Leseprobe aus: Audrey Niffenegger, Die Frau des Zeitreisenden






Henry, der "Zeitreisende", trifft auf Gomez, der schon lange sein Freund ist, umgekehrt kennt dieser ihn aber erst seit kurzem. Henry erklärt Gomez, was mit ihm los ist. (S. 147 ff.)



Samstag, 14. Dezember 1991, Dienstag, 9. Mai 2000
(Henry ist 36)


Henry: Ich bin gerade dabei, einen großen betrunkenen Spießer grün und blau zu schlagen, der die Frechheit besaß, mich Schwuchtel zu nennen und mich dann, nur um etwas zu beweisen, verprügeln wollte. Wir sind in der Gasse neben dem Vic Theater. Der Bass der Smoking Popes quillt aus den Seitenausgängen, während ich dem Idioten systematisch die Nase zerschmettere und mich anschließend um seine Rippen kümmere. Ich hatte einen miesen Abend, und dieser Trottel kriegt die volle Wucht meiner Frustration ab.

"Hey, Bücherknecht." Ich wende mich von meinem stöhnenden schwulenhassenden Yuppie ab und sehe Gomez, er lehnt mit finsterer Miene an einer Mülltonne.

"Genosse." Ich trete einen Schritt zurück, und der von mir verprügelte Typ schiebt sich gekrümmt, aber dankbar, von dannen. "Wie geht's so?" Ich bin sehr erleichtert, Gomez zu treffen: Um nicht zu sagen, hocherfreut. Er allerdings scheint meine Freude nicht zu teilen.

"Mann, ich will dich ja nicht stören und gar nichts, aber du zerstückelst da gerade einen Freund von mir."

Oh, das darf nicht wahr sein. "Aber er hat es so gewollt. Kommt einfach auf mich zu und sagt, ‘Du, ich muss dringend vermöbelt werden.’"

"Ach so, na dann, gut gemacht. Verdammt kunstvoll, echt."

"Vielen Dank."

"Was dagegen, wenn ich den guten alten Nick aufklaube und ins Krankenhaus bringe?"

"Tu, was du nicht lassen kannst." Mist. Ich hatte vor, Nicks Klamotten zu beschlagnahmen, vor allem die Schuhe, nagelneue Doc Martens, dunkelrot, kaum getragen. "Gomez."

"Ja?" Er bückt sich und will seinen Freund hochheben, der sich einen Zahn in den eigenen Schoß spuckt. "Welches Datum haben wir heute?"

"Den 14. Dezember."

"Welches Jahr?"

Er blickt zu mir auf wie jemand, der Wichtigeres zu tun hat, als sich auf einen Irren einzulassen, und packt Nick im Feuerwehrmannsgriff, was scheußlich wehtun muss. Nick fängt an zu wimmern. "1991. Du musst betrunkener sein, als du aussiehst." Er geht die Gasse entlang und verschwindet in Richtung des Theatereingangs.

Ich rechne schnell nach. Es ist noch nicht lange her, seit Clare und ich ein Paar sind, Gomez und ich können uns also kaum kennen. Kein Wunder, dass er mich so kalt beäugt hat.

Er kommt ohne Last zurück. "Ich hab ihn Trent übergeben. Nicks Bruder. Er war nicht sehr begeistert." Wir gehen in östlicher Richtung die Gasse hinunter. "Verzeih mir die Frage, lieber Bücherknecht, aber wieso um Himmels willen bist du so angezogen?"

Ich trage Jeans, einen hellblauen, mit kleinen gelben Enten gemusterten Pullover und eine neonrote Daunenweste mit rosa Turnschuhen. Im Grunde überrascht es nicht, dass es manch einen in den Fingern juckt, mich zu verprügeln.

"Etwas Besseres konnte ich nicht auftreiben." Ich hoffe nur, der Kerl, dem ich die Sachen weggenommen habe, hatte es nicht weit nach Hause. Es hat etwa minus fünf Grad. "Warum verkehrst du mit Typen, die Verbindungen angehören?"

"Na ja, wir haben zusammen Jura studiert." Wir gehen an der Hintertür eines Army-Shop vorbei, und ich verspüre den dringenden Wunsch nach normaler Kleidung. Ich beschließe, das Risiko einzugehen, Gomez vor den Kopf zu stoßen, denn ich weiß, er wird es verwinden. Ich bleibe stehen. "Genosse. Es wird nicht lange dauern, ich muss nur eine Kleinigkeit erledigen. Könntest du am Ende der Gasse warten?"

"Was hast du vor?"

"Nichts. Einbruchdiebstahl. Beachte nicht den Mann hinterm Vorhang."

"Was dagegen, wenn ich mitkomme?"

"Ja." Er wirkt geknickt. "Na gut. Wenn's sein muss." Ich trete in die Nische, die den Hintereingang verdeckt. Es ist mein dritter Einbruch in diesem Laden, obwohl die beiden anderen Male noch in der Zukunft liegen. Ich beherrsche die Sache schon aus dem Effeff. Erst öffne ich das belanglose Kombinationsschloss, mit dem das Gitter gesichert ist, das ich nunmehr zurückschiebe, knacke das Sicherheitsschloss mit dem Inneren eines alten Füllers und einer Sicherheitsnadel, die ich vorhin auf der Belmont gefunden habe, und benutze ein Stück Aluminium, um den Innenriegel zwischen der Doppeltür zu heben. Voila. Alles in allem dauert das Ganze etwa drei Minuten. Gomez sieht mit beinahe religiöser Ehrfurcht zu.

"Wo hast du das bloß gelernt?"

"Ist nur ein Trick", erwidere ich bescheiden. Wir gehen in den Laden. Da ist eine Tafel mit blinkenden roten Lichtern, die eine Alarmanlage vortäuschen will, aber ich weiß es besser. Es ist hier ziemlich dunkel. In Gedanken gehe ich die Raumaufteilung und Waren durch. "Fass nichts an, Gomez." Ich möchte warm und unauffällig angezogen sein. Vorsichtig schleiche ich durch die Gänge, und meine Augen gewöhnen sich bald an die Finsternis. Ich beginne mit der Hose: schwarze Levi′s. Dann wähle ich ein dunkelblaues Flanellhemd aus, einen dicken schwarzen Wollmantel mit kräftigem Futter, Wollsocken, Boxershorts, dicke Bergsteigerhandschuhe und eine Mütze mit Ohrenklappen. In der Schuhabteilungfinde ich, zu meiner großen Freude, genau die gleichen Docs wie mein Freund Nick sie anhatte. Ich bin einsatzbereit.

Unterdessen schnüffelt Gomez hinter der Ladentheke herum. "Spar dir die Mühe", sage ich zu ihm. "Hier nehmen sie über Nacht das Geld aus der Kasse. Gehen wir." Wir verlassen den Laden auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind. Leise schließe ich die Tür und schiebe wieder das Gitter vor. Meine alten Sachen sind in einer Einkaufstüte. Später will ich versuchen, einen Kleidercontainer der Heilsarmee zu finden. Gomez sieht mich erwartungsvoll an, wie ein großer Hund, der gespannt ist, ob ich noch ein Stück Fleisch habe.

Wobei mir einfällt. "Ich sterbe vor Hunger. Gehen wir zu Ann Sather."

"Ann Sather? Ich dachte, du schlägst einen Banküberfall vor oder wenigstens Totschlag. Du bist gerade so in Schwung, Mann, da kannst du nicht aufhören."

"Ich muss die Arbeit unterbrechen, um aufzutanken. Komm schon." Von der Gasse aus gehen wir über den Parkplatz des schwedischen Restaurants Ann Sather′s. Der Wärter beäugt uns stumm beim Durchqueren seines Königreichs. Wir laufen schräg hinüber zur Belmont Avenue. Es ist erst neun, und auf der Straße drängelt sich die übliche Mischung aus durchgeknallten Obdachlosen, Ausreißern, Clubgängern und spießigen Kicksuchern. Ann Sather′s ragt wie eine Insel der Normalität inmitten der Tattoo-Studios und Kondomboutiquen hervor. Wir treten ein und warten an der Bäckerei, bis man uns einen Platz zuweist. Mein Magen knurrt. Die schwedische Ausstattung wirkt beruhigend, der ganze Raum besteht aus Holztäfelung und roter Marmorierung. Wir werden in die Raucherzone geführt, direkt vor den Kamin. Es geht bergauf. Wir ziehen unsere Mäntel aus, machen es uns bequem, studieren die Speisekarte, auch wenn wir sie, als ewige Chicagoer, vermutlich auswendig singen könnten, allerdings zweistimmig. Gomez legt seine Rauchutensilien neben das Besteck.

"Stört es dich?"

"Ja. Aber mach ruhig." Der Preis für Gomez′ Gesellschaft ist ein ständiges Umhülltsein von waberndem Zigarettenqualm, der ihm aus der Nase strömt. Seine Finger, die vom Nikotin ganz dunkelgelb sind, flattern geschickt über das dünne Papierchen, wenn er den Tabak zu einem dicken Zylinder dreht, dann leckt er das Papier an, klebt es fest, steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. "Ahh." Eine halbe Stunde ohne Nikotin ist für Gomez nicht normal Ich sehe es immer gern, wenn Leute ihre Gelüste befriedigen, auch wenn ich selbst sie nicht teile.

"Rauchst du nicht? Auch nichts anderes?"

"Ich laufe."

"Klar, stimmt, du bist in Bestform. Ich dachte schon, du hättest Nick umgebracht, dabei warst du nicht mal aus der Puste."

"Der war zu betrunken, um zu kämpfen. Ein großer besoffener Sandsack."

"Und wieso hast du ihm dann so zugesetzt?«

"Es war seine eigene Blödheit." Der Kellner kommt, sagt uns, er heiße Lance, und das Tagesgericht sei Lachs mit Erbsenpüree. Er nimmt unsere Getränkebestellung auf und saust davon. Ich spiele mit dem Milchspender. "Er sah, was ich anhatte, zog den Schluss, dass ich leichte Beute bin, wurde widerwärtig, wollte mich zusammenschlagen, mochte nicht glauben, dass er lieber die Finger davon lassen sollte und hat eine Überraschung erlebt. Ich habe nur meine eigenen Interessen vertreten, ehrlich."

Gomez macht ein nachdenkliches Gesicht. "Und die wären?"

"Wie bitte?"

"Henry. Ich mag vielleicht wie ein Hornochse aussehen, aber in Wirklichkeit ist dein alter Onkel Gomez nicht ganz ahnungslos. Du bist mir seit einiger Zeit aufgefallen, und zwar bevor unsere kleine Clare dich mit nach Hause genommen hat. Vielleicht bist du dir darüber nicht im Klaren, aber in gewissen Kreisen genießt du einen bescheidenen Ruf. Ich kenne viele Leute, die dich kennen. Oder sagen wir lieber: Frauen. Frauen, die dich kennen." Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen durch den Dunst seiner Zigarette an. "Sie erzählen reichlich seltsame Sachen." Lance bringt meinen Kaffee und Gornez′ Milch. Wir bestellen: für Gomez einen Cheeseburger und Pommes, für mich Erbsensuppe, den Lachs, Süßkartoffeln und Obstsalat. Mir ist, als würde ich gleich umkippen, wenn ich nicht schnell viele Kalorien bekomme. Lance entfernt sich eilends. Es fällt mir schwer, Interesse für die Missetaten meines früheren Ichs aufzubringen, geschweige denn, sie vor Gomez zu rechtfertigen. Geht ihn schließlich nichts an. Aber er wartet auf meine Antwort. Ich verrühre die Sahne im Kaffee und sehe zu, wie der leichte weiße Schaum sich in Wolken auflöst. Ich schlage alle Vorsicht in den Wind. Spielt ohnehin keine Rolle.

"Was möchtest du denn wissen, Genosse?"

"Alles. Ich möchte wissen, warum ein scheinbar freundlicher Bibliothekar einen Kerl wegen nichts krankenhausreif schlägt und dabei Kindergärtnerkleidung trägt. Ich möchte wissen, warum sich Ingrid Carmichel vor acht Tagen das Leben nehmen wollte. Ich möchte wissen, warum du im Moment zehn Jahre älter aussiehst als bei unserer letzten Begegnung. Deine Haare werden schon grau. Ich möchte wissen, warum du ein Sicherheitsschloss knacken kannst. Ich möchte wissen, warum Clare ein Foto von dir hatte, noch bevor sie dich überhaupt kennen gelernt hat."

Clare hatte ein Foto von mir, das vor 1991 entstanden ist? Das ist mir neu. "Wie sehe ich auf dem Foto aus?"

Gomez mustert mich. "Eher wie jetzt, nicht wie vor zwei Wochen, als du bei uns zum Essen warst." Vor zwei Wochen? Gütiger Himmel, dann sind Gomez und ich uns erst zweimal begegnet.

"Das Bild wurde im Freien aufgenommen. Du lächelst. Auf der Rückseite steht Juni 1988." Das Essen kommt, und wir unterbrechen unsere Unterhaltung, um alles auf dem kleinen Tisch unterzubringen. Dann fange ich zu essen an, als gäbe es kein Morgen.

Gomez sitzt da, sieht mir zu, rührt seinen Teller nicht an. Im Gerichtssaal habe ich erlebt, wie Gomez unwillige Zeugen auf genau diese Weise ansieht. Er zwingt sie förmlich, etwas auszuspucken. Mir macht es nichts aus, ihm alles zu erzählen, aber erst will ich essen. Im Grunde muss Gomez sogar die Wahrheit kennen, denn in den folgenden Jahren wird er immer wieder meinen Arsch retten.

Ich bin mit meinem Lachs halb fertig, und er sitzt immer noch da. "Iss doch, iss", sage ich in meiner besten Imitation von Mrs Kim. Er stippt eine Fritte in Ketchup und kaut darauf herum. "Keine Angst, ich werde gestehen. Ich möchte nur noch mein letztes Mahl in Frieden genießen." Da kapituliert er und isst endlich seinen Burger. Wir sagen beide nichts mehr, bis ich mit dem Obstsalat fertig bin. Lance bringt mir noch mal Kaffee. Ich gebe Milch dazu und rühre um. Gomez sieht mich an, als würde er mich am liebsten schütteln. Ich beschließe, mich auf seine Kosten zu amüsieren.

"Gut. Die Lösung lautet: Zeitreisen." Gomez verdreht die Augen und verzieht sein Gesicht, sagt aber nichts.

"Ich reise durch die Zeit. Im Augenblick bin ich sechsunddreißig Jahre alt. Heute Nachmittag war der 9. Mai 2000, ein Dienstag. Ich war bei der Arbeit, hatte gerade eine Präsentation für eine Gruppe des bibliophilen Caxton Clubs beendet und war ins Magazin gegangen, um Bücher in die Regale zurückzuräumen, als ich mich plötzlich in der School Street im Jahr 1991 wiederfand. Wie immer war mein Problem, mir etwas zum Anziehen zu besorgen. Ich versteckte mich eine Weile unter einer Veranda. Mir war kalt, aber es kam niemand vorbei, bis schließlich ein junger Typ auftauchte, der wie ein bunter - nun, du hast gesehen, wie ich angezogen war. Ich hab ihn überfallen, ihm sein Geld und alles, was er am Leib trug, abgenommen, außer der Unterwäsche. Er hatte eine Heidenangst. Ich glaube, er dachte, ich will ihn vergewaltigen oder so. Jedenfalls hatte ich was zum Anziehen. Gut. Aber in einem solchen Viertel kannst du dich nicht so zeigen, ohne gewisse Missverständnisse auszulösen. Ich musste mir also den ganzen Abend von diversen Leuten dummes Zeug anhören, und dein Freund hat zufällig das Fass zum Überlaufen gebracht. Es tut mir Leid, wenn es ihn schlimm erwischt hat. Ich wollte einfach nur seine Kleidung, vor allem die Schuhe." Gomez wirft einen Blick unter den Tisch auf meine Füße. "In solche Situationen gerate ich ständig. Im Ernst. Irgendwas stimmt nicht mir. Ich verirre mich in der Zeit, ohne jeden Grund. Ich kann nicht kontrollieren, weiß nie, wann es passiert, oder wo und wann ich ankomme. Um mir zu helfen, knacke ich also Schlösser, begehe Ladendiebstahl, stehle Brieftaschen und Geldbörsen, überfalle Leute, geh schnorren, breche ein, klaue Autos, lüge, haue, steche und verstümmle. Es gibt nichts, was ich nicht schon getan hätte."

"Mord."

"Na ja, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Auch missbraucht habe ich noch nie jemanden." Ich beobachte ihn beim Sprechen. Sein Gesicht verrät nichts. "Ingrid. Kennst du Ingrid näher?"

"Ich kenne Celia Attley."

"Oje. Du pflegst vielleicht seltsame Bekanntschaften. Wie wollte Ingrid sich denn umbringen?"

"Mit einer Überdosis Valium."

"1991? Ja, klar. Das wäre Ingrids vierter Selbstmordversuch."

"Was?"

"Ach, das hast du also nicht gewusst? Celia streut offenbar nur gezielt Informationen. Am 2. Januar 1994 gelang es Ingrid übrigens doch, sich um die Ecke zu bringen. Mit einem Schuss in die Brust."

"Henry ... "

"Du musst wissen, das war vor sechs Jahren, und ich bin immer noch wütend auf sie. So eine Verschwendung. Aber sie war schwer depressiv, schon sehr lange, sie ist einfach darin versunken. Ich konnte ihr nicht helfen. Das war einer unserer häufigen Streitpunkte."

"Das ist ein ziemlich kranker Witz, Bücherknecht."

"Willst du Beweise?"

Er lächelt nur.

"Was ist mit dem Foto? Von dem du sagst, dass Clare es hat." Das Lächeln verschwindet. "Gut. Ich gebe zu, dass mich das ein klein wenig verwirrt."

"Ich traf Clare zum ersten Mal im Oktober 1991. Sie traf mich zum ersten Mal im September 1977; sie war sechs, ich werde achtunddreißig sein. Sie kennt mich schon ihr ganzes Leben lang. 1991 haben wir uns gerade kennen gelernt. Im übrigen solltest du Clare das alles selbst fragen. Sie wird es dir erzählen."

"Schon geschehen. Sie hat es mir erzählt."

"Also wirklich, Gomez. Du stiehlst mir wertvolle Zeit, lässt mich alles wiederholen. Hast du ihr nicht geglaubt?"

"Nein. Hättest du ihr geglaubt?"

"Natürlich, Clare ist sehr ehrlich. Das liegt an ihrer katholischen Erziehung." Lance kommt erneut mit Kaffee vorbei. Ich bin zwar schon ziemlich koffeiniert, aber mehr kann nie schaden. "Und? Nach welchem Beweis suchst du?"

"Clare sagt, du verschwindest."

"Ja, das ist einer meiner dramatischeren Taschenspielertricks. Häng dich an meine Fersen, und früher oder später verdufte ich. Es kann Minuten, Stunden oder Tage dauern, aber was das angeht, bin ich sehr verlässlich."

"Kennen wir uns im Jahr 2000?"

"Klar." Ich grinse ihn an. "Wir sind gute Freunde."

"Sag mir meine Zukunft."

Oh, nein. Eine schlechte Idee. "Kommt nicht in Frage."

"Warum nicht?"

"Gomez, Dinge geschehen. Sie im Voraus zu wissen macht alles ... komisch. Du kannst sowieso nichts ändern."

"Warum nicht?"

"Kausalität ist nur vorwärts gerichtet. Alles geschieht nur einmal, ein einziges Mal. Wenn du alles weißt ... kommst du dir vor wie in einer Falle. Wenn du einfach in der Zeit lebst, offen für alles ... bist du frei. Glaub mir." Er macht ein frustriertes Gesicht. "Bei unserer Hochzeit wirst du mein Trauzeuge sein. Und ich werde deiner sein. Du hast ein schönes Leben, Gomez. Aber Einzelheiten erzähle ich dir nicht."

"Börsentipps?"

Klar, warum nicht. Im Jahr 2000 steht der Aktienmarkt Kopf, aber man kann erstaunliche Gewinne erzielen, und Gomez wird zu den Glückspilzen zählen. "Schon mal vom Internet gehört?"

"Nein."

"Hat was mit Computern zu tun. Ein riesiges weltweites Netz, an das normale Leute angeschlossen sind, die über Telefonleitungen per Computer kommunizieren. In diese Technologie solltest du investieren. Netscape, America Online, Sun Microsystems, Yahoo! Microsoft, Amazon.com." Er macht sich Notizen.

"Dotcom?"

"Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Kauf sie einfach beim ersten Börsengang." Ich muss lächeln. "Ein ganz heißer Tip."

"Und ich dachte, du rastest aus, wenn heute Abend jemand von heißen Typen redet."

"Ach Gomez." Plötzlich wird mir übel. Ich verspüre wenig Lust,hier, in diesem Augenblick, großes Aufsehen zu erwecken, und springe auf. "Folge mir", sage ich und renne zur Herrentoilette, Gomez dicht hinter mir. Dort stürme ich in die wunderbarerweise leere Kabine. Schweiß rinnt mein Gesicht hinab, ich übergebe mich ins Klo. "Verdammter Mist", sagt Gomez. "Was ist los, Bücher...", doch was er noch sagen will, erreicht mich nicht, denn ich liege auf der Seite, nackt, auf einem kalten Linoleumboden, in völliger Dunkelheit. Mir ist schwindlig, darum bleibe ich eine Weile liegen. Ich strecke die Hand aus und ertaste die Rücken von Büchern. Ich befinde mich im Magazin der Newberry. Mühsam komme ich auf die Füße, wanke ans Ende des Gangs und knipse den Schalter an; Licht durchflutet die Reihe, in der ich stehe, und blendet mich. Meine Kleidung und der Wagen mit den Büchern, die ich zurückstellen wollte, sind im nächsten Gang. Ich ziehe mich an, ordne die Bücher ein und öffne behutsam die Sicherheitstür, die zum Magazin führt. Ich weiß nicht, wie spät es ist, die Alarmanlage könnte eingeschaltet sein. Aber nein, alles ist wie gehabt. Isabelle weist einen neuen Nutzer in die Gepflogenheiten des Lesesaals ein, Matt geht vorbei und winkt. Sonnenlicht fällt durch die Fenster, und die Zeiger der Lesesaaluhr weisen auf 16.15 Uhr. Ich bin keine fünfzehn Minuten weg gewesen. Amelia sieht mich und zeigt auf die Tür. "Ich gehe eben zu Starbucks. Willst du Kaffee?"

"Nein, lieber nicht. Aber vielen Dank." Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Ich strecke den Kopf in Robertos Büro und sage ihm, dass ich mich nicht wohl fühle. Er nickt mitfühlend, gestikuliert zum Telefonhörer, aus dem ihm in Lichtgeschwindigkeit Italienisch ins Ohr strömt. Ich packe meine Sachen und gehe.

Für den Bücherknecht nur ein ganz normaler Bürotag.



nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken