Leseproben aus: Gustav Regler, Das Ohr des Malchus



S. 40 ff., 217 f., 368 f., 444 ff., 503 ff.



[1] An der Front des Erstens Weltkriegs, in der Picardie, nordöstlich von Paris (S. 40 ff.)

[2] 1933. Regler ist mit Marieluise Vogeler, der Tochter des Worpsweder Malers Heinrich Vogeler, die später seine Frau wird, in Paris. Marieluise hat den Drang nach Hause zu fahren. (S. 217 f.)

[3] Im Spanien des Bürgerkriegs, 1936. Regler drängt es, in die Internationale Brigade aufgenommen zu werden, um die Republik gegen Franco zu verteidigen. Kolzow, sowjetischer Verleger und Parteifunktionär, begleitet ihn. In Albacete, südöstlich von Madrid, befindet sich das Hauptquartier, Regler meldet sich bei André Marty, dem Befehlshaber. (S. 368 f.)

[4] 1939. Regler ist wieder in Frankreich. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt will er sich als Freiwilliger der französischen Armee zur Verfügung stellen. Aber man sperrt ihn, zusammen mit anderen in ähnlicher Lage, in das Internierungslager Vernet, nahe der Pyrenäengrenze. Es muss nur um Weniges besser gewesen sein als ein KZ. (S. 444 ff.)

[5] Sommer 1945, Exil in Mexiko (S. 503 ff.)




[1]

An der Front des Erstens Weltkriegs, in der Picardie, nordöstlich von Paris (S. 40 ff.)

Wir lebten in einer Mondlandschaft; sie war unpersönlich, durchzuckt von der angstgeborenen Geometrie der Gräben, mit verwesenden Körperteilen bestreut, dann brutal flachgewalzt, ein neutrales Land, mit dem kein guter Geist mehr zu tun haben wollte. Wollte er aber mit uns etwas zu tun haben? Ich zweifele daran, es war zu wenig Sinn in dem, was wir taten. Wir schleppten sogenannte "Spanische Reiter" in der Nacht vor die Linien, die wir nicht unterscheiden konnten, und warfen sie irgendwo in die Trichter. Wir saßen in den hölzernen Unterständen und töteten Ratten. Zerrissene Telefonleitungen wurden geflickt, tief unter den Wohnlöchern gruben wir Minenschächte, mit denen wir die französischen Unterstände abquetschen wollten. Wenn die Horchgeräte uns verrieten, daß die Franzosen einen ähnlichen Stollen vortrieben, der tiefer als der unsere lag, dann flüchteten wir. Kurz danach gaben die Franzosen ihre Arbeit auf. Wir waren genauso dankbar, wie wir vermuteten, daß es die Franzosen seien.

Keiner dachte an Angriff. Wenn ein solcher von weit hinten befohlen wurde, so sabotierte man ihn eine ganze Weile. Drang man im Bataillonskommando auf einen Angriff, so bestanden wir auf Artillerievorbereitung. Wenn diese kam, mußten wir ihr folgen. Wir überrannten oft das Gegenüber, zwei Tage später kam der Gegenstoß, wir verloren ein paar Leute, die wir nicht begraben konnten, zogen uns in die alten Stellungen zurück, und alles war wieder wie vier Tage vorher.

Die schwerste Nervenprobe war das Sitzen unter der Erde; der Sand rieselte leise, manchmal brach eine Planke. Ich ging oft hinaus und riskierte, von einem der handgroßen, zackigen Eisenstücke zerschnitten zu werden. Einmal kam auch eine Ratte die Treppe heraufgeholpert, schnupperte unruhig mit rosiger Nase in die schwefelgeladene Luft und lief dann offen durch den Längsgraben. Ich ließ sie laufen.

Man kommandierte uns ins Aisne-Tal, um eine zerstörte Brücke wiederherzustellen; die Umgebung mußte noch bei Tageslicht beaugenscheinigt werden, um zu bestimmen, wo ein Knüppeldamm gelegt werden könnte. Eine verirrte Granate sirrte in unsere Richtung und explodierte nahbei. Als wir vorrückten, stieß der Hauptmann auf einen eben geköpften Mann, der zu unserem Vortrupp gehört haben mußte. Ich sah nur die Wunde; sie erinnerte mich an die Märtyrerbilder der mittelalterlichen Meister und an die Sorgfalt, mit der dort immer die Anatomie des angeschnittenen Halses gemalt worden war.

Der Hauptmann lehnte sich an einen Baum und übergab sich. Dann befahl er, den Toten zu begraben und es für heute genug sein zu lassen.

Wir legten in acht Nächten Arbeit den Knüppeldamm durch die sumpfigen Ufer hindurch, in weiteren acht Nächten stellten wir die Brücke wieder her, am nächsten Tag entdeckte ein französischer Flieger die Veränderung, am Abend legte eine kleine Kanonade unsere Arbeit wieder in Trümmer; die Kanonade dauerte nur dreißig Minuten.

Ich rettete mich nach einem Monat in das tägliche Wagnis: Wenn irgendeiner der Sergeanten oder der ängstlichen Feldwebel nach einem Freiwilligen rief, meldete ich mich. Es kam vor, daß ich aufstand in der Höhle, ans Licht kroch und in die Richtung des Befehlsstandes schrie, ob einer nach mir gerufen habe.

Ich wurde lachend beruhigt. Oft war etwas zu tun, das man nicht jedermann zumutete. Ich nahm alles an. Es war die Flucht nach vorn.

Ich horchte Gespräche ab, die der Feind führte, und übersetzte sie den Kompanieführern. Wenn das fremde Idiom durch die nebelgefüllte Luft an meine Ohren schwemmte, fühlte ich: Das ist die Wand! Die Vorstellung würgte mich. Es kam vor, daß ich so stark an diese Wand dachte, daß ich vergaß, was der Franzose auf der anderen Seite gesagt hatte.

Ich wurde ein sogenannter Held in diesen Tagen. Der Feldwebel gab mir einen ganzen Sack voll Leuchtpatronen. Der Feind sei nervös, so drückte sich der Feldwebel aus; in Wirklichkeit war er selbst von Angst gefoltert. Er war besonders freundlich.

"Schießen Sie so viele wie möglich ab!" sagte er. "Lassen Sie's überhaupt nicht Nacht werden! Ich hasse Nacht."

Ich grüßte verschlafen. Der Feldwebel erzählte mir nichts Neues; die Sappe, von der gewöhnlich die Leuchtpatronen abgeschossen wurden, war eine Todes-Sappe. Keiner war von dort zurückgekehrt, wenn er wirklich allen Befehlen treu gefolgt war. Nach einer Stunde Beobachtung wußten die von drüben, woher das plötzliche Licht kam; und lag ihnen daran, daß Nacht war, dann benachrichtigten sie ihre Mörserkanoniere, und diese schossen in wenigen Minuten den Lichtstreuer zu Klumpen.

"Ich glaube, sie wollen durchbrechen", sagte der Feldwebel und biß seine Lippen. Durch die Wand, dachte ich. Die Wand wird fallen!

Ich schoß einmal nach rechts, einmal nach links. Die Patronen explodierten als grüne Sterne, die langsam sich versprühten und niedersanken ins schwarze Trichterfeld. Ohne auf die bellenden Mörser zu achten, schoß ich meinen ganzen Vorrat ab.

Plötzlich rief mich jemand an. Ich lauschte zum Feind hinüber. "Chargez", hörte ich eine Stimme sagen. "En deux minutes", sagte die Stimme noch, da rief wieder jemand nach mir. Ich wandte mich um und sah einen Boten meiner Kompanie, der mir neue Patronen brachte. "Der Feldwebel ist Feuer und Flamme für dich! Hier schickt er mehr!" Der Bote schob seinen Sack an den Rand der Sappe. Dann flüsterte er: "Schieß nicht, bis ich hinten bin. Bitte!"

Die ungewohnte Höflichkeit erschütterte mich. Soldaten bitten nicht. Ich lehnte mich über den Graben und preßte die Hand des Mannes; sie war feucht von Angstschweiß. "Geh schon", flüsterte ich, "aber schnell, sie greifen an."

Im selben Augenblick rasten die Maschinengewehre. Der Mann hob sich leicht von der Erde, riß erschrocken die Augen auf und sank stumm in die Erde zurück. Er war nur noch ein Teil von ihr. Um mich schwirrten die Kugeln wie giftige Wespen. Ich erkannte nun, daß sie von unseren eigenen Linien kamen.

Aber es war nicht das, was mich beunruhigte. Mir dämmerte, daß es bequem und egoistisch war, sich immer freiwillig zu melden und dabei nur an seine eigene Beklemmung zu denken. Der da vor mir verblutete, war gefallen, weil ich mich auszeichnen wollte. Er war einer der Gezwungenen, die gar nichts mit diesem Schießen, Leuchten, Umzingeln und Überfallen zu tun haben wollten; einer, der ein Anrecht auf ein friedliches Leben hatte, und ich hatte es ihm genommen.

Oft genug habe ich später in gleicher Weise gesündigt, indem ich denen, die in der Anonymität leben wollten und frei von Ehrgeiz waren, meine Ideale aufzwang. Aber Ehrgeiz ist doch das falsche Wort. Ich war genauso unglücklich in diesem Schlamm-Meer und unter den verängstigten Menschentieren, wie der Bote gewesen war, dem ich den Tod gebracht hatte. Unfähig, ein endgültiges Urteil zu bilden, schlug ich mich noch mehr auf die Seite der Tollkühnheit; alle Helden sind in solchen Augenblicken entstanden, und das macht ihre Ausnahmestellung etwas problematisch.

Ich ließ mich in die Sappe hinab und zog den Sack Patronen an mich. Ich schoß sie ab mit der Ruhe eines Selbstmörders. Das Feld vor mir wurde nicht mehr dunkel. Ich hörte in einer Pause der Maschinengewehre die Stimme des Franzosen; er schien in ein Telefon zu schreien: "Impossible - ils sont alertés - suicide -je ne prends pas la responsabilité - merde!"

Ich wunderte mich über die Nähe der Stimme und hob mich aus der Sappe, um zum erstenmal die Telefondrähte des Feindes zu sehen; sie lagen hinter mir! Die Sappe war so weit vorgetrieben, daß ich in dem wirren Feld der Gräben buchstäblich hinter die Linien des Feindes geraten war.

Ich war nun ganz ruhig. Ich legte mich auf den Rücken und schoß alle neuen Patronen ab.

Ringsum ratterten die Maschinengewehre; manchmal explodierte eine Mine und bewarf mich mit Schmutz. Dann schwiegen alle Gewehre. Der Überfall war in meinem Licht versoffen!

Ich schaute nicht mehr in den Himmel hinauf; ich verließ die Sappe, ohne mich um die Minen zu kümmern, die sofort wieder losgelassen wurden.

Ich sollte weitergehen bis in die Etappe, dachte ich. Da stand der Feldwebel schon vor mir in dem geräumigen Erdloch. "Ich habe das nach hinten gemeldet", sagte er und trocknete sich die Stirn. "Sie werden sehen", fügte er gönnerhaft hinzu, "Sie werden sehen!"

Einige Tage später brachte ein Sanitäter ein Büchlein, das man dem toten Gabens abgenommen hatte. Auf der Titelseite stand mein Name und meine Kompanie. Ich schlug das Büchlein auf; es war das Stundenbuch von Rainer Maria Rilke. Das also hatte Gabens zitiert, wenn er mich am Abend aufhellen wollte!

Ich wollte mich in den Unterstand zurückziehen, als ein Gefreiter die Treppe heraufkam und mir lachend zwei fette Ratten unter die Nase hielt. "Die fressen kein deutsches Kommißbrot mehr", sagte er; er hob die toten blutenden Tiere gegen das Sonnenlicht. Ich sah in das Loch hinab und beschloß, oben zu bleiben. Angelehnt an die lehmige Grabenwand, las ich die hektischen und demütigen Verse des Mönchs, bis ich auf eine Stelle stieß, die Gabens angestrichen hatte. Ich erschrak, es war unbegreiflich, daß dies gerade jetzt zu mir kam:

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds –
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.
Ich senkte das Buch. Die Verse waren lindes Gift. Ich fühlte, wie das Gift in meine Adern floß, damals wußte ich noch nichts von Rilkes Musik, ich maß die Verse nur am Augenblick, er war erregend. In der unterstrichenen Zufälligkeit und durch diesen mit Du angeredeten Gott, der so viel bedeuten konnte, war alles möglich; auch daß er hier erwähnt wurde, in dieser Landschaft des Irrsinns.

Ich stand aufrecht in den von verirrten Kugeln summenden Mordfeldern. Der Raum, der bisher so beschränkt war, dehnte sich plötzlich über das rattenverseuchte, nach Leichen stinkende Gräbenwirrwarr ins Unendliche. Ich hatte bis zur völligen Schlaflosigkeit die Haft dieser unwürdigen Existenz empfunden, jedes Bücken schmerzte, die Gesten der Vorsicht waren erniedrigend, der Tod war mir als die Wand erschienen, die keiner ein-zurennen wagte. Nun sprach auch dieser Mönch von der Wand. Es war ein billiges Bild gewesen, aber es war nun geadelt durch einen Dichter. Ich war persönlich angeredet, die Stimme kam aus dem brennenden Dornbusch zu mir, und es brauchte nur eines äußeren Anlasses, um mich zu jeder Tollkühnheit zu stoßen. Die Wand bebte, sie würde fallen "durch das Rufen meines Mundes".


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[2]

1933. Regler ist mit Marieluise Vogeler, der Tochter des Worpsweder Malers Heinrich Vogeler, die später seine Frau wird, in Paris. Marieluise hat den Drang nach Hause zu fahren. (S. 216 ff.)

Ich verfluchte mich, daß ich sie hatte fahren lassen. Ich strich eines Tages an der deutschen Gesandtschaft vorbei, beschloß hineinzugehen und auf Nachricht zu bestehen; an der Tür erkannte ich, wie dumm der Gedanke war.

Am nächsten Morgen packte mich der Zorn, und ich begann ein Traktat zu schreiben, aber mitten in der Arbeit unterbrach ich und rannte in den Louvre. Auf der Treppe vor den windgefüllten Flügeln der Nike erinnerte ich mich eines Bildes, das Marieluise oft besucht hatte: die blonde Aragonesin von Raffael!

Sie saß umwallt von purpurnem Samt, der Maler hatte ihre zerbrechliche Gestalt mit überschwenglicher Würde bekleidet. Das Oval ihres Gesichts leuchtete zur Mona Lisa hinüber. Neben ihr hing Baldassare Castiglione, der noble Humanist. Neben ihm Francois Premier, der königliche Faun, der die Laute spielte, Latein, Spanisch und Italienisch sprach, zum Turnier antrat, das College de France gegründet hatte.

Ich verstand erst an diesem Tag, warum Marieluise diese Ecke so geliebt hatte. Die Menschen dieser Bilder waren so angenehm; entfernt von unserem Jahrhundert der Unritterlichkeit. Warum kümmerte ich mich überhaupt um diese Banditen in Berlin?; Um sie wegzufegen? Und dabei meine Frau zu verlieren? Um andere Banditen an die Futterkrippe kommen zu lassen?

Ich ging zu Münzenbergs Verlag, um mich mit neuen Tagesnachrichten vollzustopfen, es gab nun täglich Sensationen, ich] wollte mich bestärken in meiner Absicht, alles wegzuschmeißen, alles!

Münzenberg lud mich ein, in sein Zimmer zu kommen. Er hatte dort einen Mann, der aus Deutschland entkommen war. Er brachte Nachrichten von Ossietzky, dem gefangenen Redakteur! der Weltbühne: Sie folterten ihn! Er mußte im Gefängnishof vorf jeder Uniform strammstehen; er mußte niederknien, wurde getreten; sie nannten ihn "Polenschwein".

Den Anarchisten Mühsam aber, der für Jahre nichts anderes! getan hatte, als sich der verlassenen Sträflinge der Republik anzunehmen. Mühsam, dessen einzige Sünde seine Güte war, hat man heimlich an einer Latrinentür aufgehängt.

Noch während der Mann sprach, dachte ich an meinen Schwur vom Vormittag: mich nie mehr um Politik zu kümmern, wenn Marieluise wieder heil nach Paris zurückkehren würde. Nun nahm ich den Schwur zurück. Es ging ja nicht um uns, nicht um mein Privatschicksal. Man konnte nicht aufgeben.

Ich tat meine Redaktionsarbeit, aber mit dem fortgesetzten Schweigen von Marieluise kamen alle Ängste wieder. Ich fand mich eines Morgens in Notre-Dame, ich stellte eine Kerze auf, ich betete nicht, aber ich verneigte mich vor dem hohen Schiff und den Glasfenstern, eh ich hinausging.

Am nächsten Mittag stand Marieluise plötzlich im Türrahmen unseres kleinen Zimmers im Hotel. Das Wunder war geschehen! Ich sagte es ihr. "Es war kein Wunder", sagte sie fast streng. "Ich bekam sofort einen neuen Paß. Sie sind ihrer Sache sehr sicher. Es ist alles ganz anders, als ihr denkt, und auch Malraux ist ein Romantiker."

"Das ist ein Schlagwort", sagte ich.

"Ein Schlagwort von mir gegen hundert von dir", sagte sie mit etwas distanziertem Lächeln.

Sie berichtete bis in die Nacht hinein. Am Ende schwindelte mir. Sie kam aus einem Land des Rausches und der entfesselten Wünsche. Alles, was wir an Negativem beschrieben hatten, betraf einen verhältnismäßig kleinen, besiegten Teil des Volkes, das Gros glaubte und war verwandelt. Marieluise brachte Zeitungen und Zeitschriften; in einer fand ich den Satz von Gottfried Benn, der Klaus Mann antwortete und uns Emigranten versicherte, "daß die deutsche Nation uns nicht viel getan hätte", wenn wir geblieben wären. "Nicht viel!" Ich lachte bitter, ich erinnere mich genau, die Antwort trug das Datum meines Geburtstags. "Nur Hautabschürfungen", sagte ich, "mit Bluterguß in den Lungen. Nur Tritte in die Hoden, nur ein Auge ausgequetscht, nur mit Zigaretten ins Fleisch gebrannt, nicht einmal mit Zigarren!"

Marieluise unterbrach meine ohnmächtige Ironie, sie saß an ihrem Maltisch beim Fenster, das auf die Kaserne der republikanischen Garde hinausschaute. Sie gab mir Briefe von Freunden; ich öffnete sie, ahnend, was sie enthalten würden. Einer schrieb: "... warum entziehst du dich diesem einmaligen großen Erlebnis, warum bleibst du denen treu, die dich elend im Stich gelassen haben! Wenn du ein Jude wärst, könnte ich's verstehen ..." Ich zerknüllte den Brief. Ein anderer schrieb: "Man muß sich nicht gegen die Geschichte stemmen, dies ist Schicksal und hat seinen Sinn. Selbst wenn du Märtyrer geworden wärst -ist das ein so verachtenswertes Ende?«"

Ich legte den Brief auf den Tisch. Marieluise überflog ihn, dann nickte sie und begann ihren Handkoffer auszupacken.

Mich überlief es kalt. Tausend Verdachte stürzten in mich. Ich sah ihren Paß auf dem Tisch liegen; das Foto war mit einem Stempel gesichert, der das Hakenkreuz trug. Wenn sie sie geschickt hätten, um hier zu spionieren? Wenn sie ihr erzählt hätten, daß von nun an ihre Familie als Geisel in Deutschland lebe? War das vielleicht nicht schon vorgekommen?

Ich sah auf ihren Haarknoten, auf den hellen Nacken, die handgewebte Bluse, es war alles so einwandfrei und rein. Wie ein Osterzimmer, dessen weiße Fenster sich in den Frühling öffnen. Könnte sie jemals verraten? Ich wandte mich um. Vermutlich würde sie morgen wieder zurückfahren. Ich schielte auf das Bild in ihrem Paß. Sie war mir fremd; sie war selbst mit diesem Hakenkreuz versehen.

Ich sah, wie sie das Bild ihrer Mutter auf den Tisch stellte, daneben ein Foto von sich selbst, das, wie ich später erfuhr, von einer Goebbelsstelle gemacht worden war, um die Züge einer "typischen deutschen Schönheit" zu zeigen. Es war ein Bild in friesischer Tracht, mit dem bestickten Käppchen, dessen Spitzenrand dem Oval ihres Gesichts etwas Bräutliches gab.

Ihr Blick war gesenkt, ihr Mund ohne Lippenstift. Das war die neue deutsche Mode gegen das "dekadente Paris". Aber sie hatten das Gesicht nicht verflachen und altbacken machen können; ich starrte beschämt darauf, der Dämon des Verdachts wich, und da drehte sie sich wieder um und kramte ganz tief in der Tasche. Nach kurzem Tasten zog sie die Pfefferpistole heraus, die sie sich 1929 gegen jene schon von den Nazis angesteckten riesigen Polizisten Berlins angefertigt hatte.

"Das paßt doch hierher?" fragte sie und sah mich aus blauen, sicheren Augen an. Ich riß sie hoch und küßte sie.

Von diesem Tag an bildete ich mir wieder meine eigene Meinung von den Ereignissen.

Solch ein Satz mag der heutigen Generation schon peinlich vorkommen, sie vergißt aber, daß ich einer Partei angehörte, die ein Orden war und in welcher Gehorsam wichtiger war als alle Spekulation. Besonders den Intellektuellen in ihr hatte man klargemacht, daß man ihre Arbeitskraft, nicht aber ihre Gedanken brauchte. Wir standen unter dem Zauber der russischen Ideen, die zwar den Inhalt des Religiösen abgelegt, die Form aber noch zwingender gemacht hatten. Oberflächliche Beurteiler haben es "das jüdische Erbe des Sozialismus" genannt, sie hatten aber wohl nie erlebt, daß jüdische Philosophie sich lockern ließ in Witz und Toleranz; Talmudisten spalteten das Wort, indem sie es benutzten, sie machten den Zweifel zum Bruder des Glaubens. Die Bolschewisten spalteten in den Klugen ihrer Anhänger das Bewußtsein und verbannten den Humor, peitschten ihn zur Tür hinaus; ich merkte es erst, als das falsche Kloster sich schon fest um mich schloß.

Es blieb den meisten nichts anderes übrig, als sich mit Resignation den wechselnden Losungen anzupassen. Andere gingen ins Doppelleben und leisteten die Dienste, die man verlangte; es schloß die in pedantischen Abständen geforderten Lippenbekenntnisse ein; im Innern aber bewahrten sie das persönliche Urteil. Es kam auch vor, daß wir explodierten, wenn man uns zuviel Sand in die Augen streute. Dann aber betrogen wir uns wieder mit schnellen Hoffnungen.

Als am 30. Juni 1934 der Stabschef der SA Röhm, die Generäle Schleicher und von Bredow, der Katholikenführer Klausner und viele SA-Führer, wie Gregor Strasser, Heines und Ernst, ohne Gerichtsurteil auf Hitlers Veranlassung erschossen wurden, jubilierte die ganze Emigration. Diagnosen auf baldigen völligen Verfall des neuen Reiches wurden gestellt. Die Palastrevolution, zum Teil geplant, zum Teil von Himmler erfunden, war zwar in einer Woche im Ku-Klux-Klan-Stil erstickt worden, von den Emigranten aber wurde sie als ein Erdbeben bezeichnet, als ein Wetterleuchten, als Götterdämmerung, als ein Fanal! Ebensoviel schlechte Bilder wie Fehlurteile! Hitler selbst verwendete ebenso horrende Bilder; ich erinnere mich, wie er die Ermordung von Rohm paraphrasierte: "Ich gab weiter den Befehl, die Geschwüre unserer inneren Brunnenvergiftung auszubrennen bis auf das rohe Fleisch!" Wir lachten über diese Sprache und vergaßen, daß der Chirurg Hitler, der "Brunnen ausbrennen" wollte, gesiegt hatte; er hatte Energie gezeigt, hatte alle rechtlichen Bedenken beiseite geschoben, hatte eine Woche lang unter seinen Getreuen die verschiedensten »Rechnungen begleichen« lassen. Es fehlte ihm nur noch die Befehlsgewalt über die Reichswehr. Er nahm sie sich am Tage nach dem natürlichen Tod des Reichspräsidenten Hindenburg. Am 2. August 1934 vereinigte ein stolz dekretiertes Gesetz Amt und Befugnis von Präsident und Kanzler in einer Hand, in der Hitlers.


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[3]

Im Spanien des Bürgerkriegs, 1936. Regler drängt es, in die Internationale Brigade aufgenommen zu werden, um die Republik gegen Franco zu verteidigen. Kolzow, sowjetischer Verleger und Parteifunktionär, begleitet ihn. In Albacete, südöstlich von Madrid, befindet sich das Hauptquartier, Regler meldet sich bei André Marty, dem Befehlshaber. (S. 368 ff.)

Im Erdgeschoß blieb er [Kolzow] stehen und deutete in den Saal, der mit hundert Verwundeten gefüllt war. Es waren alles schwere Fälle: Amputationen, denen infolge Fehlens von antiseptischen Mitteln Gangräne folgen mußte. Kopfschüsse. Verstümmelte, die den Faschisten entkommen waren.

"Sie werden vielleicht noch heute nacht von den Mohren in den Betten erstochen werden", sagte Kolzow leise. Er blickte auf die Männer, die mit schwarzen Augen ruhig aus den Verbänden sahen. "Sie wissen es nicht, bis zum letzten Augenblick. Komm, gehen wir ..."

Vielleicht hat mich die Hilflosigkeit dieser Verwundeten endgültig umgestimmt. Es war ein russisches Auto, das mich dann in der Nacht nach Albacete brachte, wo ich mich sofort im Hauptquartier der Internationalen Brigade meldete und um Verwendung bat. Ich wurde auf Waffen untersucht und dann ins Zimmer von André Marty eingelassen.

Marty war mir bekannt aus der Geschichte der russischen Revolution. Sein französisches Kriegsschiff hatte den Auftrag, auf die meuternden zaristischen Matrosen zu schießen. Marty hatte den Befehl verweigert und so den Lauf der Dinge beträchtlich beeinflußt.

Auf den ersten Blick hin war er wirklich der gegebene Mann, so schien es auch mir, die Freiwilligen aus aller Welt zu sammeln und zum bedrängten Madrid hinaufzuschicken.

Aber ein rebellierender Gefreiter ist nicht so einfach als kommandierender General zu verwenden (wie auch andere, schlimmere Beispiele des letzten Krieges bewiesen haben). Marty deckte seine verzeihliche Unfähigkeit mit einer unverzeihlichen, passionierten Spionensucht; er ist wirklich überzeugt gewesen, daß viele der Freiwilligen, die sich in seinem Hauptquartier einfanden, faschistische Spione seien. Er stellte seine ganze Energie seinem Mißtrauen zur Verfügung und schreckte auch vor tagelangen zermürbenden Verhören nicht zurück; sogar seine Nachtruhe opferte er und den Frieden seiner Seele, indem er in zweifelhaften Fällen lieber ein Leben schnell auslöschte, als durch kleinbürgerliches Zögern die Republik zu schädigen. (Ich spreche in seinem Stil.)

Als geborener Franzose gestattete er sich dabei eine Portion Ironie. Als er mir in seinem Büro einen Stuhl anbot, spürte ich, daß er sich zu einem Katz-und-Maus-Spiel entschlossen hatte.

"Wo sind Sie gewesen? Was halten Sie von General Miaja? Werden die Republikaner gewinnen?" Und dann plötzlich: "Wann verließen Sie Hitler-Deutschland? Wen kennen Sie denn so in Paris? Malraux? So, so. Wo ist er denn jetzt? Haben Sie auch Anarchisten getroffen?" Und unversehens, diesmal wie ein Pistolenschuß: "Zeigen Sie mir Ihr Mitgliedsbuch der POUM!" (Das war die trotzkisierende Organisation der katalanischen Exkommunisten.)

Die POUM war mir damals überhaupt nicht bekannt, Trotzki war mir fremd, da ich vermutete, daß er seine krankhaften Revanchegefühle vor die Vernunft stellen würde.

Martys Spiel war mir plötzlich zuviel, ich hatte Lust, aufzuspringen und ihn zu ohrfeigen; ich weiß erst heute, daß ich solch männlichen Ausbruch zehn Minuten später mit dem Leben bezahlt hätte. Ich beherrschte mich, ich dachte an Spanien, das am Rande des Abgrunds war, ich dachte an alle, die in Moskau in Lebensgefahr waren; ich multiplizierte die Zahl jener, die ich kannte und so bedroht wußte, mit der ungleich höheren imaginären Zahl der Gefährdeten und fand, daß unser Spiel unwürdig war. Ich zeigte Marty den Brief, in dem Kolzow mir bestätigt hatte, daß ich spanischer Korrespondent für die Deutsche Zeitung von Moskau sei, und bat ihn, sich bei Kolzow über mich zu erkundigen; dann ging ich aus dem Zimmer.

Auf der Straße traf ich André Malraux, von dem ich wußte, daß er eine Flugzeugstaffel aufgestellt hatte. Er nahm mich mit in ein Cafe. Er hatte einen sensationellen Grund, mich zu sprechen: André Gide hatte ihm die Druckbogen seiner Retour de l'USSR geschickt. Es war ein trauriges und sauberes, ein prophetisches und unbestechliches Büchlein, das von allem Schönen und allem Gefährlichen berichtete, das der große Mann auf seiner Fahrt durch die Sowjetunion gesehen und erlebt hatte.

"Er will unsere Meinung", sagte Malraux, "ob er es veröffentlichen soll oder nicht. C'est un probleme - avec l'aide de l'USSR pour l'Espagne - vous comprenez? Es ist schon so eine Sache mit der Sowjethilfe für Spanien."

Ich verstand, und ich erinnere mich, wie wohl es mir tat, daß der parteilose Freund Malraux mich zu solch verantwortungsvoller Prüfung heranzog, und zwar in derselben Stunde, da der überdrehte Parteimann André Marty gewagt hatte, mich wie einen Spitzel zu behandeln.


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[4]

1939. Regler ist wieder in Frankreich. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt will er sich als Freiwilliger der französischen Armee zur Verfügung stellen. Aber man sperrt ihn, zusammen mit anderen in ähnlicher Lage, in das Internierungslager Vernet, nahe der Pyrenäengrenze. Es muss nur um Weniges besser gewesen sein als ein KZ. (S. 444 f.)

Wenn ich am Abend durch die Baracke ging und allen gute Nacht wünschte und aus den schwarzen Löchern in allen Sprachen die Antwort gekommen war: "bonne nuit, camerade, gute Nacht, Gustav, spakolni node, buenas noches, buona notte", dann dachte ich an Europa. Man hatte uns einfach vergessen. Wenn ich auslöschen würde, so dachte ich jedesmal und zögerte, dann waren wir hundertfünfzig für immer ausgelöscht.

Was aber ist uns nicht alles eingefallen beim Fegen der Baracke, beim Richten der Wege, beim Stopfen der Strohsäcke, beim Holzhacken! Wir waren wieder an die Urdinge gekommen. Wir sahen den Menschen nackt; wir erkannten uns selber; wir warfen keine Asche über unsere Haare wie Hiob; man hatte uns die Haare abrasiert, und wir hatten gar keine Neigung zum zerknirschten Sünder.

Aber wir nutzten das Lager, um unsere Zeit zu verstehen. Keine Wertung hatte standgehalten vor unserer Trauer über diese Gefangenschaft. Erst schien uns alles nur sinnloses Chaos. Nach einigen Wochen aber sahen wir keinen Zufall mehr in der Tatsache, daß wir Spanienkämpfer zusammen mit den Waffenschiebern Europas auf einem Strohlager schlafen mußten. Wir glaubten zu verstehen, warum die Präfektur den Antisemitismus Adolfs nachahmte und waggonweise Juden hierher schickte. Man brauchte Sündenböcke.

Es war auch kein Zufall, daß Puchler, ein Offizier des tschechischen Intelligence-Service, in unseren Reihen stand; er hatte nach "München" einen französischen Kollegen beim Wein plötzlich angeschrien und Frankreich eine verräterische Hure genannt. Er war ein vitaler, hochgewachsener Mann, belesen, ergeben seinem Land, gierig nach Leben, ein geschickter Agent, mit dem haut-goût der Gefahr, die sein Beruf mit sich brachte. Im Kern ein Hussit, angesengt von der Flamme des Widerspruchs. Er las in Vernet meinen Bauernkriegsroman Die Saat, der die religiösen Empörer gegen die Zinsknechtschaft in ein neues Licht stellte.

"Dank, Dank!" schrieb er mir hinein, "das könnte ein Tscheche geschrieben haben; in jedem von uns steckt ein Rebell. Dank, Dank!"

Nur einmal sah ich ihn außer sich: Von der Kommandantur aus servierte man uns am Abend gnädig eine Viertelstunde zensurierter Radioübertragung; sie begann mit einem Lied. Als Puchler das Lied zum erstenmal hörte, bekam er einen Wutanfall: es war ein Volkslied, das Präsident Masaryk geliebt hatte, die Franzosen hatten es, wohl aus schlechtem Gewissen, an die Spitze ihrer ausländischen Sendung gestellt. "Wie können sie es wagen", brüllte er. "Masaryk!" Nun weinte er. Leo Valiani und Koestler hinderten ihn dann, zum Zaun zu laufen und wieder seine Verachtung herauszubrüllen. "Tu seras fusillé", sagte Leo (der später das Todesurteil für Mussolini unterschrieb).

Puchler kam heil durch die Kriegszeit, ging nach der Heimat zurück, wurde von der Slansky-Regierung verhaftet, saß lange im Gefängnis, wurde aber befreit und sogar rehabilitiert, als Slansky gehängt wurde. Er weiß nun, daß Frankreich keine Hure war, daß Geschichte die Manifestation menschlicher Unzulänglichkeit ist, daß Ehre nur auf den Sieger fällt, der immer recht hat, da die Ideale auswechselbar sind, und daß es ungerecht gegen die Straßenmädchen ist, ihren tragischen, aber ehrenwerten Beruf mit dem der Staatsmänner zu vergleichen.


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[5]

Sommer 1945, Exil in Mexiko. Marieluise ist an Krebs erkrankt. (S. 444 f.)

Es war im August 1945. Ich war in der Stadt gewesen und hatte aus dem Taxi heraus von einem der flinken Läufer der Bucarelli-straße ein Extrablatt gekauft. Erst vor meiner Haustür, als ich den Schlüssel ins Tor steckte, überflog ich die Schlagzeile; Japan hatte sich ergeben! Getroffen von der sensationellen Nachricht, rannte ich in den Garten und vor ihr Bett; der ganze Unsinn von sechs schauerlichen Jahren umgab uns wie eine rote Brandung; trotzdem jubelte ich: "Friede! Richtiger Friede - endgültiger!" Ich stammelte - wer findet die Sprache, die solchem Augenblick adäquat ist?

Sie las lange, dann ließ sie das Blatt sinken und sagte mit heiserer Stimme: "Hast du genau gelesen?"

Ich griff nach der Zeitung und las die Einzelheiten der Katastrophe von Hiroshima, las die Zahl der Toten, die in einer Minute ausgelöscht worden waren, sah in Marieluises Gesicht, in die gelbe Maske, die ein bläuliches Grau zeigte, verstand, was ihre entsetzten Augen sagen wollten, es war ein letzter Protest, es war wie eine Verneinung alles dessen, was wir zusammen versucht hatten, ich las die schauerliche Rechtfertigung, die dem Bericht zugefügt war und vom "Verhüten schlimmerer Blutbäder" sprach, sah wieder in ihr Gesicht, aus dem alle Sorge um persönliches Leid verschwunden war, sah, wie sie sich zurückzog von allem, was Leben hieß, als sie auch schon sagte: "Als Kind, 1915, sagte einmal meine Gouvernante: ‘Krieg? Was Krieg ist? Du mußt dir vorstellen, daß in jeder Minute ein Mensch stirbt.’ Ich habe es nie vergessen und fand es schauerlich und gemein. Und nun sind sie auf 300000 pro Minute gekommen!" Ich nickte nur, ich war beschämt und wollte die Zeitung zerknittern, aber es schien mir eine zu leichte Entschuldigung. Ich ging aus dem Zimmer.

In jener Nacht gab sie auf. Keine Diagnosis, keine der absolutistischen Banalitäten der offiziellen Medizin kann mich überzeugen, daß die Entwicklung des Übels zwangsläufig einem biologischen Gesetz folgte. Ich mißtraue jenen, die so sicher über den "Ablauf" reden, nachdem sie nichts über den Ursprung wissen. Dieses Leben "lief nicht ab", wie die Wissenschaft es befahl. Marieluise, obschon im Kern angenagt von Zweifeln, hatte bisher an ihrem Märchen festgehalten und an Heimkehr geglaubt, selbst wenn sie oft die Prinzessin war, die den Kopf des gemarterten Pferdes im Torweg hängen sah und ihm klagend zurief: "Falada, Falada! wie du da hangest!"

An jenem Augusttag gab sie dem Übel recht, so wie der Gefangene auf dem Gipfel der Pyramide nachgibt. Erst zwei Tage vor dem Ende glaubte sie, uns allen das Märchen noch einmal vorspielen zu müssen. Sie erlaubte mir, ein Fest zu richten, das alle Schatten aus dem Haus jagen sollte für einen vollen Sonntagnachmittag.

Rings im Saal hingen die letzten Bilder, die sie gemalt. Im Nebenzimmer hing Die Kutsche, die Alice ihr gebracht hatte; ein verträumtes Bild mit den Fragen der Dämmerung und allen Versprechen eines Boulevards, der schon in die Sterne sich ausstreckte. Das Streichorchester stimmte die Instrumente. Walter Stein aus Wien leitete das Konzert.

Marieluise lag im Nebenzimmer und sprach mit den vier Freundinnen, die allein sie zugelassen hatte; sie nannten sich graziös the ladies in wait. Die Freunde, beinah vierzig an der Zahl, hockten im Garten, um die vier Notenpulte herum oder um den Kamin, der brannte. Die Musiker hatten Mozart und Haydn gewählt. Sie schlossen mit der Kleinen Nachtmusik ab. Ich hatte nie vorher so sehr die Melancholie des Stücks gespürt.

Es war, als stände man im Park von Versailles, wo er in die Unendlichkeit ausläuft und wo seine künstlichen Seen schon bäuerlich werden. Dort die Falben, um deren Hufe gelbe Blätter wehten. Es war ein Adieu sans paroles, angehaucht vom dünnen Geruch der Herbstzeitlosen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang. Manchmal war der Tanzschritt zu deutlich, stieß an alle Herzen, die die Frau nicht gehen lassen wollten. Marieluise aber sah mit großen Augen in die Landschaft, die Mozart öffnete.

Zwei Tage später stand sie auf und bestand darauf, zu ihrer Röntgenbehandlung zu fahren. Ihr Gesicht war ein tiefes Gelb, sie hielt eine rote Rose in der Hand. Am nächsten Tag bat sie um eine Spritze und schlief ein. Im Vorderraum saßen wieder die Freunde, der Kamin brannte, die Ärzte gingen nicht fort, etwas fesselte sie an diesem lautlosen Tod, sie sprachen von Wunderheilungen, als wollten sie der Einschlafenden die Hoffnungsmärchen durch die Wand auf den Weg mitgeben. Ich sah mir die Freunde der Reihe nach an; sie waren gute Freunde gewesen, aber in diesem Augenblick der sanft, aber bestimmt geforderten Bilanz waren sie alle ein kleines mehr als ihre Person:

Serge saß am Fenster und betrachtete einen Zweig mit gelben Orchideen. Alice hatte den Zweig gebracht, aber Marieluise hatte ihn nicht mehr angesehen. "C'est la preuve", hatte sie mir zugeflüstert im Garten. "Elle est dájà partie." Sie sagte es leise, aber es wurde noch endgültiger dadurch; sie war zum Kamin gegangen, sie wollte nicht, daß man auch nur ein Wort darüber verliere, jeder hatte das Recht auf seinen eigenen Tod. Sie sprach mit keinem der Besucher, die immer zahlreicher wurden; sie saß am Kamin und sah in die Asche, die hie und da leise und rot aufatmete.

In dieser Stunde ging Marieluise. Eine Leere folgte, die keine Grenzen hatte; die Welten vermischten und überschnitten sich, mein Wunsch zu irgendeiner Fortsetzung im gewohnten Raum wurde unerbittlich verworfen; selbst ihre Bilder erkannten mich nicht mehr an. Die Regenbogen, die sich noch über dieses Bett gespannt hatten, verblaßten in einem haigrauen Himmel; die Schuld des Überlebens überschwemmte den Tag, dessen Stille zu eindeutig war, denn es gab nur dieses Geheimnis des windstillen Mundes - gab es überhaupt ein anderes? War es ein Anfang oder ein Ende? Die Himmel blieben stumm.


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