute hast du dann plötzlich das Bewusstsein oder das Gedächtnis verloren.«

»Stimmt.«

»Ist das vorher schon mal passiert?«

»Hin und wieder«, gebe ich zu. »Mein Kopf schaltet ab, als wäre eine Sicherung durch geknallt. Als würde jemand einen Schalter in meinem Kopf drücken, und mein Körper bewegt sich, bevor ich denke. Derjenige, der da ist, bin ich, andererseits aber auch nicht.«

»Du verlierst die Kontrolle und wirst gewalttätig oder so?«

»Das ist auch schon ein paar Mal vorgekommen«, gestehe ich.

»Hast du jemanden verletzt?«

Ich nicke. »Zweimal. Aber nicht ernsthaft.«

Sie überlegt einen Moment.

»Meinst du, dass das, was diesmal passiert ist, das Gleiche war?«

Ich schüttele den Kopf. »So schlimm war es noch nie. Diesmal ... hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass ich überhaupt bewusstlos geworden bin. An das, was ich währenddessen getan habe, erinnere ich mich gar nicht. Ich weiß absolut nichts mehr. Das ist bis jetzt noch nie passiert.«

Sie nimmt das T-Shirt, das ich aus meinem Rucksack geholt habe, in Augenschein und inspiziert den Blutfleck, der beim Waschen nicht herausgegangen ist.

»Also – das Letzte, woran du dich erinnerst, ist das Abendessen. Du warst in einem Lokal am Bahnhof?« Ich nicke.

»Danach weißt du nichts mehr. Du bist erst vier Stunden später im Gebüsch hinter dem Schrein wieder zu dir gekommen. Dein Hemd war voller Blut, und du hattest einen stechenden Schmerz in der linken Schulter.«

Wieder nicke ich. Sie holt irgendwoher einen Stadtplan, breitet ihn auf dem Tisch aus und schätzt die Entfernung zwischen dem Bahnhof und dem Schrein.

»Es ist nicht weit. Nicht zu weit zum Laufen. Warum bist du nur dorthin gegangen? Vom Bahnhof aus liegt der Schrein doch in einer ganz anderen Richtung als dein Hotel. Warst du vorher schon mal in der Gegend?«

»Noch nie.«

»Zieh mal dein Hemd aus«, sagt sie. Als ich meinen Oberkörper entblöße, tritt sie hinter mich und drückt mit der Hand gegen meine linke Schulter. Ihre Fingerspitzen bohren sich in meine Schulter, sodass ich unwillkürlich aufstöhne. Sie hat Kraft.

»Tut das weh?«

»Ziemlich.«

»Du bist voll gegen etwas gerannt. Oder es hat dich was mit voller Wucht getroffen.«

»Ich kann mich an nichts erinnern.«

»Wenigstens scheint nichts gebrochen zu sein«, sagt sie und untersucht die schmerzende Stelle mehrmals auf verschiedene Weise. Trotz der Schmerzen tut der Druck ihrer Finger mir seltsamerweise gut. Als ich ihr das sage, lächelt sie.

»Ich habe ein besonderes Talent für Massage. Deshalb kann ich auch von meiner Arbeit als Kosmetikerin leben. Wenn du massieren kannst, wirst du überall genommen.«

Sie massiert meine Schulter noch eine Weile weiter. »Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist. Nach einer guten Nachtruhe lassen die Schmerzen bestimmt nach.«

Sie packt mein T-Shirt in eine Plastiktüte und wirft es in den Mülleimer. Nachdem sie mein Hemd kurz untersucht hat, legt sie es in die Waschmaschine im Bad. Nach einigem Kramen zieht sie aus einer Schublade der Kommode ein weißes T-Shirt hervor und reicht es mir. Es ist noch neu, mit einem Whale-Watching-Motiv von der Insel Maui.

»Das ist das größte von den Hemden hier drin. Es gehört mir nicht, aber das macht nichts. Sieht aus wie ein Mitbringsel von irgendjemandem. Zieh‘s erst mal an, auch wenn es dir vielleicht nicht so gefällt.«

Ich streife es mir über den Kopf. Es passt wie angegossen. »Wenn du magst, kannst du es haben.«

Ich bedanke mich.

»Dein Gedächtnis hat also noch nie so lange ausgesetzt?«, fragt sie.

Nein. Ich schließe die Augen, spüre das neue weiche T-Shirt und atme seinen Geruch ein.

»Weißt du, Sakura, ich habe große Angst«, vertraue ich ihr offen an. »So große Angst, dass ich weder ein noch aus weiß. Vielleicht habe ich in den vier Stunden jemandem etwas angetan. Ich weiß doch gar nichts mehr. Und ich war voller Blut. Wenn ich nun wirklich ein Verbrechen begangen habe, muss ich doch, auch wenn ich nichts mehr davon weiß, die Verantwortung dafür übernehmen. Oder?«

»Ja, aber vielleicht war es nur Nasenbluten. Jemand geht geistesabwesend die Straße entlang, rennt gegen einen Strommast und kriegt Nasenbluten, und du hast dich um ihn gekümmert. Könnte doch sein. Ich kann deine Angst gut verstehen, aber versuch doch wenigstens bis morgen früh nicht an so etwas Schlimmes zu denken. Morgen früh, wenn die Zeitung gebracht wird und im Fernsehen die Nachrichten kommen, erfahren wir auf alle Fälle, ob hier in der Gegend irgendwas Gravierendes passiert ist. Dann können wir immer noch in Ruhe überlegen. Blut fließt aus allen möglichen Gründen, und oft ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht. Als Frau bin ich daran gewöhnt, jeden Monat massenhaft Blut zu sehen. Verstehst du, was ich meine?«

Ich nicke und spüre, wie ich rot werde. Sie löffelt Nescafé in einen großen Becher und setzt in einer Kasserolle Wasser auf. Bis es kocht, raucht sie. Nach ein paar Zügen löscht sie die Zigarette mit Wasser. Ein Geruch von Menthol und Rauch liegt in der Luft.

»Aber eine persönliche Frage würde ich dir gern noch stellen. Darf ich?«

Ja, sage ich.

»Deine Schwester wurde adoptiert. Deine Eltern haben sie vor deiner Geburt bekommen, ja?«

Ja, sage ich. Warum meine Eltern ein Kind angenommen haben, weiß ich nicht. Ich bin erst danach auf die Welt gekommen. Vielleicht unverhofft.

»Du bist aber ganz sicher, dass du das leibliche Kind deines Vaters und deiner Mutter bist?«

»Soweit ich weiß, ja«, sage ich.

»Und trotzdem hat deine Mutter, als sie fortging, nicht dich, sondern deine Schwester mitgenommen, die nicht ihr leibliches Kind ist. Normalerweise würde eine Frau das nicht tun.«

Ich schweige.

»Warum sie das wohl getan hat?«

»Ich weiß nicht«, sage ich kopfschüttelnd. Diese Frage habe ich mir selbst schon zehntausendmal gestellt.

»Aber das hat dich natürlich verletzt.«

Bin ich verletzt? »Ich weiß nicht genau. Aber wenn ich einmal heirate, will ich keine Kinder. Weil ich nicht weiß, wie man mit seinen Kindern umgehen soll.«

»Bei mir ist es nicht so total kompliziert wie bei dir, aber ich habe eine Menge Unsinn gemacht, weil es mit meinen Eltern nicht gut gelaufen ist. Deshalb verstehe ich deine Gefühle sehr gut. Trotzdem solltest du keine übereilten Entscheidungen treffen. Denn auf dieser Welt ist nichts endgültig.«

Sie steht vor dem Gasherd und trinkt aus ihrem großen Becher dampfenden Nescafé. Auf dem Becher ist ein Bild von der Muminfamilie. Sie schweigt, und ich sage auch nichts.

»Hast du gar keine Verwandten, an die du dich wenden könntest?«, fragt sie mich kurze Zeit später.

»Nein. Die Eltern meines Vaters sind vor langer Zeit gestorben, und er hat weder Brüder noch Schwestern, weder Onkel noch Tanten. Ob das der Wahrheit entspricht, habe ich nie versucht herauszufinden. Zumindest bin ich sicher, dass es keine engen Familienbindungen gibt. Von Verwandten mütterlicherseits ist ebenfalls nie die Rede gewesen. Ich kenne ja nicht einmal den Namen meiner Mutter. Wie kann ich da wissen, ob sie Verwandte hat?«

»Wenn man dich so hört, könnte man meinen, dein Vater wäre ein Außerirdischer, der ganz allein von einem fremden Planeten auf die Erde kam, Menschengestalt annahm, eine Erdfrau entführt und dich gezeugt hat. Um seine Nachkommenschaft zu vermehren. Deine Mutter hat die Wahrheit erfahren, Angst bekommen und ist geflohen. Wie in so einem gruseligen Science-Fiction-Film.«

Dazu fällt mir nichts ein, also schweige ich.

»War ja nur ein Witz«, sagt sie und verzieht den Mund zu einem breiten Lachen, um zu bekräftigen, dass es sich tatsächlich um einen Scherz gehandelt hat. »Also hast du auf der ganzen weiten Welt niemanden, auf den du zählen kannst, außer dir selbst.«

»So ist es wohl.«

Eine Weile trinkt sie, gegen die Spüle gelehnt, ihren Kaffee.

»Ich muss ein bisschen schlafen«, sagt Sakura, als sei ihr das gerade eingefallen. Es ist schon nach drei.

»Um halb acht muss ich aufstehen, da ist nicht mehr viel Zeit. Aber ein bisschen schlafen muss ich. Durchmachen und dann zur Arbeit gehen, das ist zu ätzend. Was ist mit dir?«

Wenn es ihr nichts ausmache, würde ich gerne in irgendeiner Ecke in meinem mitgebrachten Schlafsack schlafen, erkläre ich. Dann packe ich meinen zusammengerollten Schlafsack aus, breite ihn aus und schüttele ihn auf. Sie schaut mir beeindruckt zu. »Wie ein Pfadfinder«, sagt sie.


Sie löscht das Licht und geht zu Bett. Ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen. Aber es geht nicht. Der Gedanke an das weiße T-Shirt mit dem Blutfleck lässt sich nicht vertreiben. Das brennende Gefühl auf meinen Handflächen ist noch nicht verschwunden. Ich öffne die Augen und starre an die Decke. Irgendwo knarrt der Boden, irgendwo rauscht Wasser, irgendwo heult eine Krankenwagensirene. Obwohl es sehr weit entfernt zu sein scheint, ist es in der nächtlichen Dunkelheit sonderbar deutlich zu hören.

»Du kannst nicht schlafen, oder?«, sagt ihre Stimme leise aus der Dunkelheit.

»Nein«, erwidere ich.

»Ich auch nicht. Wieso habe ich bloß den Kaffee getrunken? Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.«

Sie knipst ihre Nachttischlampe an, sieht auf die Uhr und löscht das Licht wieder.

»Versteh mich nicht falsch«, sagt sie. »Aber wenn du willst, kannst du zu mir rüberkommen. Ich kann ja auch nicht einschlafen.«

Ich krieche aus meinem Schlafsack in ihr Bett. Ich habe Boxershorts und das T-Shirt an, sie trägt einen hellrosa Pyjama.

»Weißt du, ich habe in Tokyo einen festen Freund. Ist kein besonders toller Typ oder so, aber wir sind irgendwie zusammen. Deshalb habe ich mit niemand anderem Sex. Damit nehm ich‘s ziemlich ernst. Altmodisch, was? Früher war ich nicht so, sondern ganz schön forsch, aber das hat sich geändert. Ich bin seriös geworden. Also komm nicht auf komische Gedanken. Wir sind wie kleiner Bruder und ältere Schwester. Verstehst du?«

Ich bejahe.

Sie legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich an sich. Dann legte sie ihre Wange an meine und sagte: »Du Armer.«

Natürlich bekomme ich eine Erektion. Eine überaus harte. Und es lässt sich nicht vermeiden, dass ich damit Sakuras Oberschenkel berühre.

»Na, na«, sagt sie.

»Das ist keine böse Absicht«, entschuldige ich mich. »Ich kann nichts dafür.«


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[2]

Saeki-san ("Frau Saeki") ist die Leiterin einer Privatbibliothek, in der Kafka Tamura untergekommen ist. Er ist nicht sicher, ob sie vielleicht seine Mutter ist (die die Familie verlassen hatte). In der Nacht zuvor haben sie miteinander geschlafen. Und wieder eine Nacht zuvor hat Kafka mit ihr als 15-jährigem Mädchen geschlafen ... (S. 404 ff.)


Abends gegen neun Uhr kommt Saeki-san zu mir ins Zimmer. Ich sitze auf meinem Sessel und lese, als ich höre, wie ihr Golf auf den Parkplatz fährt und dort hält. Eine Wagentür wird zugeschlagen. Gummisohlen überqueren langsam den Parkplatz. Es klopft an meiner Tür. Saeki-san steht davor. Diesmal schläft sie nicht. Sie trägt ein Baumwollhemd mit Nadelstreifen und leichte Bluejeans. Dazu weiße Segeltuchschuhe. Zum ersten Mal sehe ich sie in Hosen.

»Ein Zimmer voller Erinnerungen«, sagt sie. Sie bleibt vor dem Bild an der Wand stehen und betrachtet es. »Und ein Bild voller Sehnsüchte.«

»Ist der Strand auf dem Bild hier in der Nähe?«, frage ich sie. »Gefällt es dir?«

Ich nicke. »Wer hat es gemalt?«

»Ein junger Maler, der in einem Sommer bei den Komuras zu Gast war. Kein sonderlich berühmter Maler, zumindest damals nicht. Deshalb habe ich auch seinen Namen vergessen. Aber er war nett, und ich finde, das Bild ist sehr gut gemalt. Auf jeden Fall hat es etwas Kraftvolles. Ich habe ihm die ganze Zeit beim Malen zugeschaut und dabei halb im Scherz alle möglichen Forderungen gestellt. Wir waren gute Freunde. Ich und der Maler, in jenem Sommer vor langer Zeit. Ich war damals zwölf Jahre alt«, erzählt sie. »Und der Junge auf dem Bild war ebenfalls zwölf.«

»Die Stelle sieht aus, als wäre sie hier ganz in der Nähe.«

»Komm mit«, sagt sie. »Wir machen einen Spaziergang und ich zeige sie dir.«

Wir gehen durch das Kiefernwäldchen zum Meer, an den nächtlichen Strand. Die Wolken reißen auf, und das Licht des Halbmonds liegt auf den Wellen. Es sind kleine Wellen, die schwach ansteigen und sich leise brechen. Irgendwo setzt sie sich in den Sand, und ich lasse mich neben ihr nieder. Der Sand speichert noch ein wenig Wärme. Sie deutet vage mit dem Finger auf eine Stelle am Wasser.

»Dort war es«, sagt sie. »Aus diesem Winkel hat er die Szene gemalt. Er hat einen Liegestuhl aufgestellt und den Jungen hineingesetzt. Dort irgendwo hat er seine Staffelei platziert. Ich erinnere mich noch genau. Die Lage der Insel passt ins Bild, oder?«

Ich folge ihrer Fingerspitze. Die Lage der Insel scheint tatsächlich zu passen. Und doch sieht es, aus welchem Blickwinkel ich auch schaue, nicht aus wie die Stelle auf dem Bild. Das sage ich.

»Der Strand hat sich tatsächlich sehr verändert«, sagt Saeki-san. »Immerhin sind inzwischen vierzig Jahre vergangen, und die Landschaft hat sich natürlich gewandelt. Die Wellen, der Wind, die Stürme und all das haben die Küstenlinie verändert. Sand ist verschwunden, Sand wurde angeschwemmt. Aber gar kein Zweifel, es war hier. Ich weiß es noch wie heute. Und in jenem Sommer bekam ich zum ersten Mal meine Periode.«

Schweigend betrachten wir die Landschaft. Die Wolken ändern ihre Form, das Mondlicht wirft Flecken auf den Sand. Hin und wieder zieht ein Windstoß durch das Kiefernwäldchen und erzeugt ein Geräusch, als fegten zahllose Besen über die Erde. Ich schöpfe mit den Händen Sand und lasse ihn durch die Finger langsam zu Boden rieseln, wo er sich mit anderem Sand vermischt – wie Zeit, die man aus den Augen verliert.

»Woran denkst du?«, fragt mich Frau Saeki.

»Daran, nach Spanien zu fahren.«

»Und was würdest du in Spanien tun?«

»Paella essen.«

»Mehr nicht?«

»Mich am Spanischen Bürgerkrieg beteiligen.«

»Aber der Spanische Bürgerkrieg ist seit über sechzig Jahren zu Ende.«

»Ich weiß«, sage ich. »Lorca ist tot, und Hemingway hat überlebt.«

»Aber du möchtest mitmachen?«

Ich nicke. »Brücken sprengen.«

»Und dich in Ingrid Bergmann verlieben.«

»Aber in Wirklichkeit bin ich in Takamatsu und in Sie verliebt.«

»Was nicht so richtig geht.«

Ich lege den Arm um ihre Schulter.

Du legst den Arm um ihre Schulter.

Sie lehnt sich an dich. Wieder vergeht eine lange Zeit.

»Weißt du was? Vor einer Ewigkeit habe ich schon einmal genau das Gleiche getan. Genau an dieser Stelle.«

»Ich weiß«, sagst du.

»Woher weißt du das?«, fragt sie und sieht dich an. »Weil ich damals dort war.«

»Du warst dort und hast Brücken gesprengt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Metaphorisch gesprochen.«

»Natürlich.«

Du nimmst sie in die Arme, ziehst sie an dich und küsst sie. Du spürst, wie in deinen Armen die Kraft ihren Körper verlässt.

»Wir alle träumen«, sagt sie.

Alle träumen.

»Warum bist du gestorben?«

»Ich konnte es nicht verhindern«, sagst du.

Ihr beide geht am Strand entlang zur Bibliothek zurück. Dann löscht ihr das Licht im Zimmer, zieht die Vorhänge vor und umarmt euch wortlos im Bett. Beinahe das Gleiche wie in der vergangenen Nacht wiederholt sich auf fast gleiche Weise. Zwei Unterschiede gibt es jedoch. Nachdem ihr zusammen geschlafen habt, weint sie. Sie vergräbt den Kopf im Kissen und weint lange und lautlos. Du weißt nicht, was du tun sollst, und legst deine Hand sacht auf ihre nackte Schulter. Du willst irgendetwas sagen. Aber du weißt nicht, was. Die Worte sind in einer Nische der Zeit erstorben. Sind lautlos auf den Grund eines dunklen Kratersees gesunken. Das ist der eine Unterschied. Als sie diesmal geht, ertönt der Motor ihres Wagens. Das ist der zweite Unterschied. Sie startet den Motor, schaltet ihn ab, eine gewisse Zeit vergeht, als würde sie nachdenken. Dann lässt sie den Motor wieder an und fährt vom Parkplatz. Die Stille zwischen dem Anlassen und Abschalten des Motors löst große Traurigkeit in dir aus. Diese Leere zieht ein in dein Herz wie der Nebel vom Meer. Sie richtet sich für lange dort ein und wird ein Teil von dir.

Von Saeki-san ist dir nur das tränenfeuchte Kissen geblieben. Die Hand auf dem feuchten Kissen, beobachtest du, wie der Himmel vor dem Fenster allmählich heller wird. Von ferne ertönt der Ruf einer Krähe. Die Erde dreht sich langsam weiter. Und so leben wir alle in unseren Träumen.


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[3]

Kafka Tamura wird als Zeuge von der Polizei gesucht, da sein Vater ermordet wurde. Oshima, Mitarbeiter in der Bibliothek, bringt ihn in die Berge. (S. 452 ff.)


»Jetzt mal ganz ruhig. Immerhin wurde kein Haftbefehl gegen dich erlassen. Und du wirst auch nicht steckbrieflich gesucht. Na also«, sagt Oshima.

Ich nicke.

»Und außerdem bist du auch jetzt noch frei. Wenn ich dich irgendwo hinbringe, ist das nur meine Sache. Ich verstoße gegen kein Gesetz. Ich kenne ja nicht mal deinen richtigen Namen, Kafka Tamura. Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich bin ein äußerst vorsichtiger Mensch. So leicht kriegt man mich nicht zu fassen.«

»Herr Oshima?«

»Ja?«

»Ich habe mich mit niemandem verschworen. Wenn ich wirklich beschlossen hätte, meinen Vater umzubringen, hätte ich niemanden beauftragt.«

»Das weiß ich doch.«

Als wir an einer Ampel halten müssen, stellt Oshima den Rückspiegel ein. Er steckt sich ein Zitronenbonbon in den Mund und bietet mir auch eins an. Ich nehme es und werfe es mir in den Mund.

»Und dann?«

»Und dann was?«, fragt Oshima.

»Sie haben vorhin ‘erstens’ gesagt und einen der Gründe gemeint, aus denen ich mich in den Bergen verstecken muss. Wo es einen ersten Grund gibt, müsste es doch auch einen zweiten geben.«

Oshima starrt unentwegt auf die Ampel, aber sie will einfach nicht grün werden. »Der zweite Grund ist nicht so wichtig. Verglichen mit dem ersten.«

»Aber ich möchte ihn hören.« »Saeki-san«, sagt Oshima. Endlich schaltet die Ampel auf Grün, und er gibt Gas. »Du schläfst mit ihr, stimmt’s?«

Ich kann nicht antworten.

»Das ist schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken. Ich weiß das, weil ich über Intuition verfüge. Mehr nicht. Sie ist ein wunderbarer Mensch, und obwohl sie eine Frau ist, wirklich hinreißend. Sie ist – ein ganz besonderer Mensch. In vieler Hinsicht. Natürlich ist der Altersunterschied zwischen euch sehr groß, aber das ist eigentlich kein Problem. Ich kann sehr gut verstehen, dass du dich zu ihr hingezogen fühlst. Du willst mit ihr schlafen. Das ist in Ordnung. Sie will mit dir schlafen. Auch in Ordnung. Eine einfache Sache. Mehr Gedanken mache ich mir darüber nicht. Wenn es für euch gut ist, ist es das auch für mich.«

Oshima rollte sein Zitronenbonbon im Mund herum.

»Doch im Moment ist es für dich und für Saeki-san besser, wenn ihr für eine Weile getrennt seid. Das hat nicht einmal etwas mit dem blutigen Ereignis in Nakano-Nogata zu tun.«

»Mit was denn sonst?«

»Sie befindet sich jetzt in einer sehr kritischen Zeit.«

»Kritisch?«

»Saeki-san –«, Oshima sucht nach Worten. »Also einfach ausgedrückt: Sie ist im Begriff zu sterben. Ich weiß es. Ich spüre es schon die ganze Zeit.«

Ich nehme meine Sonnenbrille ab und sehe Oshima von der Seite an. Er fährt, den Blick geradeaus gerichtet. Wir sind eben auf die Autobahn in Richtung Kochi abgebogen. Ausnahmsweise bewegt sich der Wagen unter Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Fahrspur. Geräuschvoll rast ein schwarzer Toyota Supra an unserem Roadster vorbei.

»Sie ist im Begriff zu sterben ... «, sage ich. »An einer unheilbaren Krankheit? Wie Krebs oder Leukämie?«

Oshima schüttelt den Kopf. »Kann sein, kann aber auch nicht sein. Ich habe keine Ahnung von ihrem Gesundheitszustand. Vielleicht hat sie so ein Leiden. Nicht auszuschließen, oder? Aber ich frage mich, ob es nicht eher um seelische Dinge geht. Um etwas, das mit ihrem Willen zu leben zu tun hat.«

»Sie meinen, sie hat ihren Lebenswillen verloren?«

»Ja, so etwas in der Art. Sie hat den Willen weiterzuleben verloren.«

»Glauben Sie, sie wird Selbstmord begehen?«

»Eigentlich nicht«, sagt Oshima. »Sie schreitet nur langsam und ruhig auf ihren Tod zu. Oder der Tod kommt auf sie zu.«

»Wie ein Zug auf den Bahnhof zufährt?«

»So ähnlich.« Oshima bricht ab und presst die Lippen aufeinander. »Und nun, mein Lieber, bist du aufgetaucht. Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka. Und ihr fühlt euch zueinander hingezogen und habt – um einen klassischen Ausdruck zu gebrauchen beschlossen, ein Verhältnis miteinander einzugehen.«

»Und?«

Oshima nimmt für einen Moment die Hände vom Lenkrad. »Das ist alles.«

Ich schüttele langsam den Kopf. »Ich glaube, Herr Oshima, Sie meinen, ich wäre dieser Zug.«

Oshima schweigt lange. »Ganz genau«, gibt er zu. »Du hast Recht. Das meine ich.«

»Sie glauben, ich werde Saeki-sans Tod herbeiführen, nicht wahr?«

»Aber ich verurteile dich deswegen nicht«, sagt er. »Eher glaube ich, dass es gut so ist.«

»Warum?«

Darauf gibt Oshima mir keine Antwort. Das musst du selbst herausfinden, sagt sein Schweigen. Oder Darüber braucht man doch nicht nachzudenken.

Ich schließe die Augen und lasse mich in den Sitz sinken. Mir wird schwach.

»Herr Oshima?«

»Ja?«

»Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Was richtig und was falsch ist, ob ich vorwärts gehen soll oder lieber umkehren.«

Oshima schweigt beharrlich.

»Was soll ich denn nur tun?«, frage ich.

»Am besten gar nichts«, erwidert er knapp.

»Überhaupt nichts?« Oshima nickt. »Deshalb bringe ich dich ja in die Berge.«

»Aber was soll ich in den Bergen machen?«

»Dem Wind lauschen«, sagt er. »Das mache ich auch immer.«

Ich denke über seine Worte nach.

Oshima streckt die Hand aus und legt sie liebevoll auf meine.

»Das ist doch alles nicht deine Schuld. Und meine auch nicht. Es liegt auch nicht an der Prophezeiung oder an einem Fluch. Es ist weder die Schuld der DNA noch des Absurden, auch nicht die des Strukturalismus oder der dritten industriellen Revolution. Dass wir alle zugrunde gehen und verloren sind, liegt daran, dass die Welt an sich auf Vergänglichkeit und Verlust beruht. Unsere Existenz ist nicht mehr als ein Schattenriss dieses Prinzips. Der Wind weht. Es gibt stürmische, starke Winde und angenehme, sanfte Brisen. Aber jeder Windhauch geht irgendwann verloren und verschwindet. Wind hat keine Substanz. Wind ist nicht mehr als ein Überbegriff für die Bewegungen der Luft. Spitz die Ohren, und du verstehst diese Metapher.«

Ich drücke Oshimas Hand. Eine weiche, warme Hand. Glatt, geschlechtslos, von schlanker Eleganz.

»Herr Oshima«, sage ich. »Es ist besser, wenn ich Saeki-san jetzt nicht sehe, ja?«

»Ja, mein lieber Kafka. Es ist besser, wenn du für eine Weile von ihr getrennt bist. Sie allein lässt. Sie ist klug und stark. Lange hat sie große Einsamkeit ertragen und mit grausamen Erinnerungen gelebt. Sie besitzt die Fähigkeit, in Ruhe und allein zu entscheiden.«

»Letzten Endes bin ich ein Kind und störe sie nur, nicht wahr?«

»Das nicht«, sagt Oshima mit weicher Stimme. »So würde ich es nicht sagen. Du hast getan, was du tun solltest, und es hatte eine Bedeutung. Eine Bedeutung für dich und auch für sie. Das Weitere kannst du ihr überlassen. Das klingt vielleicht kalt, aber im Augenblick gibt es nichts, was du für Saeki-san tun kannst. Du wirst nun allein in die Berge gehen und dich um deine eigenen Dinge kümmern. Auch für dich ist die Zeit gekommen.«

»Um meine eigenen Dinge?«

»Hör gut zu, Kafka«, sagt Oshima. »Sperr die Ohren auf wie Venusmuscheln.«




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