Leseproben aus: Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens



S. 69 ff., 394 ff.



[1] In das stumme Haus kommt ein Klavier. Der Junge erwartet, dass die Mutter zu spielen beginnt, stattdessen reinigt sie vorerst nur das Instrument. (S. 69 ff.)

[2] In den Rückblick auf die Jugendjahre ist eine gegenwärtige Geschichte eingewebt, die in Rom, Ortheils zweiter Heimat, spielt. Der Ich-Erzähler (der Autor) gibt Marietta, der Tochter der Nachbarin Antonia, Klavierunterricht. Marietta steht kurz vor der Pubertät. (S. 394 ff.)





[1]

In das stumme Haus kommt ein Klavier. Der Junge erwartet, dass die Mutter zu spielen beginnt, stattdessen reinigt sie vorerst nur das Instrument. (S. 69 ff.)


Hatte ich erwartet, das Reinigen des Klaviers sei die Vorstufe zu Mutters Klavierspiel, so sah ich mich bald getäuscht. Jeden Tag wartete ich darauf, dass Mutter Ernst machen würde, doch sie tat nichts anderes als immer wieder den Deckel des Klaviers zu öffnen und die Tasten erneut so vorsichtig mit Tinktur zu säubern, dass kaum einmal ein richtiger Ton zu hören war.

Am liebsten hätte ich mich selbst an das Instrument gesetzt und seinen Klang ausprobiert, das aber wagte ich nicht, weil ich Mutter den Vortritt lassen wollte. Vater schließlich warf jeden Nachmittag nur einen kurzen Blick auf das Instrument, als wollte er nachschauen, ob es noch da sei und ob es ihm gut gehe. Es war, als sei ein Gast bei uns eingezogen, dem man eine allzu große Nähe noch nicht zumuten könne.

Ich selbst aber ließ das Klavier nicht mehr aus den Augen. Vom ersten Moment seines Erscheinens in un-serer Wohnung an hatte ich zu ihm eine besondere Verbindung, die mit seinem seltsamen Status zu tun hatte. Zum einen schien es zu meiner Mutter und ihrer Vergangenheit zu gehören, zum anderen aber war es ein fremdes Wesen, das in unseren geschlossenen Kreis eingedrungen war und seinen eigentlichen Ort noch nicht gefunden hatte. Stattdessen stand es da wie eine kapriziöse Erscheinung, die man päppeln und pflegen musste, ohne dass es sich durch seinen Einsatz hätte bedanken können. Anscheinend wussten wir nichts anderes mit ihm anzufangen als es zu polieren und anzustarren, während es doch geradezu ideal dafür geeignet war, in unseren stummen Haushalt endlich etwas Leben und Klang zu bringen.


Mit der Zeit ärgerte mich das alles, ich wollte nicht länger warten, und ich begriff nicht, warum Mutter es mit dem Säubern und Polieren derart übertrieb. Der braune, meist geschlossene Kasten glänzte längst so strahlend, dass man sich darin spiegeln konnte. Manchmal robbte ich langsam auf dem Boden zu ihm heran und betastete die beiden kühlen Pedale, ich schob den Deckel etwas nach oben und richtete mich auf Knien in die Höhe, um die Parade der schwarz-weißen Tasten zu überblicken. Es roch ein wenig nach Kirche, nach Geheimnis, Holz und Weihrauch, ich schloss die Augen und sog diesen seltsamen Geruch ein, ja, wahrhaftig, irgendwie hatte dieser Geruch mit den Gottesdiensten zu tun, mit dem Rau-schen der Orgel, den Flügen der Engel, dem Gesang der Gemeinde. Wie schön wäre es, diese Tasten anzuschlagen, welche Festlichkeit hätte so auch in unsere Wohnung einziehen können!


Der große Moment ereignete sich völlig unerwartet an einem frühen Abend, als ich mit Vater in der Küche saß. Wir blätterten und lasen in unseren Zeitungen und Zeitschriften, ich erinnere mich genau, dass es etwas zu dunkel war und nur ein diffus schwaches Oberlicht die Küche erhellte. Die Tür der Küche stand weit offen, als wir Mutter spielen hörten. Es war ein Perlen, ein allmählich immer lauter werdendes Hineinströmen eines großen Klangs in den Flur, als hätte eine starke Erscheinung die Mauern des Schweigens plötzlich durchbrochen und als dränge die lange ausgesperrte Außenwelt endlich triumphal und mächtig herein.

Heute weiß ich, dass ich einen stärkeren und schöneren Augenblick nie erlebt habe. Von einem Moment zum andern verwandelte sich alles: Jetzt spürte ich plötzlich das Leben, da war es, frisch, überwältigend, hinreißend, als wollte es einen mit Gewalt packen und von den bloßen Träumereien befreien! Es war wie eine Offenbarung, die mich sofort berauschte, ja, diese Musik war ein Sog, dem ich ohne jedes Nachdenken folgte, denn sie sang und erzählte von Freiheit und Glück und ließ mich alles Leiden mit einem Schlag vergessen.

Ich starrte Vater an und sah, wie entgeistert er war, sein Mund stand offen und die Augen waren so weit geöffnet, als habe die Musik ihn geschockt, ich sah, wie er ungläubig den Kopf schüttelte, sich durch die Haare fuhr und einen Handrücken gegen die Lippen presste, er wusste nicht, was er tun sollte, dieses Klingen und Strömen schien ihn zu treffen, als müsste er sich dagegen wehren.

All das dauerte vier, fünf Minuten, in denen aus unserer Mietwohnung ein Schloss mit weiten Fluren und großen Sälen wurde, weit hinten, am Ende aller Gemächer und Gänge war der Festsaal, der blaue Salon, in dem uns ein Musikwunder aufspielte, eine geniale Spielerin aus der Fremde, aus Russland oder dem Orient, die eigens gekommen war, nur uns zu verzaubern.

Wir blieben sitzen und rührten uns nicht, ich sah, wie Vater sich schließlich mit beiden Händen am Tisch festklammerte, ein wenig bekam ich es mit der Angst zu tun, so hilflos hatte ich ihn noch nicht gesehen. Stärker als dieses leicht flackernde Angstgefühl war aber das Glück, diese Musik erschien mir instinktiv wie ein Ausweg ins Freie und in jene schönere Welt, von der ich bisher nur in den Gottesdiensten eine schwache Ahnung erhalten hatte. War es schwer, so zu spielen? Oder gelang so etwas bereits nach einigem Üben?


Ich wollte hinüber ins Esszimmer schleichen, als alles zusammenbrach. Ich hörte noch einige Akkorde, dann laute, dissonante Schläge, schließlich einzelne Töne, mal sehr hoch, mal wie ein dröhnendes Pochen aus tiefsten Kellern, als hacke jemand voller Wut und außer Kontrolle auf das Instrument ein. Dann aber war es still, und wir hörten die Mutter schluchzen und krächzen, es hörte sich an wie ein wilder Schreckens-Gesang, als sei sie von Sinnen oder als habe sie sich verletzt. Seltsamerweise passte das alles aber noch zu den lauten Akkorden und Tönen, es klang wie eine zweite, andere Musik, wie eine Musik des Teufels, die sich jetzt unaufhaltsam ihren Weg durch die Engelsklänge bahnte, um sie zu vernichten.

Vater stand sofort auf und gab mir ein deutliches Zeichen, dass ich auf meinem Platz in der Küche bleiben solle, es war klar, ich sollte das Schreckliche nicht sehen, auf keinen Fall. Einen Moment kämpfte ich mit mir, ob ich wirklich in der Küche bleiben sollte, dann aber stand ich auf und ging vorsichtig in den Flur, wo ich mich an der Wand entlang bis zur Tür des Esszimmers drückte. Einen kurzen Blick wollte ich hineinwerfen, nur eine Sekunde, sie konnten mich doch nicht so ausschließen, nein, warum ließen sie mich denn einfach sitzen?


Nie habe ich etwas Schrecklicheres zu sehen bekommen. Mutter saß noch auf dem Klavierhocker, hatte ihn jedoch weit vom Klavier weggeschoben. Mit dem Kopf tief nach unten saß sie zusammengekrümmt und heftig weinend da, während Vater sie zu halten und an sich zu ziehen versuchte. Er bewegte sich nicht, sondern hielt nur ihre Schultern und presste sie unbeholfen, sein Gesicht war starr, wie versteinert, er mahlte mit den Zähnen und hielt die Lippen fest aufeinandergepresst, der Blick aber richtete sich nicht auf Mutter, sondern ging hoch hinauf an die Decke. Mit aller Macht versuchte er sich zu beherrschen, vor lauter Anstrengung traten die Adern an den Schläfen hervor, hellrote Rinnsale waren es, die das glatte Gesicht plötzlich furchten und rapide altern ließen. Warum schreit er bloß nicht?, dachte ich, er soll schreien, Vater, so schrei doch endlich, schrei, so laut Du kannst!

Ich spürte, wie mir eiskalt wurde, ich konnte mich nicht mehr bewegen, aus einem Traum-Schloss war ich in einen düsteren Film geraten, ein fremder Horror hatte von meinen Eltern Besitz ergriffen und sie waren nun nicht mehr zu retten. Ich konnte nicht länger im Flur stehen bleiben und mich verstecken, ich musste ihnen jetzt helfen, deshalb atmete ich tief durch und ging dann auf sie zu, ohne irgendeine Idee zu haben, was ich hätte tun können. Dicht vor ihrer Zweiergruppe blieb ich stehen und ließ die Arme hängen, ich wagte es nicht, sie zu berühren, als könnte ich ihnen etwas antun oder als würde mich ihr Kummer ebenfalls derartig erschrecken wie sie.



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[2]

In den Rückblick auf die Jugendjahre ist eine gegenwärtige Geschichte eingewebt, die in Rom, Ortheils zweiter Heimat, spielt. Der Ich-Erzähler (der Autor) gibt Marietta, der Tochter der Nachbarin Antonia, Klavierunterricht. Marietta steht kurz vor der Pubertät. (S. 394 ff.)


Antonia übrigens verwendet das Wort Pubertät nicht, weil sie es für abstoßend und kalt hält. Stattdessen sagt sie Adoleszenz, was sich im Italienischen wie nostalgisches Latein anhört. Marietta steht also, wie Antonia behauptet, kurz vor dem Eintritt in die Adoleszenz, ich dagegen kann nicht feststellen, dass sie irgendwelche Anzeichen pubertären Verhaltens zeigt.

Von ihrem Schulunterricht her kennt Antonia jedoch angeblich diese Anzeichen genau. Alles beginnt, wie sie behauptet, mit einer häufigeren Abwesenheit des jungen Menschen von zu Hause. Zunächst fällt diese Abwesenheit niemandem so richtig auf, selbst der junge Mensch nimmt sie nicht bewusst wahr. Sie entsteht vielmehr ganz nebenbei, zum Beispiel dadurch, dass er für den Schulweg länger braucht als zuvor. Er macht Umwege, verweilt hier und da, unterhält sich, streift umher. Am Nachmittag bleibt er nicht mehr so lange in der elterlichen Wohnung wie bisher, sondern hat in der Umgebung oder in der Stadt bestimmte Termine. Er schließt sich einer Freundin oder einem Freund an, zu zweit sind sie dann unterwegs, erkunden fremde Gegenden, nehmen Witterung auf, sondieren das Erwachsenen-Leben. Auf schleichende Weise beginnt damit die Entfernung von der Kindheit. Erst sind es nur einige Minuten am Tag, dann werden es Stunden, am Ende sind die jungen Menschen alle paar Nächte unterwegs, um kurz vor Mitternacht völlig überanstrengt wieder zu Hause zu erscheinen.


Für Antonia steht fest, dass auch Marietta schon bald mit solchen Streifzügen und kleinen Expeditionen in unbekannte Gegenden der Stadt beginnt. Die Vorzeichen sind angeblich bereits daran zu erkennen, dass sie jetzt mittags mit einer Schulfreundin von der Schule zurückkommt, mit der sie den Schulweg früher niemals geteilt hat. Allein gehen sie nicht auf Tour!, behauptet Antonia und macht bei solchen Sätzen den Eindruck einer Detektivin, die einem schwierig zu lösenden Fall auf der Spur ist.


Erst richtig angeheizt wurde ihr Spürsinn aber an einem Nachmittag, als Marietta sich zum Tennisspielen verabredet hatte, jedoch nicht, wie vereinbart, zu einer bestimmten frühen Abendstunde wieder erschien. Als die Frist um eine halbe Stunde überzogen war, klingelte Antonia bei mir und bat mich, ihr auf einen Drink Gesellschaft zu leisten. Sie sei nicht nervös, nein, ganz gewiss nicht, aber sie sei doch etwas unruhig, und im Fall einer solchen Unruhe habe sie sich einfach nicht mehr im Griff. Die Folge davon sei manchmal, dass sie auf irgendeine Weise peinlich reagiere, das aber wolle sie diesmal vermeiden, und zwar dadurch, dass sie mit mir zusammen ein Glas Campari trinke.


Ich war einverstanden, schloss die Tür hinter mir zu und ging hinüber in die gegenüberliegende Wohnung, auf deren Namensschild es noch immer eine Familie Caterino mit Sergio, Antonia und Marietta gab. Ich setzte mich zu Antonia in die Küche, wir tranken Campari und versuchten, etwas zu plaudern, währenddessen bereitete Antonia eine Pizza vor, angeblich, um Marietta eine besondere Freude zu machen, in meinen Augen aber, um sich etwas abzulenken.

Ich tat, als machte es mir nichts aus, ihr etwas zu helfen, und schnappte mir einen kleinen Korb mit Zwiebeln und Knoblauch, um eine Portion davon in winzigste Stücke zu schneiden. Auf dem Herd blubberten frische, gute Tomaten vom Markt, das Küchenfenster stand offen, die letzte Abendsonne fiel noch herein. Hätten wir nicht beide laufend an Marietta und ihr Fernbleiben gedacht, wäre es eine friedliche, schöne Szene gewesen, ein Betrachter hätte Antonia und mich sogar für ein Paar halten können, das mit all seinen eingeübten Handgriffen und seiner stillschweigenden Vertrautheit jederzeit ein Paar für eine Pasta-Werbung im Fernsehen hätte abgeben können.

Statt diesen Eindruck zu erhalten, steuerte Antonia jedoch zu den harmonischen Bildern einen Text bei, der von den schwankenden Interessen junger Mädchen, ihrer Orientierungslosigkeit und ihrem angeblichen Hang zu Extremen handelte. Je länger Marietta fortblieb, umso dramatischer und leider auch theoretischer redete Antonia, schließlich erging sie sich in der Schilderung von dubiosen Fällen an ihrer Schule, die alle in einer Katastrophe geendet hatten.


Man kann sich daher vorstellen, wie erleichtert ich war, als kurz vor neunzehn Uhr Vater Sergio anrief und mitteilte, dass Marietta auf dem Rückweg von ihrem Tennis-Spiel bei ihm vorbeigekommen sei und nun auch bei ihm übernachten wolle. Antonia war von ihren fehlgeleiteten furchtbaren Phantasien und Ängsten derart erschöpft, dass sie ohne Gegenrede zustimmte, natürlich könne das Kind bei seinem Vater übernachten, warum nicht?, sie habe sich ein klein wenig Sorgen gemacht, aber, nun gut, sie wolle Mariettas Wünschen nicht im Wege stehen. Das Gespräch dauerte nicht lange und endete mit ein paar Vereinbarungen für den kommenden Morgen, danach legte Antonia das Telefongerät beiseite und fuhr sich mit dem Rücken der rechten Hand über die Augen, ich schaute kurz hin, konnte aber nicht entdecken, dass sie den Tränen nahe war.


Vor uns auf dem Tisch lag auf einem großen Holzbrett ein gewaltiger, gerade erst aufgegangener Hefeteig für die Pizza, auf dem Herd kochten die Tomaten, und auf meinem Platz türmte sich ein Berg mit klein geschnittenen Zwiebeln und Knoblauch. Bereits in dem Moment, als Antonia das Gespräch beendet hatte, wirkte all das jedoch wie Makulatur. Im Grunde wollten Antonia und ich doch gar keine Pizza essen, und im Grunde wollten wir auch nicht kochen. Ich musste lachen und sagte ihr, dass unsere Bemühungen in meinen Augen etwas Rührendes hätten, eigentlich hätte ich nämlich gar keinen Appetit auf Pizza. Antonia begann auch sofort zu lachen und ging dann zum Herd, um die Flamme abzustellen. Danach räumte sie den Teig sowie die Zwiebeln und den Knoblauch beiseite, ich half ihr, die Sachen zu verpacken und in den Kühlschrank zu stellen, doch während wir noch dabei waren, hielt Antonia plötzlich einen Moment inne und sagte: Wie schön, Johannes, jetzt sind wir endlich einmal allein.

Ich hatte alles verstanden, jedes Wort hatte ich gehört, und doch hörte sich das alles in meinen Ohren noch nach etwas anderem an, ja, genau, es hörte sich an wie eine direkte Fortsetzung ihrer nächtlichen Bemerkung: Seit anderthalb Jahren hatte ich keinen Sex!
Durch einen einzigen, auf den ersten Blick unschuldigen Satz herrschte in der Küche plötzlich eine andere Atmosphäre. Wir waren nicht mehr das besorgte und treu sorgende Paar, das für seine Kinder eine gute Pizza zubereitet, nein, wir waren Mann und Frau, die man gerade aus ihren Einzel-Käfigen gelassen hatte, ohne zu bedenken, dass beide eine Weile keinen Sex mehr gehabt hatten.


Ich antwortete nicht sofort, denn mit mir ist es in solchen Momenten immer dasselbe: Ich sage nichts, ich warte ab, was geschieht, ich erlebe eine gewisse, sehr angenehme Unruhe und eine gewisse, sich allmählich steigernde Anspannung, und das alles ist mir lieber als eine rasche und eindeutige Klärung der Situation.

Es hat schon Fälle gegeben, in denen ich einen Abend und eine halbe Nacht damit zugebracht habe, die Steige-rungsphasen einer erotischen Annäherung zu genießen, während ich doch beinahe die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen habe als über ein zu langes Tennis-Match, das ich am Nachmittag desselben Tages im Fernsehen gesehen hatte.

Über Tennis zu sprechen, fällt mir leicht, ja ich glaube sogar, dass ich über Tennis besser sprechen kann als über jede andere Sportart. Antonia hat auch dafür eine Erklärung, und zwar die, dass Tennis eine Sportart für verrückte Einzelgänger und ewige Kämpfer mit immenser Ausdauer sei und eben deshalb genau die richtige Sportart für mich, der ich für meine Romanarbeit doch ebenfalls die Erfahrungen eines verrückten Einzelgängers und die eines ausdauernden Kämpfers bräuchte. Kein Wunder also, dass Tennis mich mehr interessiere als Fußball, Fußball sei eben mehr etwas für Männer mit einem gut ausgeprägten Gemeinschafts- oder Geselligkeits-Sinn wie ihn etwa Sergio, ihr Mann, schon allein dadurch besitze, dass er mit vier Geschwistern groß geworden sei ...


Ich sagte also zunächst nichts, ärgerte mich dann aber, dass ich schon wieder dabei war, in die Rolle des zu-rückhaltenden Beobachters zu schlüpfen. Wegen dieses leichten Ärgers begann ich daher nun doch zu reden, ich sprach davon, dass ich einmal eine Zeit lang Tennis gespielt hätte, es sollte sich so anhören, als wollte ich wieder einmal über das Thema Tennis plaudern, klang nun aber so, als wollte ich auf dem Weg über das Thema Tennis wieder den Faden zum Thema Marietta aufgreifen.

An Antonias Reaktion bemerkte ich, dass sie diesen Faden aber keineswegs aufgreifen wollte, ach, sagte sie, reden wir nicht über Tennis und Marietta, reden wir lieber einmal von Dir!

Von mir?! Wirklich von mir?! Hatte sie das wirklich gesagt und meinte sie das etwa auch so?!


Ich habe bereits erzählt, wie selten es geschieht, dass mich jemand bittet, von mir zu erzählen. Da es aber so selten geschieht, bin ich auch nicht daran gewöhnt, so etwas zu tun. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Restaurant oder in einer Kneipe zusammen mit einem Freund oder einer Freundin gesessen habe und ihnen etwas Privates von mir erzählt hätte.

Wenn ich aber doch einmal von mir erzähle, tue ich das in schriftlicher Form wie zum Beispiel in einem Roman, der von mir handelt. Auch in Briefen und Mails kann ich, wenn auch nicht so gut wie in der Romanform, von mir erzählen. In all diesen Fällen habe ich nämlich das Gefühl, die Steuerung und die Herrschaft über mein Erzählen zu behalten. Beim mündlichen Erzählen aber und beim Anblick eines vielleicht sogar noch nahen Gegenübers ist das nicht möglich. Vielleicht beginne ich in solchen Fällen manchmal noch, etwas von mir zu erzählen, schon nach wenigen Minuten ist das aber meist wieder vorbei, und ich habe eine geschickte Überleitung zu anderen Themen gewählt.


Nein, von mir erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien und ich wegen meiner Stummheit nicht antworten konnte. So gesehen, verfolgt mich meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von meiner Kindheit geblieben sind.



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