Leseproben aus: Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil I: In Swanns Welt



Die Seitenangaben beziehen sich auf die Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe, st 644




Verzeichnis der Zitate:

S. 53 (Der Erzähler hatte als Kind jeden Abend den innigen Wunsch, dass seine Mutter mit ans Bett käme, um ihm gute Nacht zu sagen. Diese erfüllte ihm die Bitte nur äußerst selten, um "das Kind nicht daran zu gewöhnen" Eines Abends versteckt er sich nach dem Zubettgehen auf dem Flur, um seine Mutter noch einmal zu sehen und wird dabei von seinem Vater überrascht. Der Vater bestraft ihn nicht wie erwartet, sondern veranlasst im Gegenteil die Mutter, die Nacht beim Sohn im Zimmer zu verbringen.)

S. 83 (Die Kirchenfenster von Combray, jenem Ort, in dem der Erzähler seine Kindheit und Jugend verbringt, fesseln die Aufmerksamkeit des beobachtenden Jungen.)

S. 162 (Die Haushälterin Françoise ist die uneingeschränkte Herrin der Küche)

S. 203 (Schlechtes Wetter während des Sommers)

S. 221 (Beschreibung der Stille einer Nachmittagsstunde)




S. 53 f.

(Der Erzähler hatte als Kind jeden Abend den innigen Wunsch, dass seine Mutter mit ans Bett käme, um ihm gute Nacht zu sagen. Diese erfüllte ihm die Bitte nur äußerst selten, um "das Kind nicht daran zu gewöhnen" Eines Abends versteckt er sich nach dem Zubettgehen auf dem Flur, um seine Mutter noch einmal zu sehen und wird dabei von seinem Vater überrascht. Der Vater bestraft ihn nicht wie erwartet, sondern veranlasst im Gegenteil die Mutter, die Nacht beim Sohn im Zimmer zu verbringen.)

(...) Es ist jetzt sehr lange her, dass mein Vater nicht mehr zu Mama sagen kann: ‚Geh doch mit dem Kleinen.' Solche Stunden können nie wiederkehren für mich. Aber seit kurzem fange ich an, wenn ich genau hinhöre, das Schluchzen zu vernehmen, das ich vor meinem Vater mit aller Macht unterdrückte und das erst ausbrach, als ich wieder mit meiner Mutter allein war. In Wirklichkeit hat es niemals aufgehört; nur weil mein Leben jetzt stiller ist, höre ich es von neuem, wie jene Klosterglocken, die den ganzen Tag über vom Geräusch der Stadt überdeckt werden, so dass man meint, sie schweigen, aber in der Stille des Abends fangen sie wieder an zu läuten.

Mama verbrachte damals die Nacht in meinem Zimmer; gerade als ich etwas begangen hatte, woraufhin ich glaubte, das Haus verlassen zu müssen, gewährten meine Eltern mir mehr, als ich jemals von ihnen als Belohnung für eine schöne Tat erlangt hätte. Selbst in Gestalt dieser Gnadenerweisung behielt das Verhalten meines Vaters mir gegenüber etwas Willkürliches und Unverdientes, was sich daraus erklärte, dass es das Resultat mehr einer willkürlichen Anpassung an die Umstände als eines vorgefassten Planes war. Vielleicht verdiente das, was ich, wenn er mich zu Bett schickte, seine Strenge nannte, diesen Namen weniger als die Entschiedenheit meiner Mutter oder Großmutter, denn seine Natur war von der meinen in gewissen Punkten weit verschiedener als die der beiden, und so hatte er wahrscheinlich bis zu diesem Tage nicht erraten, wie unglücklich ich jeden Abend war, während meine Mutter und meine Großmutter es sehr wohl wussten; aber sie liebten mich genug, um mir das Leiden nicht ersparen zu wollen, sie wollten es mich überwinden lehren, um dadurch meine nervöse Empfindlichkeit zu mindern und meinen Willen zu festigen. Ob aber mein Vater, dessen zärtliche Gefühle für mich ganz anderer Art waren, dazu die Kraft gehabt hätte, weiß ich nicht; kaum hatte er begriffen, dass ich Kummer hatte, so sagte er auch schon zu Mama: ‚Geh doch und tröste ihn.' Mama blieb diese Nacht in meinem Zimmer, und offenbar wollte sie mir nicht durch irgendwelche Gewissensbisse diese Stunden verderben, die so ganz anders verliefen, als ich hätte erwarten dürfen, denn als Françoise, die merken musste, dass etwas Ungewöhnliches vorging, da sie Mama an meinem Bett sitzen, meine Hand halten und mich meiner Tränen wegen nicht schelten sah, sie fragte: "Aber Madame, was hat denn der junge Herr, dass er so sehr weint?" antwortete sie: "Er weiß es selbst nicht, Françoise, er ist einfach nervös; richten Sie schnell das große Bett für mich, und dann gehen Sie schlafen." So wurde zum ersten Male meine Traurigkeit nicht mehr als etwas Strafbares angesehen, sondern als ein unverschuldetes Übel, das man offiziell als einen nervösen Zustand anerkannte, für den ich nicht verantwortlich sei; es wurde mir also die Erleichterung zuteil, dass ich keine Bedenken mehr in die Bitterkeit meiner Tränen zu mischen brauchte, ich konnte weinen, ohne schuldig zu sein. (...)


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S. 83 f.

(Die Kirchenfenster von Combray, jenem Ort, in dem der Erzähler seine Kindheit und Jugend verbringt, fesseln die Aufmerksamkeit des beobachtenden Jungen.)

Die Fenster der Kirche waren nie farbenprächtiger als an Tagen, da die Sonne nur wenig schien, so dass man, wenn es draußen bedeckt war, sicher sein konnte, in der Kirche werde es umso schöner sein; das eine wurde in seiner ganzen Größe von einer einzigen Person ausgefüllt, die wie ein Kartenkönig aussah und dort oben unter einem Steinbaldachin zwischen Himmel und Erde ihr Dasein fristete (in seinem blauen, schräg einfallenden Licht sah man manchmal an Wochentagen gegen Mittag, wenn kein Gottesdienst war - zu einer jener seltenen Stunden, wenn die Kirche, wohlgelüftet, leer, menschlich nähergerückt und geradezu luxuriös, mit dem Sonnenschein auf dem reichen Mobiliar beinahe wohnlich wirkte wie die mit Steinornamenten und bunten Glas geschmückte Halle eines Hotels im gotischen Stil - Madame Sazerat einen Augenblick niederknien, nachdem sie zuvor auf dem benachbarten Betstuhl ein gut verschnürtes Paket mit Petit-Fours abgelegt hatte, das sie beim Konditor gegenüber gekauft und die sie zum Mittagessen mit nach Hause nehmen wollte), ein anderes stellte ein mit rosa Schnee bedecktes Gebirge dar, an dessen Fuß eine Schlacht geliefert wurde; es schien mit seinem Reif das Glaswerk selbst vereist und mit einer undurchsichtigen Hagelschicht überzogen zu haben, so dass es aussah wie eine Scheibe, an der hängengebliebene Schneeflocken von irgendeinem Morgenschimmer rosig angehaucht wären (von dem gleichen vermutlich, der die Altarwand mit so frischen Tönen versah, dass es schien, als stammten sie von einem flüchtig von außen einfallenden Licht und nicht aus den für alle Zeit auf den Stein gemalten Farben), alle waren so ehrwürdig, dass man hier und da ihr Alter im Staub der Jahrhunderte schimmern sah und ihr weiches Glasgewebe wie blank und fadenscheinig wirkte. Eines von ihnen war ein hohes Fächerwerk, das aus unzähligen, kleinen, rechteckigen, vorwiegend blauen Scheiben bestand, und das einem riesigen Kartenspiel glich, wie man es einst für König Karl VI. zu seiner Zerstreuung erfunden hatte; aber sei es, dass ein Sonnenstrahl aufgeblitzt war, sei es dass mein Blick selbst durch seine Bewegung, es abwechselnd entzündend und zum Erlö schen bringend, eine gleitende, köstliche Feuersbrunst über das Fenster hintrug - einen Augenblick später hatte es den leuchtenden Changeantton einer Pfauenschleppe angenommen, dann zitterte und wogte es in einem phantastischen Flammenregen, der aus der Hö he der düsteren, felsigen Wölbung kam und an den feuchten Wänden niederrieselte, als sei es das Schiff einer von spitzbogigen Stalaktiten schimmernden Grotte, in die ich meine das Messbuch tragenden Eltern hineinbegleitete; noch einen Augenblick später hatten die kleinen Rautenfenster die tiefe Transparenz, die unverwüstliche Härte von symmetrisch auf einem ungeheueren Brustschild angeordneten Saphiren angenommen, hinter denen man aber, beglückender als alle diese Schätze, ein flüchtiges Sonnenlächeln erriet; es war ebenso deutlich erkennbar in den sanften blauen Strom, mit dem es das Steinwerk badete, wie auf dem Pflaster des Platzes oder dem Stroh, das auf dem Marktplatz liegengeblieben war, und selbst an den ersten Sonnentagen nach unserer Ankunft vor Ostern tröstete es mich darüber, dass die Erde noch nackt und schwarz dalag, durch den historischen Frühling aus der Zeit der Nachfolger Ludwigs des Heiligen, den es auf dem goldenleuchtenden und vergissmeinnichtblauen Teppich aus Glas aufblühen ließ.


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S. 162 f.

(Die Haushälterin Françoise ist die uneingeschränkte Herrin der Küche)

Zu der Stunde, da ich hinunterging, um mich nach dem Küchenzettel zu erkundigen, war das Abendessen schon in der Zubereitung begriffen, und Françoise, den hilfreichen Kräften der Natur gebietend wie in den Märchenspielen, in denen Riesen sich als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gefäßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb an einem Tisch stehen, an welchem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu - das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug - lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbaren Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.

Die arme Caritas von Giotto, wie Swann sie nannte, die von Françoise beauftragt war, sie zu schälen, hatte sie in einem großen Korb dicht neben sich stehen; ihre Miene war jammervoll, als trüge sie alle Leiden der Welt; die leichten Azurkrönchen aber, die die Spargel oberhalb ihrer rosa Halskrause trugen, waren Stern für Stern so fein gezeichnet wie die zu Girlanden geflochtenen Blumen an der Stirn und im Korb der ′Tugend′ von Padua. Inzwischen bereitete Françoise eines jener Hähnchen am Spieß, durch die ihre Verdienste weithin durch Combray ruchbar geworden waren und die, während sie uns bei Tisch vorgelegt wurden, in meiner privaten Vorstellung von ihrem Charakter die Süße vorherrschen ließen, dem Duft des Fleisches entsprechend, das sie uns so schmelzend zart zu bereiten verstand, und der in meiner Phantasie zum spezifischen Duft ihrer Tugenden wurde.

Aber der Tag, an dem ich, während mein Vater den Familienrat wegen der Begegnung mit Legrandin befragte, in die Küche hinunterging, war einer derjenigen, wo die Caritas von Giotto, noch sehr mitgenommen von ihrer vor kurzem erfolgten Niederkunft, nicht hatte aufstehen können; ohne alle Hilfe war Françoise mit der Arbeit im Rückstand. Als ich in die Küche trat, war sie gerade dabei, einem Hähnchen den Garaus zu machen, das in seiner verzweifelten, sehr begreiflichen Gegenwehr, die von der zutiefst empörten Françoise, während sie ihm den Hals unterhalb der Ohröffnung zu durchschneiden versuchte, mit dem Ausruf: "Mistvieh, elendiges!" begleitet wurde, die Sanftmut und schmelzende Güte unserer Dienerin in einem weniger vorteilhaften Lichte erscheinen ließ als am folgenden Tage, wo es in seiner nach Art eines Messgewandes mit Gold inkrustierten Haut und seinem köstlichen, wie aus einem Ciborium rinnenden Saft auf der Tafel figurierte. Als es endlich tot war, wischte Françoise das Blut auf, das ihren Groll offenbar nicht hatte ersäufen können; vielmehr bekam sie im Gegenteil einen erneuten Wutanfall, und mit einem Blick auf den Leichnam des endlich erledigten Feindes rief sie noch einmal: "Mistvieh, elendiges!" Bebend ging ich die Treppe hinauf; ich hätte am liebsten gesehen, Françoise wäre auf der Stelle entlassen worden. Aber wer hätte mir dann so schöne heiße Wärmflaschen in mein Bett gelegt, wer einen so duftenden Kaffee bereitet, und wer ... schließlich solche Poulets? ... Tatsächlich fanden sich alle wie ich mit solcher berechnenden Feigheit ab.


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S. 203 f.

(Schlechtes Wetter während des Sommers)

Wurde das Wetter endgültig schlecht, so mussten wir nach Hause zurückkehren und dort bleiben. Hier und da in der Ferne schimmerten dann in der Landschaft, die dunkel und feucht dem Meere glich, vereinzelte Häuser auf, die an einem in Nacht und Nässe versinkenden Hügel angeklammert hingen, wie kleine Boote, die ihre Segel eingeholt haben und unbeweglich draußen auf offenem Meer den neuen Tag erwarten. Aber was machte schon der Regen, was machten die Unwetter aus! Im Sommer war das schlechte Wetter nur eine vorübergehende, oberflächliche Laune des darunter fest und beständig weiterlaufenden schönen Wetters, das, ganz verschieden von dem unbeständigen flüchtigen des Winters sich fest auf der Erde niedergelassen hatte in den dichten Blättern, von denen der Regen abtropfen kann, ohne sie in ihrem zäh beständigen Glück zu treffen, und das für die ganze Jahreszeit bis in die Dorfstraßen hinein an den Mauern der Häuser und Gärten seine Wimpel aus violett und weißer Seide aufgehängt hat. In dem kleinen Salon sitzend, in dem ich die Stunde vor dem Abendessen mit meiner Lektüre verbrachte, hörte ich, wie das Wasser von unseren Kastanienbäumen tropfte, doch ich wusste, dass der Regenschauer ihre Blätter nur mit glänzender Nässe überzog, dass sie aber doch mit Sicherheit dableiben würden als Unterpfand des Sommers während der ganzen Regennacht, um die Beständigkeit de schönen Wetters zu garantieren; dass es ruhig mochte, da morgen doch über der weißen Mauer von Tansonville in so großer Zahl wie zuvor kleine herzförmige Blätter wogen würden; und ohne Trauer sah ich die Pappel in der Rue de Perchamps dem Unwetter mit verzweifelten und flehentlichen Gebärden begegnen; ohne Trauer auch hörte ich in der Tiefe des Gartens den letzten Nachhall des Donners in den Fliederbüschen grollen.


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S.221 f.

(Beschreibung der Stille einer Nachmittagsstunde)

In der Rue de l'Oiseau kamen wir an dem alten Gasthaus zum 'Oiseau flesché' vorbei, in dessen geräumigen Hof vorzeiten die Karossen der Herzoginnen von Montpensier, von Guermantes und Montmorency einfuhren, wenn irgendwelche Streitigkeiten mit Pächtern oder Pflichten der Repräsentation sie nach Combray führten. Wir gelangten auf den Wall, zwischen dessen Bäumen der Glockenturm von Sankt Hilarius sich zeigte. Dort hätte ich mich hinsetzen, den ganzen Tag lesen und den Glocken lauschen mögen; denn es war dort so schön und so still, dass der Stundenschlag nicht eigentlich die Stille des Tages durchbrach, sondern sie vielmehr von allem befreite, was ihren Inhalt ausmachte, und dass der Glockenturm nur mit der lässigen und gepflegten Pünktlichkeit einer Person, die nichts weiter zu tun hat, im richtigen Augenblick aus der Fülle des Schweigens die paar goldenen Tropfen presste und niederfallen ließ, die die Hitze dort langsam und dem Laufe der Natur gemäß hatte anwachsen lassen.


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