Leseprobe aus: Leo Perutz, Der schwedische Reiter



S. 7 ff.








Folgender "Vorbericht" geht dem eigentlichen Roman voran (S. 7 ff.):

Maria Christine, geborene von Tornefeld, verwitwete von Rantzau, in zweiter Ehe vermählt mit dem königlich dänischen Staatsrat und außerordentlichen Gesandten Reinhold Michael von Blohme, eine in ihren jungen Jahren vielumworbene Schönheit, hat um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als Fünfzigjährige, ihre Erinnerungen niedergeschrieben. Dieses kleine Werk, dem sie den Titel Farben- und figurenreiches Gemälde meines Lebens gegeben hat, erschien erst einige Jahrzehnte nach ihrem Tode im Druck. Einer ihrer Enkel machte es zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einer beschränkten Öffentlichkeit zugänglich.

Seinen anspruchsvollen Titel führt das Buch nicht ganz ohne Berechtigung. Die Verfasserin hat in bewegter Zeit ein ziemliches Stück Welt gesehen, sie hat ihren Gatten, den dänischen Staatsrat, auf allen seinen Reisen begleitet und ist sogar nach Ispahan, an den Hof des berüchtigten Nadyr Schach gekommen. Man findet in ihren Erinnerungen manches, was auch dem Leser von heute Interesse abzugewinnen vermag. So in einem der ersten Kapitel einen eindrucksvollen Bericht über die Vertreibung der protestantischen Bauern aus dem Erzbistum Salzburg. In einem späteren Kapitel schildert die Verfasserin den Aufruhr der Buchabschreiber in Konstantinopel, die durch die Gründung einer Buchdruckerei um ihr Brot gebracht worden waren. Sie weiß von dem Treiben der Gesundbeter in Reval und von der gewaltsamen Unterdrückung dieser Schwarmgeistersekte sehr anschaulich zu erzählen. Sie hat – um ihre eigenen Worte zu gebrauchen – in Herculanum die ersten »unter der Erde gemachten Entdeckungen, in Marmor gearbeitete Statuen und Basreliefs«, gesehen, ohne sich freilich der Bedeutung dieser Funde bewußt zu werden, und sie ist in Paris in einer Karosse gefahren, die »ohne Pferde, nur durch ihre eigene innerliche Bewegung« elfeinhalb französische Meilen in nicht ganz zwei Stunden zurückgelegt hat.

Auch mit einigen der größten Geister ihres Jahrhunderts ist sie in Verbindung getreten. Auf einem Maskenfest in Paris lernte sie den jungen Crebillon kennen – es scheint, daß sie kurze Zeit hindurch seine Geliebte gewesen ist. Mit Voltaire führte sie ein langes Gespräch auf einem Freimaurerfest, das in Lunéville stattfand, und sie traf ihn einige Jahre später in Paris wieder, und zwar an dem Tag, an dem man ihn in die Akademie aufgenommen hatte. Auch einige Gelehrte zählte sie zu ihren Freunden, so den Herrn von Réaumur und den Professor für Experimentalphysik, Herrn von Muschenbroeck, der die Leydener Flasche erfunden hat. Und nicht ohne Reiz ist die Geschichte ihrer Begegnung mit dem »berühmten Kapellmeister, Herrn Bach aus Leipzig«, den sie im Mai des Jahres 1741 in der Potsdamer Heiligen-Geist-Kirche die Orgel spielen gehört hat.

Den stärksten Eindruck aber empfängt der Leser aus jenem Teil des Buches, in dem Maria Christine von Blohme in schwärmerischen, doch beinahe dichterisch zarten Worten ihres ihr früh entrissenen Vaters – den sie den »schwedischen Reiter« nennt – gedenkt. Sein Verschwinden aus ihrem Leben und die sonderbaren und widerspruchsvollen Umstände, unter denen dieses tragische Ereignis sich vollzog, haben einen Schatten auf ihre Jugendjahre geworfen.

Maria Christine von Blohme ist – so berichtet sie – in Schlesien auf dem Gutshof ihrer Eltern zur Welt gekommen, und der Adel der ganzen Umgebung hatte sich zu ihrer Begrüßung eingefunden. Von ihrem Vater, dem »schwedischen Reiter«, hatte sie nur ein verschwommenes Bild in ihrer Erinnerung bewahrt. »Er hatte furchterregende Augen«, sagt sie, »aber wenn er mich ansah, da war's mir, als stünde über mir der Himmel offen.«

Als sie sechs Jahre oder etwas darüber alt war, verließ ihr Vater seinen Hof, um sich nach Rußland »unter die düsteren Fahnen Karls des Zwölften«, des Schwedenkönigs, zu begeben, dessen Ruhm zu jener Zeit die Welt erfüllte. »Mein Vater war schwedischer Herkunft«, schreibt sie, »und die Bitten und Klagen meiner Mutter konnten ihn nicht zurückhalten.«

Doch bevor er fortritt, nähte das Kind heimlich ein Säckchen mit Salz und Erde in das Futter seines Rocks. Sie tat das auf den Rat eines seiner beiden Reitknechte, der es ihr als ein erprobtes und unfehlbares Mittel, zwei Menschen für immer aneinander zu binden, empfohlen hatte. – Von diesen beiden Reitknechten des Herrn von Tornefeld ist an einer späteren Stelle des Buches nochmals die Rede: Maria Christine von Blohme erzählt, daß sie von ihnen fluchen und die Maultrommel blasen gelernt habe, doch sei ihr die letzterwähnte Kunst im Leben von keinem Nutzen gewesen.

Einige Wochen nachdem ihr Vater sich zum schwedischen Heer begeben hatte, wurde die kleine Maria Christine nachts durch ein Klopfen an die Fensterladen aus dem Schlaf geweckt. Sie meinte anfangs, es sei »der Herodes, eine Art Märchenoder Gespensterkönig«, vor dem sie sich oftmals des Nachts gefürchtet hatte. Aber es war ihr Vater, der »schwedische Reiter«. Sie war nicht erstaunt, sie hatte es gewußt, daß er kommen mußte, Salz und Erde in seinem Rock zwangen ihn zu ihr.

Geflüsterte Fragen, leise, zärtliche Worte flogen zwischen ihnen hin und her. Dann schwiegen beide. Er hielt ihr Gesicht zwischen den Händen. Sie weinte ein wenig, aus Wiedersehensfreude, und dann auch, weil er sagte, daß er wiederum fort müßte.

Er blieb eine kleine Viertelstunde lang, und dann verschwand er.

Er kam wieder, aber immer nur des Nachts. Manchmal erwachte sie, noch bevor er an die Fensterladen klopfte. Manchmal geschah es, daß er zwei Nächte hintereinander kam, dann wieder vergingen drei, vier oder fünf Nächte, ohne daß er sich zeigte. Niemals blieb er länger als eine Viertelstunde.

So ging es Monate hindurch. Warum die kleine Maria Christine von den nächtlichen Besuchen des »schwedischen Reiters« zu keinem Menschen, auch nicht zu ihrer Mutter, sprach, war ihr später nicht mehr ganz erklärlich. Sie hält es für möglich, daß ihr der »schwedische Reiter« Schweigen auferlegte. Auch mochte sie gefürchtet haben, daß man ihr nicht glauben, ja, daß man sie vielleicht gar verlachen und ihr nächtliches Erlebnis in das Reich der Träume oder der Phantasie verweisen werde.

In derselben Zeit, in der der »schwedische Reiter nachts vor dem Fenster der Maria Christine erschien, brachten schwedische Kuriere, die aus Rußland von der Armee kamen und auf dem Gutshof die Pferde wechselten, Nachrichten über seinen Aufstieg im schwedischen Heer.

Er hatte durch seine Bravour die Aufmerksamkeit des Königs auf sich gelenkt und war zum Rittmeister bei den Westgöta-Reitern und später zum Kommandanten des Småland-Dragonerregimentes ernannt worden. Als solcher hatte er im Gefecht von Golskwa durch sein tollkühnes Eingreifen den schwedischen Waffen den Sieg gesichert. Der König hatte ihn nach dieser Affäre angesichts der Armee umarmt und auf beide Wangen geküßt.

Maria Christines Mutter war betrübt darüber, daß »ihr Herzliebster und Vertrauter sie’s nicht par écrit wissen ließ«, wie es ihm im schwedischen Heer erging. »Aber«, sagte sie, »es ist ihm wohl im Feld nicht möglich, auch nur eine Zeile fortzubringen.«

Dann kam ein Sommertag, ein Tag im Juli, der sich der kleinen Maria Christine für immer ins Gedächtnis geprägt hat.

»Es war um die Mittagsstunde«, schreibt sie vierzig Jahre später, »wir standen, meine Mutter und ich, im Garten zwischen den Himbeerbüschen und den Heckenrosen, dort, wo der kleine Heidengott im Grase lag. Meine Mutter trug ein lavendelblaues Kleid und schalt die Katze aus, die ein Vogelnest geplündert hatte. Die Katze aber wollt’ mit ihr spielen und machte einen Buckel, daß meine Mutter lachen mußte. Da hieß es plötzlich, ein schwedischer Kurier sei auf dem Hof.

Meine Mutter lief fort, um Nachrichten zu hören, und kam nicht in den Garten zurück. Aber eine Stunde später sprachen alle Leute auf dem Hof davon, daß bei Poltawa eine große Schlacht geschlagen worden wär’, der Schwede sei besiegt, der König auf der Flucht. Und dann sagten sie, ich hätt’ nun keinen Vater mehr. Herr Christian von Tornefeld, mein Vater, sei gleich zu Beginn der Schlacht gefallen, eine Kugel hätt’ ihn vom Pferd gerissen und es sei nun schon drei Wochen her, daß man ihn begraben hätt’.

Ich wollt’s nicht glauben. Denn es waren ja noch keine zwei Tage vergangen, seit er an mein Fenster geklopft und mit mir gesprochen hatte.

Spät am Nachmittag ließ mich meine Mutter zu sich kommen.

Ich fand sie in der ‘langen Stube’. Sie trug das lavendelblaue Kleid nicht mehr, und ich habe sie von dieser Stunde an niemals anders als in einem Trauerkleid gesehen.

Sie nahm mich auf den Arm und küßte mich. Anfangs konnte sie nicht sprechen.

‘Kind!’ sagte sie dann mit Weinen in ihrer Stimme. ‘Dein Vater ist im schwedischen Krieg gefallen. Er kommt nicht wieder. Falt’ die Hände und bet’ ein Vaterunser für seine abgeschiedene Seele.’

Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich für die Seele meines Vaters beten, da ich doch wußte, daß er am Leben war.

‘Er kommt wieder’, sagte ich.

Die Augen meiner Mutter füllten sich wiederum mit Tränen.

‘Er kommt nicht wieder’, schluchzte sie. ‘Er ist im Himmelreich. Falt’ die Hände, tu deine kindliche Schuldigkeit, bet’ ein Vaterunser für deines Vaters Seele.’

Da ich sie nicht durch Ungehorsam noch mehr betrüben wollte, betete ich, aber nicht für meines Vaters Seele, denn der lebte ja. Ich sah draußen auf der Landstraße einen Leichenzug, der den Hügel herabkam. Es war nur ein Karren, auf dem lag der Sarg, der Kutscher schlug auf das Pferd ein, und nur ein einziger alter Mann, ein Priester, gab dem Toten das Geleite.

Es mochte wohl ein alter Landstreicher sein, der so zu Grabe geführt wurde. Und für dieses armen Mannes Seele sprach ich das Vaterunser und bat Gott, daß er ihm sollt’ die Seligkeit geben.

Mein Vater aber, der ‘schwedische Reiter’«, schließt Maria Christine von Blohme ihren Bericht, »ist nicht wiedergekommen. Niemals mehr weckte mich sein leises Klopfen aus dem Schlaf. Und wie das möglich war, daß er im schwedischen Heer kämpfte und fiel und in dieser gleichen Zeit so oft des Nachts in unserem Garten stand und mit mir sprach, und wenn er nicht gefallen ist, warum er dann nie wieder kam und an mein Fenster klopfte – das ist für mich mein Leben lang ein dunkles, trauriges und unergründliches Geheimnis geblieben.«

Die Geschichte des »schwedischen Reiters« soll nun erzählt werden.

Es ist die Geschichte zweier Männer. Sie trafen einander an einem bitterkalten Wintertag zu Beginn des Jahres 1701 in eines Bauern Scheune und schlossen Freundschaft miteinander. Und dann gingen sie zu zweit die Landstraße weiter, die von Oppeln durch das verschneite schlesische Land hinüber nach Polen führte.


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