Leseproben aus: Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis



S. 43 f., 103 ff.



[1] Ransmayr schiebt in seinen Text einige Exkurse ein, in denen er das Geschehen in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt (S. 43 f.)

[2] In das Logbuch schreiben nicht nur die Kommandanten. Hier ein Eintrag des aus Tirol stammenden Jägers Johann Haller. (S. 103 ff.)






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Ransmayr schiebt in seinen Text einige Exkurse ein, in denen er das Geschehen in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt (S. 43 f.)

Erster Exkurs

Die Nordostpassage oder der weiße Weg nach Indien - Rekonstruktion eines Traumes


Rings um den einsamen Scheitel des Nordpols stehen in der Form von Steinpyramiden die Markzeichen an jenen Punkten, bis zu welchen der rastlose Unternehmungsgeist der Menschen vorgedrungen ist. In seinem Zenith schwebt die geringe Möve, dem harpunenverfolgten Geschlecht der Robben gönnt er auf seinen Eisflößen eine sichere Freistätte des Lebens; - nur als Entdeckungsziel hat er sich bisher unnahbar erwiesen.

Wie jede Entwicklung nur allmählig fortschreitend zu größeren Zielen reift, so hat sich auch die schwache kosmogenetische Dämmerung nur langsam ausgebreitet, von der homerischen Erdscheibe aus über das Land der Hyperboräer; erst nach Jahrtausenden überwand der Wissensdrang die Schrecken des Nordpols, mit welchen die Araber schon Sibirien erfüllt dachten. Rings um das sonnige Morgenland lag die Welt Jahrtausende unter Wahnbegriffen und Fabeln begraben, welche nur die ethische Erhebung der ältesten Dichterphilosophen der naiven Trivialität alles Unreifen entriß.

Kein Hauch der Wahrheit regte sich in der vom Kastengeist beherrschten Welt und scheuchte die Trugbilder von versengender Hitze, tödtendem Froste, steil abfallenden Meeren, von welchen es für den Schiffer keine Rückkehr gab, von unheildrohenden Wind- und Meeresgöttern und goldbewachenden Ameisen. Ruhte ja die Erde selbst isolirt in dem endlosen Raume, auf ihren Bergessäulen die krystallene Himmelskugel, - sie selbst aber ohne Gleichgewicht, weil überlastet durch die Pflanzenfülle der Tropen gegenüber nordischer Dürftigkeit. Solche Voraussetzungen waren es, die nachher von religiösen Dogmen überwuchert, dreifache Ringmauern, welche Jahrtausende nicht überstiegen, um den engen Kreis der Erkenntnisse zogen ...

Erst als man die Kugelgestalt der Erde erfaßt hatte, trat die theoretische Begründung der Klimate, der noch sehr vage Zonenbegriff auf, welchem Pytheas der Massilier vier Jahrhunderte vor Christus durch die Lehre vom Polarkreise die erste wissenschaftliche Verschärfung gab. Fast gleichzeitig schuf Alexanders Zug nach dem Wunderland Indien ein Paradies des Handels und der Schiffahrt, zu dessen Erreichung 1800 jahre später selbst der verkehrteste Abkürzungsweg nicht gescheut werden sollte - der durch das Eis.
Julius Payer


Während in meiner Vorstellung die Admiral Tegetthoff die ersten Treibeisfelder unter Dampf passiert und Josef Mazzini in einer Linienmaschine der Scandinavian Airlines grellweiße Wolkentürme unter sich aufragen sieht, lasse ich mich sachte zurücksinken in das Dunkel der Zeit und gleite durch die Jahrhunderte hinab zu den Anfängen einer Sehnsucht. Denn als die italienischen Matrosen der Tegetthoff die Segel setzten, hatte die abendländische Seefahrt einen ihrer längsten Träume noch immer nicht zu Ende geträumt: Irgendwo entlang der sibirischen Polarküste, immer nordöstlich, mußte ein kurzer, packeisgesäumter Seeweg nach Japan, China und Indien zu finden sein, eine Durchfahrt vom Atlantischen in den Stillen Ozean - die Nordostpassage.

Aber bis zum Jahre 1872 waren schon ganze Flotten im Packeis verschwunden, ohne eine nordöstliche Durchfahrt gefunden zu haben. Die Chronisten hatten mit ihren Aufzeichnungen von Katastrophen im Eis Folianten gefüllt, hatten von Schiffen berichtet, die mit Handelsgütern, Geschenken' schweren Kanonen und Empfehlungsbriefen an die Kaiser von Japan und China ausgelaufen, nirgendwo angekommen und niemals zurückgekehrt waren. Schließlich hatten selbst die Chronisten nicht mehr gewußt, wie viele Seeleute auf der Suche nach der nordöstlichen Route umgekommen waren. Tausend Tote? Tausendvierhundert oder mehr? - Die Statistik des Untergangs blieb stets widersprüchlich und unvollständig, ein vergeblicher Versuch, das Entsetzen und die Ungeheuerlichkeit dieses mythenverzauberten Weges in Zahlen zu fassen. (In den Schreibstuben war man in Zuordnungsschwierigkeiten geraten: Eine Walroßjägerflotte, die festgefroren im Packeis immer weiter nordöstlich driftete, noch über das sibirische Kap Tscheljuskin hinaus, und dann zwischen Preßeiswällen zerdrückt wurde und sank - waren die Toten und Schiffbrüchigen eines solchen Katastrophenfalles als Opfer der Nordostpassage, oder bloß allgemein als Opfer des Eismeeres zu führen?) Die Schiffe versanken. Die Chronisten schrieben. Der arktischen Welt war es gleich.

Wer nach der Vorgeschichte des nordöstlichen Traumes sucht, wird nicht Jahrhunderte, sondern Jahrtausende zurückdenken müssen und noch jenseits des Jahres Null christlicher Zeitrechnung Bilder aus einem kalten Meer finden; er wird sich die Nordfahrten Pytheas′ des Massiliers oder Himilkos des Karthagers vorzustellen versuchen, die eichenhölzernen Drachenboote der Normannen und ihre Steuermänner - Bjarne Herjulfsson und Leif Eiriksson etwa, die schon um die Wende des ersten Jahrtausends die Küsten Nordamerikas teils segelnd, teils rudernd erreicht hatten; er wird sich an Eirik den Roten, den Herrn Grönlands und Islands, erinnern, an Ohthere, der um das Nordkap und über das Weiße Meer bis ins Land der Bjarmer, nach Sibirien, gesegelt war, oder an Eirik Blodöks, die Blutaxt, und andere, die Spitzbergen und hochnordische Länder lange vor den Entdeckern der Neuzeit betreten hatten ...


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[2]

In das Logbuch schreiben nicht nur die Kommandanten. Hier ein Eintrag des aus Tirol stammenden Jägers Johann Haller. (S. 103 ff.)

9. November, Samstag: Wind und Nebel. Ich bin vor einiger Zeit an »Gliederreißen« erkrankt. Was soll ich mir bei einer solchen Krankheit im hohen Norden denken? Die dreimonatige Polarnacht ... Unter dem Matrosentumult leben oder sterben. Mich tröstet die gute Hoffnung, die ich in den Doktor setze. Die Schmerzen hat er mir gleich genommen und nach vier Tagen konnte ich schon vom Bett aufstehen und bin schnell wieder zum Gehen gekommen.
10. Sonntag: Wind und Nebel. Ich bin marod.
11. Montag: Wind und Schneetreiben. Ich bin marod.
12. Dienstag: Wind und Schneetreiben. Marod.
13. Mittwoch: Wind und Schneetreiben. Marod.
14. Donnerstag: Wind und Schneetreiben. Marod.
15. Freitag: Windiges Wetter. Ich marod.
16. Samstag: Helle und Wind. Ich marod.
17. Sonntag: In der Nähe des Schiffes hat es heute einen Krawall gemacht. Ich marod.
18. Montag: Helles Wetter. Beim Schiff hat sich ein Bär gezeigt, er ist aber nicht erlegt worden. Ich bekomme vom Doktor die Erlaubnis auf Deck zu gehen, aber nur einen Augenblick und dann gleich wieder zurück und ins Bett.
19. Dienstag: Eine Eispressung drohte uns schon wieder mit dem Zerdrücken des Schiffes. Ein schlechter Trost für mich, im Krankenstand.
20. Mittwoch: Helles Wetter. Temperatur -29°R. (-36°C, Anm.) Die Gefahr, daß das Schiff zerdrückt wird, besteht fort. Ich marod.
21. Donnerstag: Helles Wetter. Abermals eine große Eispressung. Beim Schiff hat es einen Eishaufen aufgeworfen, so groß wie ein großes Haus.
22. Freitag: Helles Wetter. Das Eis ziemlich ruhig beim Schiff. Meine Krankheit bessert sich.
23. Samstag: Das Eis ruhig. Ich habe mit Aufbietung aller meiner Kräfte ein Paar Filzstiefel gesohlt.
24. Sonntag: Helles Wetter. Um 11 Uhr Kirchenvortrag. Ich bin wieder zum Gottesdienst gegangen.
Johann Haller


Der December kam, doch ohne die Lage zu verändern. Immer einsamer ward unser Leben, - es gab keinen sinnlich wahrnehmbaren Wechsel der Tage mehr, nur die Aufeinanderfolge des Datums und eine einzige Unterscheidung der Zeit, die vor und nach dem Essen und die des Schlafes ... wir hockten in unseren einsamen Zellen am Lager, dem Sekundenschlage der Uhr zu lauschen. Langsam krochen uns ihre achtundsiebzig Millionen Schläge in zwei und einem halben Jahre dahin; unbetrauert enteilte ihr bleierner Flug, weil ohne Wert für unsere Zwecke.
Julius Payer


Nichts, nichts! haben sie erreicht. Immer wieder brüllt sie das Eis an, der Tod. Die Temperatur fällt auf minus 40, 45, 48 Grad Celsius, und ihre Umgebung versinkt in einer Dunkelheit, in der sie einander auf zwei, drei Schritt nicht mehr erkennen können. Die Kajütenwände sind längst zolldick vereist, es ist ihre eigene Körperfeuchtigkeit, die kondensiert und erstarrt. Selbst im Mannschaftsraum, den sie mit ihrem Meidingerschen Kohleofen heizen, steigt die Temperatur am Boden nicht mehr über den Gefrierpunkt. In Kopfhöhe ist es heiß. Aber bis zu ihren Kojen dringt die Wärme nicht vor. Unter den Schlafstellen bilden sich kleine Gletscher. Die Wolldecken frieren fest. Die Gewohnheit, sich alle zwei Wochen im Baderaum zu säubern, haben sie aufgegeben; die dadurch entstehende Feuchtigkeit fördert nur die Vereisung im Inneren des Schiffes, und zu oft ist es vorgekommen, daß einer nackt aus dem lauwarmen Wasser springen mußte, wenn eine plötzliche Eispressung ihnen mit dem Untergang drohte. Nur mit einem übergeworfenen Pelz oder nackt in diese Kälte hinaus - den schönen Farbenkranz, der sich nach den Vorstellungen Payers dabei um ihren Körper hätte bilden sollen, haben sie nicht gesehen. Aber sie keuchen beim Atmen. Jetzt entkleidet sich keiner mehr. Maschinist Krisch hustet Blut. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht einige von ihnen mit den Zeichen des Skorbuts in den Kojen liegenbleiben; das Zahnfleisch wird weiß und beginnt zu wuchern, aus den Hautporen sickert Blut, dann windet sich einer in Magenkrämpfen, und die Müdigkeit ist so groß. Sie haben zu wenig Frischfleisch; ein seltener Glücksfall, wenn es ihnen gelingt, in dieser Dunkelheit einen Bären zu erlegen. Ihre hundert Flaschen Zitronensaft, das Dörrobst und Konservengemüse und die Moltebeeren reichen nicht gegen den Skorbut. Wenn sie Jagdglück haben, trinken sie Bärenblut.

Drei Tage vor Weihnachten löst Harpunier Carlsen beim Laden seines Gewehres einen Schuß aus. Die Kugel schlägt im Achterhaus, im Munitionsdepot, ein, zwanzigtausend Patronen haben sie an Bord. Weyprecht und Krisch stürzen zum Achterhaus, dort explodieren die ersten Patronenpacken, und reißen die noch unversehrten Packungen heraus. Das Feuer bleibt' klein. Sie können es löschen. Weyprecht verliert über Carlsens Unachtsamkeit kein Wort. Aber unter den Vorwürfen der anderen wird der Eismeister noch schweigsamer. Was denn nun, sagt Klotz, der Sonntag sei dem Herrn Harpunier so heilig, daß er nicht einmal mehr auf Bärenjagd gehen und Felle abziehen wolle, und jetzt, am Samstag, möchte er gleich das ganze Schiff in die Luft sprengen. Am 24. Dezember, dem Eis ist der Abend nicht heilig, schon wieder prasseln die Planken der Tegetthoff unter dem Druck, öffnen sie die Geschenkkisten des Hamburger Proviantlieferanten Richers und der Marine: Sechs Flaschen Cognac, zwei Flaschen Champagner, Tabak, hundert Zigarren, Gebäck, Spielkarten, alles eingewickelt in Münchner Bilderbögen, die Fotografie eines Christbaumes und sechs Mädchenfiguren aus Porzellan; Tänzerinnen, zierliche, zur Pirouette erhobene Arme, rosa glasiert die Schenkel, der Mund tiefrot; jedes Mädchen in einer anderen anmutigen Pose. Richers hat ihnen auch ein plattdeutsches Buch dazulegen lassen - Swinegel. Der Schweinigel.

Reden sie viel über Frauen? Oder haben sie manchmal das Verlangen, sich aneinanderzulehnen, einander in die Arme zu nehmen? Wo sie herkommen, wird eine solche Liebe hart bestraft. Aber welche Gesetze gelten im Eis? Genügt es ihnen, daß der Doktor oder die Krankenwache über ihre Stirn streicht, wenn sie im Fieber liegen? Ich weiß es nicht.

Wenn die Disziplin verlorengehe, sagt ihnen Weyprecht, dann sei alles verloren.

Nirgends auf der Erde kann ein Exil so vollständig sein wie hier, unter dem furchtbaren Triumvirat: Finsterniß, Kälte und Einsamkeit. Selbst Engel müßte das Verlangendes Wechsels befallen; wie sehr muß die Sehnsucht Menschen ergreifen, welche Allem entrissen sind, was ihre Wünsche reizt und durch die Phantasie verschönert wird. Wahr ist endlich der Ausspruch Lessing's: »Wir sind zu sehr an den Verkehr mit dem anderen Geschlechte gewöhnt, als daß wir bei gänzlicher Vermissung des Reizenden nicht eine entsetzliche Leere empfinden würden.«
Julius Payer


In der Neujahrsnacht, das Eis ist ruhig, entzünden sie Teerfackeln und umschreiten ihr Schiff; eine Lichterprozession. Dann nehmen die Matrosen Aufstellung im Eis und singen für die Offiziere, Lorenzo Marola hat die schönste Stimme von allen, und Pietro Fallesich begleitet sie auf der Harmonika.
Solo e pensoso i più deserti campi
vo mesurando a passi tardi e lenti,
egli occhi porto per fuggire intenti,
ove vestigio uman l′arena stampi ...
Aber nein, was sie gesungen haben, ist nicht überliefert, und nicht überliefert auch, was auf jener Fotografie zu sehen war, die sie dann mit ein paar Stückehen Schiffszwieback in eine Blechbüchse gesteckt und durch ein Wasserloch im Meer versenkt haben: Diese Büchse sei das alte Jahr, es sinke hinab zum Grund, vergessen seien alle Enttäuschungen, und mit drei Hurras begrüßen sie das Jahr 1873. Payer läßt eine Flasche Champagner holen, der Inhalt ist gefroren, läßt die Flasche zerschlagen, und dann klirrt in jedem Glas ein blaßgelber Eissplitter, und dann setzt sich Elling Carlsen, der so viele Winter in dieser Wildnis überlebt hat, ans Logbuch und schließt bedächtig, feierlich fast, das Journal ihres bisherigen Unglücks:
Vi önsker at Gud maa voere med os i det nye aar,
da kan intet ucere imod os.
Wir wünschen, daß Gott mit uns sei im neuen Jahr,
dann kann nichts gegen uns sein.



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