Aus der Schreibwerkstatt (Dezember 2017)
Ausschnitt aus einem Text mit dem Arbeitstitel "Novembersommer" (1. Kapitel, überarbeitet Dezember 2017)
(Stand: 9.12.17)
Wenn Menschen einen Ort besiedeln, müssen sie sich mit seinen Elementen, wie sie von alters her die Welt formen, auseinandersetzen: Erde, Wasser, Luft und Feuer … Das geht überhaupt nicht, Josef, so kannst du das Buch nicht anfangen … im Einverständnis mit den elementaren Kräften, die immer schon lange vor den Menschen einen Ort beleben und so weiter, mein Gott, ist das ein Geschwafel, das liest doch kein Mensch.
So habe ich es ihm nicht gesagt, ich habe mich nur gefragt: warum schreibt er ganz anders als er redet! "Du musst dir bei den ersten Sätzen Mühe geben", habe ich gesagt, "die ersten Sätze entscheiden, ob einer dein Buch liest." Ich war vorsichtig. Josef war mein Freund, ich darf das sagen, auch wenn er fünfundzwanzig Jahre älter war. Und in gewisser Weise war er auch ein Vorbild für mich, ich habe viel von ihm gelernt. Nur gerade was die Dinge ums Bücherschreiben angeht, war er es, der von mir lernen wollte. Ich hatte ein Problem damit, ihn zu kritisieren, damals in Aubrac in Jacks Taberna.
Es soll Schriftsteller geben, die sich eine Sammlung erster Sätze anlegen, um bei Bedarf einen auszuwählen. Keine schlechte Idee, aber ich habe mich nie zu diesem Hilfsmittel entschließen können, obwohl ich, zugegeben, oft Schwierigkeiten mit den Anfängen habe. Auch bei dieser Geschichte, die ich im Jahr darauf für ihn schreiben sollte, war das nicht anders. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte.
Überhaupt war das alles für mich eine Nummer zu groß.
Oder nein, das stimmt nicht. Als zu groß oder zu schwer habe ich seine Bitte nicht empfunden. Zu mühsam war mir das Ganze eher, zu umständlich, um mich ganz darauf einzulassen. Es war nicht mein Ding. Und dann war da auch Christina. Als mir schließlich ein guter erster Satz eingefallen ist, war es längst zu spät.
Das ist alles sehr lange her. Viel Leben ist vergangen, und nichts davon hatte mit den alten Zeiten zu tun. Ich hatte Josef und Hella und Aubrac und alles, was damit zusammenhängt, völlig vergessen. Vielleicht hin und wieder ein Erinnerungssplitter, ohne Gewicht und Wert, sonst war alles versenkt in der Tiefsee der Vergangenheit. Wahrscheinlich hätte ich Josefs Papiere nie wieder angefasst.
Wenn ich von Aubrac spreche, meine ich nicht die Gegend in der Lozère, wo es jetzt eine eigene Autobahnausfahrt mit diesem Namen gibt, nein, mein Aubrac ist ein winziges Nest im Haut Languedoc, versteckt im hintersten Winkel eines wilden kleinen Bergzugs, den die Geologen zur Montagne noire zählen, die Geographen zu den Cevennen, aber das ist egal. Der Ort besteht aus einem Dutzend steinerner Häuser, eins am andern, gerade auf der Grenze zwischen dem mediterranen Süden und den Causses, der rauen Hochebene am Rand des Zentralmassivs, wo man glauben könnte, man hätte sich irgendwo in Schwedens unendlichen dunklen, menschenleeren Wäldern verirrt. Ein hartherziger Wind geht da oben, auch im Sommer. Der Wind aber, der durch Aubrac zieht, nur ein Stückchen weiter dem Meer zu, ist le souffle Sud (solange nicht gerade der Mistral von den Hügel stürzt).
Es ist der zweite Januar, wir schreiben das Jahr 2015, aber schreiben werde ich heute nicht. Erzählen, höchstens. Ich bin zeitig aufgewacht und ich gehe gleich nach draußen. Anders als gestern, da haben alle lange geschlafen und sich zu einem späten Frühstück im Château getroffen. Heute sind bei Lili die Vorhänge zu, auch von Sibylle und Bernhard ist nichts zu sehen, die Sonne wartet mit ihrem Aufgang hinter Le Serre (das ist der Berg gegenüber meinem Fenster, eigentlich kein Berg, nur wenn ich hinaufschaue zu der Stelle, an der die Sonne sichtbar werden wird, sieht es aus, als ob da ein Grat verliefe. Ein paar Bäume und Büsche stehen vor dem Himmel, Stechpalmen, Wacholder, genau kann ich sie von hier nicht unterscheiden, aber inzwischen habe ich viel gelernt). Es wird ein klarer Tag werden, vielleicht sogar warm, hier ist alles möglich. Ausnahmsweise frühstücke ich nur kurz, dann nehme ich den Rucksack vom Haken neben der Tür, packe ein paar Äpfel, zwei belegte Brote, eine Flasche Wasser, den Fotoapparat, den wollenen Pullover und den Anorak hinein. Und die Wanderkarte.
Dass ich jetzt hier bin, verdanke ich zum Teil Jonathan, meinem Neffen. Im Sommer war er ein paar Tage bei mir zu Besuch (in München, nicht hier in Aubrac), und hat mir bei der Gelegenheit meine Erinnerungen zum Geschenk gemacht. Geschenke soll man annehmen. Da schwanke ich noch, aber das hat nichts mit Jonathan zu tun.
Josefs Papiere lagen verschnürt in einer Pappschachtel ganz unten in der Truhe, dem eichenen Ungeheuer mit geschnitzten Verzierungen und groben eisernen Beschlägen, dem einzigen Familienerbstück. Es steht in einem Winkel meiner Schlafecke, einer Verlängerung des Arbeitsbereichs im obersten Teil meiner kleinen verschrobenen Dachwohnung, ich kann das gute Stück vom Schreibtisch und vom Bett aus sehen, also immer. Wie das so ist mit Dingen, die man ständig vor Augen hat – es gibt sie nach einer Weile nicht mehr, und wenn mich vor ein paar Monaten jemand gefragt hätte, was ich in der Truhe habe, hätte ich wahrscheinlich gefragt: in welcher Truhe?, und dann nachdenken müssen, was drin sein könnte. Papier, alte Geschichten. Als ich nach der Scheidung hier eingezogen bin, habe ich die Kiste unter die Dachschräge gestellt, es gab nicht viel Auswahl, die Wohnung ist klein, und dort war das Möbel gut aufgeräumt. Es hat sich in die Schräge gebettet und ist verschwunden.
In der Truhe habe ich alles Papier abgelagert, das ich wahrscheinlich lange Zeit nicht mehr anfassen würde. Man sollte so Zeug wegschmeißen, aber mir ist immer der Eichhörnchentrieb dazwischengekommen: vielleicht taugt das eine oder andere noch zur Inspiration, und so hat sich allerhand angesammelt, Ordner und Mappen und Schachteln, dazu der ganze Ehemüll, den mir Christina hinterlassen hat: Fotos, Erinnerungsstücke, Briefe – Sachen, bei denen ich mich immer vor der Entscheidung drücke, ob ich sie fortwerfen soll. Nein, die Briefe werfe ich nicht fort. Mit dem Papierkram ist es besser geworden, seit ich mit einem Computer schreibe, da kann ich endlos Zeug aufbewahren (solange die Kiste nicht abstürzt), aber wenn ich mich von Geschriebenem endgültig trennen soll, ist das immer noch schwer für mich, erst muss ich sicher sein, dass es nie mehr eine Bedeutung für mich haben wird. Bei Josefs Papieren habe ich die Sicherheit nie erreicht.
Jonathan also. Ich hatte noch überlegt, was einen Siebenjährigen interessieren könnte, malen vielleicht oder vorlesen, da hat er die Truhe gesehen, an die er sich nicht mehr erinnert hat, zuletzt war er vor vier Jahren hier gewesen – boa, eine Schatztruhe!, und da war klar, was wir die nächste Stunde tun würden. Der Deckel ist schwer, das alte geschmiedete Schloss, das Ähnlichkeit mit den Türschlössern in Aubrac hat, klemmt, aber zum Heben eines Schatzes gehören Hindernisse. Wir haben uns vor die Truhe gesetzt und die Bündel und Heftordner, die zum Vorschein gekommen sind, erforscht, einen Stapel bunter Ansichtskarten zum Beispiel, die Jonathan begeistert durchwühlt hat – warst du da überall, Onkel Mack?, und zu jeder Karte wollte er die Geschichte hören, und dann sind wir um die Welt gereist und als wir wieder zurück waren, war nur noch die große zugebundene Pappschachtel übrig, ganz unten – sind da noch mehr Postkarten drin?, und sekundenlang, mit einem Widerwillen, wollte ich die Schachtel zu lassen, wollte nicht wissen, was drin war – nein, Jonathan, keine Karten, nur irgendwelches Papier, nichts Besonderes. Alte Geschichten. Und mir ist Josef eingefallen und wie ich seinerzeit in seine Angelegenheiten geraten bin. Oder er in meine, man pfuscht sich immer gegenseitig in die Lebensläufe. Allerdings sind die Spuren, die eine Begegnung hinterlässt, selten auf beiden Seiten gleichmäßig tief, und welche Spuren ich in Josefs Leben gegraben habe, davon habe ich keine Vorstellung.
*
Zuletzt hatte ich an Josef gedacht, als im Radio von einem Armutsbericht der Regierung die Rede war. Ich war überrascht, dass das satte Deutschland einen solchen nötig hat, aber gut, immerhin ein Bericht, wenn man es schon so weit kommen lässt. Ich habe nur mit halbem Ohr hingehört: arm, hieß es, seien soundso viele Menschen im Land und ganz besonders betroffen seien kinderreiche Familien, Alleinerziehende und ein Wanderer. Nicht einmal eine halbe Sekunde verging, bis ich meinen Hörfehler bemerkt und im Geiste korrigiert hatte, aber in diesem kurzen Moment ist Josef vor mir aufgetaucht, wie er – arm, der er nach üblichem Maßstab freilich war – mit aufgepackter Kraxe, in der Linken einen langen Stock, durch Aubracs Kastanienwälder stapft. Eine einsame, gebückte, beladene Gestalt, die im herbstlichen Wald dahinwandert und schleppend zwischen den Stämmen verschwindet. Wie einer, der eine Schuld abzutragen hat. Aber wie kann einer eine Schuld abtragen, die in der Zukunft liegt? Will man so etwas wie Schuld überhaupt gelten lassen?
Von Schuld wird noch die Rede sein. Leider habe ich von Hella kein vergleichbares Bild – von dem Foto an der Wand im Château abgesehen, auch davon muss ich noch erzählen. Ich hätte gern auch an sie eine so lebendige Erinnerung wie an Josef, und gerade zu ihr hätte das Bild des Wanderers gepasst. Ich stellte sie mir bei Josefs Erzählungen immer wie eine Diana vor, die durch die Natur streicht, allein, und erst, seit ich mit Lili über sie gesprochen habe, weiß ich, dass das so war: sie war Diana. Von Josefs anderen Frauen, Gretl, Bettina, Anne, und ich weiß nicht, wer sonst noch in seinem Leben eine Rolle gespielt hat, habe ich noch weniger eine Ahnung. Vielleicht gab es ja jede Menge Göttinnen.
Hella war insofern ein Sonderfall, als ich doch ihre Wirkung auf Josef mitgekriegt habe, auch wenn sie nie zur selben Zeit wie ich in Aubrac war. Wie nahe ich ihr gekommen bin, hat etwas Surreales, denn alles, was ich über sie weiß, habe ich von Josef. Und von Lili natürlich. Auch alles, was Josefs andere Frauen angeht: alle sind sie durch ihn gefiltert, auch meine Gefühle ihnen gegenüber sind es (soweit man Unbekannten gegenüber überhaupt Gefühle haben kann). Das hat Folgen für das, was ich erzähle, weil sich weite Strecken meiner Schilderungen auf Vermutungen und Assoziationen stützen. Das könnte heikel sein, weil ich auch Intimes berichten muss, das gehört zum Verstehen eines Menschen. In erster Linie sogar, nur ganz im Innern ist der Mensch verstehbar, die Ähnlichkeit der Menschen wächst mit der Intimität ihrer Mitteilungen. Es ist nicht so, dass ich das früher nicht geahnt hätte (ich komme noch drauf zurück).
Nach Lilis Ansicht hat Hella mit Josef die Liebe ausprobiert, so hat sie es gesagt. Ich glaube, auch Josef hat da etwas ausprobiert, ich hatte immer den Eindruck, dass er zu dem, was er mit Hella durchmacht, Mut gebraucht hat. Was Hella angeht, hat sie vielleicht noch mehr Mut eingesetzt, aber darüber habe ich von Josef wenig gehört, oder nicht deutlich, und deshalb weiß ich auch nichts darüber, auch hier ist Lili meine Quelle. Er hatte sich schon von Hella getrennt – oder sie sich von ihm, ich kenne ungleiche Versionen, und dass das einmal eine Rolle spielen würde, hätte ich nicht gedacht. Jedenfalls, Josef kam eines Tages mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand zu mir auf die Terrasse mit dem Nussbäumchen: Hör mal, sagte er, da hat einer was über Hella und mich geschrieben, und dann hat er mir aus dem Buch vorgelesen: Plötzlich, als ich die kunterbunten Farben von Hellas Haaren im rotgelben Laublicht aufleuchten sah, liebte ich sie genug, um mich und meine selbstmitleidige Verzweiflung zu vergessen, um zufrieden zu sein, dass ihr etwas bevorstand, was sie für ihr Glück hielt. Ich nahm ihm das Buch aus der Hand, es war Capotes „Frühstück bei Tiffany“, und da stand nichts von Hellas, sondern von Hollys Haaren. Hatte sie kunterbunte Haare?, habe ich ihn gefragt. Knallbunt! war seine Antwort, und er hat gelacht und geblinzelt, ach was, hat er gesagt, kastanienrotbraun, irgendwie so, aber ich seh sie ganz genauso vor mir in diesem – Laublicht, hell und gelb und rot, hier mitten in Aubrac, so gegen die Sonne, schau!
Gut. Ich leihe mir Josefs Erinnerung, auch wenn ich weiß, dass sie eine eigene nie ersetzen kann. Fiktionen und Fälschungen werden sich in Hellas Bild und das aller anderen stehlen. Aber das Bild, wie ich es von Josef zeichne, wird auch nicht frei davon sein, Erinnerungen sind hinterhältig, das Gedächtnis ist ein konstruktiver Prozess, (und auch für Lilis Gedächtnis trifft das natürlich zu, auch wenn es innerhalb einer Familie viel mehr und ganz andere Möglichkeiten des Erinnerns gibt – vielleicht aber auch verführerischere Wege des Verschleierns und Konstruierens): Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug. Diese Sätze stammen aus dem Roman „Also dann bis morgen“ von William Maxwell. Warum bedienen wir uns unserer Fähigkeit zur Manipulation des eigenen Lebens immer nur in Bezug auf die Vergangenheit! Die Gegenwart müssten wir formen, sie ist das einzige taugliche Material für den Geschichtenerzähler. Das Leugnen dieser Möglichkeit – ich meine, das war es, was Josef Hella vorhielt – ist die viel anstößigere Unredlichkeit. Aber es liegt mir fern, Vorwürfe zu machen, das steht mir nicht zu.
Seit ich angefangen habe, mich wieder mit den alten Geschichten zu beschäftigen und alles aufzuschreiben – auch wenn mir bisher kaum etwas gelungen ist –, fliegen mir von überallher die Gründe zu, warum ich es tue. Seither weiß ich, weshalb viele Bücher voller zitierter Sprüche und Mottos sind: sie sind unvermeidlich. Ich kann nicht anders als Zitate überallhin zu streuen, wahrscheinlich könnte ich ein ganzes Buch, das nur von Eigenem und nie zuvor Beschriebenem handelte, Satz für Satz aus Zitaten zusammensetzen und müsste trotzdem auf die eigene Originalität nicht verzichten. Wir sind alle Plagiatoren. Zu den Erfahrungen, die man beim Schreiben macht, gehört die merkwürdige, dass einem wie gerufen Dinge zuschießen, Nachrichten, Gespräche, Bücherstellen und Briefe, die man nur einfügen muss; oft merkt man im ersten Augenblick nicht, wozu sie gehören, sobald man sie aber einsetzt, sieht man, wie sie die ganze Umgebung erhellen.
Je tiefer ich mich wieder in das Thema Josef-Hella-Aubrac hineindachte, desto unwichtiger wurde es, welches Buch ich in die Hand nahm. Romane, Sachbücher, es spielte keine Rolle, immer kamen mir die eigenen Gedanken in klarerer Form entgegen. Josef musste das auch so erfahren haben, in seinen Notizen ist ebenfalls alles voller Zitate und Hinweise. Ich hätte mir einen von seinen Autoren zum Leitstern (und Mottolieferanten) wählen können, Erich Fromm vielleicht, Rilke (Rilke wäre exzellent), Steiner, Nietzsche, man kennt die alle, mehr oder weniger. Josef hat sie alle vorgeführt in seiner Sammlung. Vielleicht Robert Pirsig, Annie Dillard, oder ich hätte mir einen antiken Griechen herbeizitieren können, irgendeinen gescheiten alten Dichter, den Müller der „Winterreise“ vielleicht oder meine Großmutter mit ihren Hausweisheiten, warum nicht. Sie hätten alle eine üppige Ernte versprochen: überall geht es geistreich zu, und jeder von ihnen wäre geschaffen, neben allem Möglichen auch das Universale meiner Erinnerungen an Josef, nachdem sie nun aus ihrem Schlaf erwacht waren, zu bezeugen. Hineingreifen in den Reichtum. Aber ich kann mich nicht zwischen ihnen entscheiden, und jetzt müssen sie alle mit- und durcheinander auftreten.
*
Die erfreulichen Erinnerungen an Aubrac sind in den vergangenen zwanzig Jahren die Ausnahme gewesen, meistens hat Unangenehmes überwogen, Peinliches. Wie oft ein schlimmes Ende alles, was zuvor war, beschmutzt. Auch das ist eine Funktion des Geschichtenerzählers, berechtigt oder nicht, wer will das entscheiden. Sowieso erinnert sich das Fühlen klarer als das Denken. Und schneller. Daher das Unbehagen, als uns die staubige Schachtel in die Hände fiel, aber Jonathan hatte die Schnur schon aufgenestelt, den Deckel aufgehoben und die Heftordner und Notizbücher herausgezogen.
„Was ist das?“
„Alte Geschichten, hab ich doch gesagt. Papier. Nichts Besonderes.“
Als Jonathan längst schlief, lag der Inhalt der Truhe immer noch ausgebreitet auf dem Boden, ich konnte mich nicht zum Sortieren aufraffen, räumte alles wieder zurück, mit Ausnahme der Postkarten, die ich für Jonathan auf die Seite legte. Blieb noch die Schachtel. Ratlos saß ich davor, unentschlossen, ob ich die Notizbücher und Mappen durchschauen sollte. Ich fing an, lustlos darin zu blättern, Jonathan hatte sich von meinem alte Geschichten bestechen lassen und war zum nächsten Fundstück übergegangen, dem Wehrpass mit einem Foto von mir als Achtzehnjährigem, das war lustiger. Ich packte die Papiere wieder in die Schachtel, legte sie zu den anderen Sachen in die Truhe (das Zubinden ersparte ich mir), schloss den mächtigen Deckel und drehte mit Mühe den angerosteten riesenhaften Schlüssel herum.
Zwei Tage später holte meine Schwester ihren Sohn wieder ab. Nachdem ich den beiden nachgewinkt hatte, machte ich einen Spaziergang zum Elisabethmarkt, kaufte eine Zeitung, setzte mich auf eine Bank und fand Josefs Todesanzeige. Zufall, wenn man so will, eigentlich lese ich keine Tageszeitungen mehr, das Fortschreiten der Jahre erlaubt mir immer weniger zeitverschlingende Tätigkeiten, gar wenn sie nicht mit dem Schreiben zusammenhängen, und Todesanzeigen lese ich schon gar nicht. Der Grund, warum ich mir an diesem Tag doch die Zeitung geholt und die Anzeigen durchgesehen hatte, war, dass ich für eine Kurzgeschichte ein Trauermotto brauchte. Die Lektüre war also Teil der Arbeit. Marc Aurels Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnt zu leben, war dann der Fund, mit dem ich ganz zufrieden war.
Da sah ich seinen Namen. Josef Medard d’Alessio, den Namen gibt es nur einmal (sein Urgroßvater war irgendwann um 1850 von Apulien nach Bayern ausgewandert). Ich hatte gehört (von wem – ich weiß es nicht mehr), Josef sei wieder in München und arbeite als Bildhauer, das lag aber Jahre zurück, jetzt, als ich die Anzeige sah, fiel es mir ein. Genau genommen waren es vier Todesanzeigen: Familie, Akademie, ein Künstlerverband und die Stadt. Tatsächlich, die Stadt München hatte Josef eine viertelseitige Todesanzeige gewidmet, allerhand, es war etwas aus ihm geworden: Träger der Medaille ‚München leuchtet – den Freundinnen und Freunden Münchens‘. Das musste ich verdauen. (Die Freundinnen sind neu, dachte ich, früher haben die Freunde gereicht – wie einem Beiläufiges durchs Hirn schießt in einem Augenblick, da man bewegende Nachrichten erhält.) Ein Kontakt zwischen Josef und mir hatte sich nicht mehr ergeben, und das lag gewiss nicht an ihm, er konnte nicht wissen, dass auch ich wieder in München war, ich war damals mit Christina nach Schweden gegangen. Kann gut sein, dass er das nicht mehr mitgekriegt hat. Und ich hatte mich, als ich nach der Trennung wieder zurückkam, um nichts außerhalb meiner vier Wände gekümmert. Nur, dass Josef seine Häuser in Aubrac verkauft hatte, wusste ich aus dem Brief, den er dem Paket mit den Papieren beigelegt hatte.
Der Brief musste noch in dem Karton sein, wenn Jonathan nicht irgendetwas damit angestellt hatte. Da begegnete mir Josef zum zweiten Mal, als Toter. Das beunruhigte mich. Komme ich zu spät?, dachte ich. Aber das gab keinen Sinn. Vielleicht, weil ich langsam in das Alter kam, wo das Wegsterben der Freunde anfängt? Josef war um so vieles älter als ich, da wäre er sowieso vor mir dran gewesen. Trotzdem, die eigene Endlichkeit zeigt sich mit jedem Toten, den man im Leben gekannt hat.
Ich ging hinauf und öffnete die Truhe noch einmal. Der Karton lag obenauf wie ich ihn hineingelegt hatte. Ich nahm die gebündelten Papiere wieder heraus, blätterte etwas sorgfältiger, und nach einigem Suchen fand ich den Brief.
Aubrac, 14. November 1991
Lieber Mack,
wir haben uns eine lange Zeit nicht gesehen. Es ist viel passiert und mir geht es nicht gut. Ich schicke Dir die gesammelten Papiere wieder, es sind noch ein paar Ergänzungen dabei. Mich hat der Geist verlassen, vielleicht willst Du etwas damit anfangen. Du hast mal von einem Sachbuch gesprochen, mach mit dem Zeug, was Du willst, Du bist der Schriftsteller. Für mich ist das Thema zu Ende.
Ich werde Jean-Pierre die Häuser zurückverkaufen, er hat größtes Interesse und inzwischen hat er auch genug Geld, und dann gehe ich weg von Aubrac. Ich muss mich um ein großes Unglück kümmern. Wenn ich wieder eine feste Adresse habe, melde ich mich.
Nochmals Dank für alles, was Du für mich getan hast,
Dir alles Gute, schreib mir nicht.
Bis irgendwann,
Dein Freund Josef
Das bis irgendwann würde er nun auf dem Friedhof einlösen müssen, seiner letzten festen Adresse. Und: Mir geht es nicht gut – das musste wohl so sein, wenn er sich dafür entschieden hatte, Aubrac zu verlassen.
Er hatte recht, wir hatten uns über ein Jahr nicht mehr gesehen – wie die Zeit vergeht, hatte ich noch gedacht, wie im Taumel, Deutschland feierte seine neue Ganzheit, und ich war wegen unseres Buchprojekts ein letztes Mal nach Aubrac gefahren, mehr, weil ich es Josef versprochen hatte als aus wirklichem Interesse. Die haben sich mächtig beeilt mit ihrem Kaufvertrag war sein Kommentar gewesen, als man jäh die Einheit zwischen West und Ost unterschrieben hatte. Wohl hatten wir noch darüber gesprochen, ob ich im nächsten Frühjahr wieder kommen würde, aber mein Leben war ganz anders geworden. Und das seine offenbar auch. Dass er Aubrac verlassen und seine Häuser an Jean-Pierre zurückgeben wollte, fand ich schade, Aubrac ohne Josef war nicht mehr dasselbe, aber es berührte mich nicht mehr so, wie das ein Jahr zuvor noch der Fall gewesen wäre. Sicher hieß es, dass dort irgendetwas vorgefallen sein musste, er sprach von einem großen Unglück. Möglich, dass es einen folgenschweren Streit zwischen ihm und Jean-Pierre gegeben hatte, den beiden Dickschädeln, aber in mir war nicht Raum genug zum Nachdenken. Wenn ein anderer vom Unglück redet, muss man nicht so genau hinhören. Ich wollte nichts als mich um mein großes Glück kümmern. Thema zu Ende – für ihn wie für mich, es hatte sich verlaufen. Schreib mir nicht – das war mir nur recht. Schon als der Brief kam, war mir Aubrac fern, ein knappes Jahr zuvor war ich Christina begegnet, und mit ihr zusammen war alles anders geworden. Neue Ufer. Nichts sonst war wichtig, und Aubrac war in die hinreißende, unerreichbare Fremdheit zurückgeglitten, die es für mich nie ganz verloren hatte. Ein Ort für Märchen und Träume.