Leseproben aus: Erich Maria Remarque, Schatten im Paradies



(ohne Seitenangaben, da ich aus einer vergriffenen Ausgabe zitiere; die jeweiligen Kapitel sind aber genannt)



[1] Der Erzähler trifft sich mit Kahn in einem Restaurat. Kahn hatte in Europa oft auf abenteuerliche Weise Verfolgte gerettet. Sie sprechen über Carmen, deren geistige Fähigkeiten eher begrenzt zu sein scheine. (Kap. 16)

[2] Ein Traum des Erzählers (Kap. 23, Anfang)

[3] Der Erzähler muss für seinen Job als Kunstsachverständiger und -verkäufer, in dem er sich gut eingearbeitet hat, New York für einige Zeit verlassen, da er in Hollywood Aufgaben übertragen bekommen hat. Er verabschiedet sich von Natascha, seiner Geliebten. (Kap. 23, Ende)






[1]

Der Erzähler trifft sich mit Kahn in einem Restaurat. Kahn hatte in Europa oft auf abenteuerliche Weise Verfolgte gerettet. Sie sprechen unter anderem über Carmen, deren geistige Fähigkeiten eher begrenzt zu sein scheint. (Kap. 16)


XVI

Ich ging mittags zu Kahn. Er lud mich zum Essen ein. Wir gingen in ein chinesisches Restaurant. Kahn hatte eine große Vorliebe für chinesisches Essen. Er hatte das von Paris mitgebracht, aber Paris war dürftig gewesen gegen New York. Chinatown war ein ganzer Stadtteil von New York.

Wir fuhren mit dem Omnibus bis zur Mottstraße. Das Restaurant lag in einem Keller, zu dem man ein paar Stufen hinuntergehen mußte. »Es ist merkwürdig, wie wenig Chinesinnen man in New York sieht«, sagte Kahn. »Entweder sind sie versteckt in ihren Häusern, oder die Chinesen haben das Problem der Parthenogenese gelöst. Kinder sieht man genug, aber wenig Frauen. Dabei sind Chinesinnen die wunderbarsten Frauen der Welt.«

»In Romanen.«

»In China«, sagte Kahn. »Waren Sie da?«

»Ja. 1930. Zwei Jahre.«

»Und Sie sind zurückgekommen? Warum?« Kahn lachte, daß er sich schüttelte. »Heimweh!« Wir bestellten in öl gebratene Shrimps. »Wie geht es Carmen?« fragte ich. »Sie sieht aus wie eine Kreuzung zwischen einer Polynesierin und einer sehr hellen Chinesin. Sehr tropisch und tragisch.«

»Sie ist in Pommern geboren, in Rügenwalde. So etwas kommt vor. Zum Glück war sie Jüdin, das half ihr, diesen Komplex zu überwinden.«

»Sie sieht aus, als wäre sie aus Timbuktu, Hongkong oder Papeete.«

»Geistig ist sie aus Kötzschenbroda. Eine faszinierende Mischung. Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Sie in einer bestimmten Situation reagieren werden oder was Sie denken. Bei Carmen kann ich es nicht. Sie ist mir so außergewöhnlich fremd, daß ich nie weiß, was sie denkt oder wie sie reagiert. Sie ist nicht, wie Sie meinen, eine romantische Mischung aus Yokohama, Kanton und den Gewürzinseln - sie kommt von viel weiter her. Von den Kratern des Mondes, aus einer Urlandschaft reiner Dummheit, Einfalt oder Simplizität, zu der wir andern den Weg längst verloren haben. Sie ist immer neu wie am ersten Tag. Das Weib in seiner Vollendung. Sie gibt sich nicht die geringste Mühe; sie hat nie Zweifel; sie ist da und damit gut. Wollen Sie noch eine Portion Schmetterlingsshrimps bestellen? Sie sind herrlich.«

»Gut.«

»Dummheit ist ein kostbares Gut«, sagte Kahn. »Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Sie schützt wie ein Zaubermantel. Man sieht die Gefahren gar nicht, an denen der Intellekt scheitert. Ich habe einen Kursus in künstlicher Dummheit gemacht. Ich habe mich darin trainiert, und ich habe gut gelernt, sonst wären mir ein paar meiner Streiche in Frankreich übel bekommen. Aber das alles ist natürlich nur ein erbärmlicher Ersatz für wirkliche, strahlende Dummheit, besonders wenn sie sich mit einem Gesicht paart, das für die Duse geschaffen sein könnte, und als drittes zu einer Jüdin gehört. Sehr dumme Juden sind so selten wie gescheckte Zebras.«

»Da irren Sie sich. Die Juden sind ein sentimentales, vertrauensseliges Volk mit künstlerischer und geschäftlicher Begabung, witzig, aber längst nicht immer klug.«

Kahn grinste. »Sehr dumme Juden, habe ich gesagt. Da, wo die Dummheit parzivalisch und fast heilig wird.«

Ich verschluckte mich. Carmen als Parzival oder Lohengrin, das paßte so wenig zusammen, daß etwas darin stimmte. Ich liebte abstruse Illusionen und hatte mir meine Zeit in Brüssel manchmal damit vertrieben, welche zu erfinden. Auch jetzt waren sie noch imstande, mich sofort in heitere Laune zu versetzen. Sie waren wie der heilige Ruck der Erleuchtung bei der Zen-Religion. Der unerwartete Vergleich reichte über die Logik ins Kosmische hinaus. »Wie geht es Ihnen sonst?« fragte ich. »Was machen die Geschäfte?«

»Ich langweile mich«, erwiderte Kahn und sah sich im Lokal um. Die Chinesen bedienten, außer den Kellnern waren keine da. Dafür sah man die unbeholfenen Versuche kräftiger, schwitzender Geschäftsleute, mit Stäbchen zu essen. Die ausgezogenen Jacketts hingen dabei wie Seelengespenster über den Rücken der Stühle. Kahn aß elegant wie ein Mandarin der zweiten Stufe. »Ich langweile mich grenzenlos«, sagte er. »Das Geschäft geht gut. Im könnte in einigen Jahren erster Verkäufer sein, dann in noch einigen Jahren einen Anteil kaufen, dann in noch einigen Jahren vielleicht sogar das Geschäft. Verführerisch, was?«

»In Frankreich wäre es eine verführerische Idee gewesen.«

»Eine Idee. Da war Sicherheit das große Abenteuer, weil es sie nicht gab. Aber zwischen einer Idee und ihrer Wirklimkeit ist ein riesiger Unterschied, Es sind oA: sogar Kontraste. In der Sicherheit wird Sicherheit wieder das, was sie eigentlich ist: Langeweile. Wissen Sie, was im glaube? Daß unser jahrelanges Zigeunerdasein uns für die bürgerlichen Ideale verdorben hat.«

Ich lachte. »Nicht uns alle. Die meisten nicht. Für viele war es ein zu überlebendes Zigeunerdasein, als wenn Reisende in Mehl und Hühnerfutter auf dem Trapez arbeiten müßten. Sobald sie herunterklettern können, sind sie wieder beim Mehl und beim Hühnerfutter.«

Kahn wiegte den Kopf. »Nicht alle. Sie sind tiefer aufgerührt worden, als Sie glauben.«

»Dann werden sie gestörte Mehlhändler und Körnerreisende.«

»Und die Künstler? Die Schriftsteller, die Schauspieler, die nicht arbeiten können? Sie sind inzwischen zehn Jahre älter geworden. Wie alt werden sie werden, bevor sie zurückkönnen und wieder arbeiten?«

Ich dachte darüber nach. Was würde mir passieren?



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[2]

Ein Traum des Erzählers (Kap. 23, Anfang)


XXIII

Der Traum kam erst mehr als eine Woche später. Ich hatte ihn früher erwartet und schon geglaubt, er würde nicht mehr kommen. Zögernd und vorsichtig hatte sich in mir eine Hoffnung geregt, daß es vielleicht sogar für immer damit vorbei sein könnte. Im hatte getan, was ich konnte, um ihm zu entgehen, im hatte mir fast überstürzt und hastig eingeredet, es seien nur noch Nachgewitter, wenn ich plötzlich diese jähen, atemlosen Augenblicke hatte, wie sie jemand während eines Erdbebens fühlen mußte, Gefühle, in denen es schien, als wäre alles lose.

Im hatte mich getäuscht. Es war derselbe klebrige, zähe schwarze Traum gewesen wie früher, nicht schwächer, sondern eher noch drohender, und es war ebenso schwer für mich, mich von ihm zu befreien, wie sonst. Erst sehr langsam war das Bewußtsein klarer geworden, daß es keine Wirklichkeit war, sondern ein Traum. Er hatte begonnen mit dem Keller im Museum von Brüssel, mit der abgestandenen Dunkelheit darin und dem Gefühl, daß die Wände begannen, sich zu verschieben, von oben und von den Seiten auf mich zu, um mich zu erdrücken. Dann, während ich nach Luft keuchte und schreiend auffuhr, ohne zu erwachen, war der klebrige Schlamm gekommen und später das Gefühl, gejagt zu werden, weil ich mich zurückgetraut hatte über die Grenze und nun im Schwarzwald die SS hinter mir her hatte mit Polizeihunden, angeführt von dem Mann, an dessen nacktes Gesicht ich mich nicht erinnern konnte, ohne zu zittern bis in die Eingeweide. Sie hatten mich erwischt, und ich war wieder in dem Raum, wo die Krematorienöfen standen, allein, ausgeliefert den Gesichtern, den Hals ohne Atem, weil man mich eben bewußtlos von dem Haken an der Wand losgemacht hatte, an dem sie einen aufhängten, während die Opfer die Wände mit den Händen und den gebundenen Füßen zerkratzten und die Peiniger Wetten abschlossen, wer sich am längsten am Leben erhalten konnte. Dann hörte ich wieder den Lächler, der nach Parfüm roch und mir erklärte, wie er mich noch lange nicht, aber vielleicht später, wenn ich ihn auf den Knien darum bitten würde, lebendig verbrennen wolle, und was dabei mit meinen Augen geschähe. Der letzte Traum war wie jedesmal der gewesen, daß ich jemand in einem Garten vergraben und daß ich es schon fast vergessen hatte, bis die Polizei im Sumpf die Leiche fand und ich nicht begreifen konnte, warum ich sie nicht anderswo und besser versteckt hatte.

Es dauerte lange, bis ich begriff, daß ich in Amerika war und geträumt hatte. Ich war so erschöpft, daß ich mich eine Zeitlang nicht erheben konnte. Ich blieb liegen und starrte in die rötliche Nacht. Schließlich stand ich auf und zog mich an. Ich wollte nicht riskieren, noch einmal in den Schlaf zu rutschen und dann aufs neue überwältigt zu werden. Das war mir auch schon passiert, und der zweite Traum war dann stets schlimmer als der erste. Nicht nur Traum und Wirklichkeit mischten sich auf eine unlösliche Weise miteinander, sondern auch die beiden Träume, wobei der erste die Rolle einer verstärkten Wirklichkeit übernahm und mich völlig in Verzweiflung stürzte.

Ich ging hinunter in die Hotelhalle, in der nur noch ein trübseliges Licht brannte. In der Ecke schnarchte der Mann, der Melikow dreimal in der Woche vertrat. Er sah mit dem gefurchten, von Seele entleerten Gesicht und dem offenen, stöhnenden Mund selbst wie ein Gefolterter aus, der soeben bewußtlos von einem Fleischerhaken losgemacht worden war.

Ich gehöre zu ihnen, dachte ich, ich gehöre zu dieser Horde von Mördern, es war mein Volk, ganz gleich, was ich mir am Tage auch vortäuschen mochte, ganz gleich, ob sie mich gejagt und verstoßen und ausgebürgert hatten, ich war unter ihnen geboren, und es war töricht, wenn ich mir vormachen wollte, daß ein treues, ehrliches, unwissendes Volk durch Legionen vom Mars überfallen und hypnotisiert worden sei. Diese Legionen waren unter ihm selbst aufgewachsen, sie hatten sich aus brüllenden Kasernenhofschindern und tobenden Demagogen entwickelt, es war der alte, von Oberlehrern angebetete furor teutonicus gewesen, der zwischen Gehorsamsknechten, Uniformvergötzern und viehischem Atavismus aufgeblüht war; mit der einzigen Einschränkung freilich, daß das Vieh niemals so viehisch war. Es war keine Einzelerscheinung! Die Wochenschauen mit ihren Zehntausenden von aufgerissenen, tobenden Mäulern zeigten nicht ein geduldiges, unwilliges Volk, dem befohlen worden war, es war das Urvolk selbst, das jauchzte, das die dünne Schicht der Zivilisation durchbrochen hatte und sich nun in seinem barbarischen Blut-Kot wälzte. Furor teutonicus! Heiliges Wort meines bebrillten Vollbart-Oberlehrers! Wie er es kostete! Wie selbst Thomas Mann es noch gekostet hatte zu Beginn des ersten Krieges, als er die 'Gedanken zum Kriege' schrieb und 'Friedrich und die Große Koalition'. Thomas Mann, der Hort und Führer der Emigranten. Wie tief mußte die Barbarei sitzen, wenn sie selbst in diesem humanen und humanistischen Dichter nicht ganz ausgerottet war!

Ich trat auf die Straße. Die Nacht schlief noch zwischen den Mauern. Ich wandte mich zum Broadway, auf der Suche nach Licht. Ein paar Buden mit Hamburgers, die die ganze Nacht offen hatten, schütteten ihr sparsames Licht über die Straße. In einigen hockten Leute auf Barstühlen wie verdammte Geister. Licht ohne Menschen war gespensterhafter als Dunkel, es war zwecklos in unserem immer auf Zweck ausgerichteten Dasein und wirkte mondhaft, als schiene es in Kratern, die in Häusern eingelassen und verlassen waren.

Ich blieb vor einem Delikatessengeschäft stehen. Im Fenster trauerten Mortadella-Würste und viele Käsesorten. Irwin Wolff hieß der Besitzer, der Europa wahrscheinlich zur rechten Zeit verlassen hatte. Ich starrte auf den Namen. Nicht einmal das hatte ich als Ausrede. Nicht einmal diese künstliche Unterscheidung konnte ich benutzen! Ich konnte nicht sagen, daß ich ein Jude wäre, ich konnte mich darauf nicht berufen, um klarzustellen, daß ich mit den Teutonen nichts zu tun habe; ich konnte sie nicht mit ihren eigenen falschen Waffen schlagen. Ich gehörte zu ihnen, ich war einer der Ihren, und wenn mir in diesem nebligen Morgengrauen Herr Irwin Wolff plötzlich gegenübergetreten und mit einem Messer nachgejagt wäre, als einem der Mörder seines Volkes, so hätte mich das in dieser Stunde nicht überrascht.

Ich ging weiter, über die nächtliche 20. Straße, ein Stück den Broadway hinauf, dann nach rechts zur Dritten Avenue. Ich überquerte sie, ging wieder zurück, den Broadway entlang, dessen Lichter blasser geworden waren, und dann hinauf, bis ich zur Fifth Avenue gelangte, die schweigend und fast menschenleer war. Nur die Verkehrslichter funktionierten, die ganze lange Straße wurde nach einem sinnlosen, entmenschten Willen rot und grün, so wie Völker ohne Grund plötzlich umgeschaltet wurden aus friedlichem Grün in die düsteren Fackeln kilometerweiten Rots. über dieser unheimlichen Landschaft: der Lautlosigkeit begann langsam der Himmel höher zu wachsen. Die Häuser wurden ebenfalls höher, sie schoben das Dunkel an sich empor wie Frauen, die sich entblößen, von Stockwerk zu Stockwerk, bis ganz oben die Kanten bleich sichtbar wurden und sich das gestaltlose Chaos mit einem fast fühlbaren Ruck von den Gebäuden löste, verschwamm und zerfloß. Ich ging und ging, ich wußte, daß Gehen und tiefes Atmen das einzige war, was mir immer geholfen hatte, und unwillkürlich blieb ich auf der breiten Fifth Avenue, auf der die Läden im grauer werdenden Tag verwelkten, als wären ihre eingesperrten Lichtkuben von Krebs befallen. Ich hielt mich auf der Straße der billigen Zivilisation und der Luxusgeschäfte, als gäben sie mir Sicherheit und sogar Trost, als schritte ich diese Avenue nutzloser Bedürfnisse ab, und zu beiden Seiten, hinter den Steinmauern, fließe bereits klebrig schwarz das Chaos dahin, unterirdisch noch, aber bereit, auch hier aus den Kanälen hervorzubrechen und alles zu überschwemmen. Die Nacht erlosch, die haltlose Stunde vor der Frühe nebelte durch die- Straßen, und über den Häuserblöcken erschien plötzlich, zart, jungfräulich, in Rosa, grauem Silber und einem Zugvögelflug von Lämmerwolken der junge Tag und legte seine ersten Lichtpfeile auf die obersten Stockwerke der höchsten Gebäude, die in lichtem Pastell jetzt über dem dunkleren Gewoge der Straße schwebten. Es war vorbei, dachte ich und blieb vor den Schaufenstern von Saks stehen, in denen verzauberte Mannequin-Puppen im Dornröschenschlaf erstarrt schienen. Pelze um den Hals, Stolen, Pelerinen und Nerzkragen darüber, ein Dutzend erfrorener Anna Kareninas auf der Schnepfenjagd in Rußland. Ich war auf einmal sehr hungrig und fiel in die nächste Frühstücksstube ein, die offen war.



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[3]

Der Erzähler muss für seinen Job als Kunstsachverständiger und -verkäufer, in dem er sich gut eingearbeitet hat, New York für einige Zeit verlassen, da er in Hollywood Aufgaben übertragen bekommen hat. Er verabschiedet sich von Natascha, seiner Geliebten. (Kap. 23, Ende)


»Wirst du mich betrügen?«

»Natürlich«, sagte sie.

»Ist das natürlich?«

»Ich betrüge dich nicht, wenn du da bist.«

Ich sah sie an. Ich wußte nicht, ob sie meinte, was sie sagte.
»Wenn jemand nicht da ist, ist das, als käme er nie wieder«, sagte sie. »Nicht sofort, aber sehr bald.«

»Wie bald?«

»Wie soll ich das wissen? Laß mich nicht allein, und du brauchst mich nie zu fragen.«

»Das ist bequem«, sagte ich.

»Es ist einfacher«, erwiderte sie. »Wenn jemand da ist, braucht man keinen andern. Wenn er nicht da ist, ist man allein, und wer kann schon allein sein? Ich nicht.«

»Geht das so schnell?« fragte ich, nun doch etwas beunruhigt. »Man tauscht einfach einen gegen den andern aus?«

Sie lachte. »Natürlich nicht. So ist das nicht. Es ist nicht einer gegen den andern – es ist Nichtalleinsein gegen Alleinsein. Männer können vielleicht allein sein, Frauen nicht.«

»Du kannst nicht allein sein?«

»Nicht gut, Robert. Ich bin ein Efeu. Allein krieche ich auf dem Boden herum und verfaule.«

»Auch in zwei Wochen schon?«

»Wer weiß, wie lange du wegbleibst. Ich glaube nie an Daten. Besonders nicht an Daten von Rückkehr.«

»Das sind ja schöne Aussichten!«

Sie warf sich herum und küßte mich. »Möchtest du lieber eine Tränenliese, die ins Kloster geht?«

»Zum Hierbleiben nicht, zum Weggehen schon.«

»Man kann nicht alles haben.«

»Das ist der traurigste Satz, den es gibt.«

»Nicht der traurigste. Der weiseste.«

Ich wußte, daß wir spielten, doch es war ein Spiel, in dem die Pfeile nicht stumpf waren. Die Worte drangen weiter als nur unter die Haut. »Ich würde hierbleiben, wenn ich könnte«, sagte ich. »In dieser Zeit nach Hollywood zu gehen, scheint mir genau das Verkehrte. Aber ich würde in einer Woche nichts mehr zu essen haben, wenn ich nicht mitginge. Silvers würde einen anderen Assistenten engagieren.«

Ich haßte mich, weil ich das sagte. Ich hatte mich nicht auf Erklärungen einlassen wollen, ich wollte nicht in eine Situation solcher Abhängigkeit geraten, in der ich Erklärungen abgeben mußte wie ein Schlappschwanz von Ehemann. Sie war schlau, dachte ich erbittert, sie hatte den Schauplatz verlegt. Ich kämpfte nicht mehr auf ihrem Grunde, sondern auf meinem, und das bedeutete Gefahr. Ich hatte das einmal von einem Stierkämpfer gelernt. »Ich werde mich damit abfinden müssen«, sagte ich und lachte.

Es gefiel ihr nicht, aber sie antwortete nicht darauf. »Es ist Herbst«, sagte sie in dem schnellen Wechsel von Stimmungen, den ich an ihr kannte, »und im Herbst sollte man nicht mehr allein sein. Es ist ohnehin schwer genug, ihn zu bestehen.«

»Du hast bereits Winter, Natascha. Du bist immer eine Jahreszeit voraus, hast du mir erklärt, die Wintermode ist mit Schneestürmen in vollem Gange.«

»Du weißt auf alles eine Antwort«, erklärte sie feindselig. »Immer weißt du einen Ausweg.«

»Für etwas weiß ich keinen Ausweg«, sagte ich. »Für dich!«

Ihr Gesicht veränderte sich. »Ich wollte, du würdest nicht lügen.« »Ich lüge nicht. Ich weiß wirklich keinen. Warum sollte ich auch?«

»Du bist immer voller Pläne. Du läßt dich nicht überraschen. Ich mich immer. Warum tust du es nicht?«
»Es ist mir immer schlecht bekommen. Nur bei dir nicht. Du bist eine Überraschung, die nie zur Gewohnheit wird.«
»Bleibst du heute nacht hier?«

»Ich bleibe hier, bis ich im Sturmschritt zum Bahnhof rennen muß.«
»Das brauchst du nicht. Du kannst ein Taxi nehmen.«
Wir schliefen wenig in dieser Nacht. Wir erwachten und liebten uns und schliefen ein, dicht aneinandergepreßt, und wachten auf und sprachen und liebten uns wieder oder fühlten nur unsere Wärme und das Geheimnis der Haut, die vereinigt und doch auf immer trennt. Wir ermatteten im Versuch, sie zu besiegen, wir stießen Rufe aus, wie man sie Pferden zuruft, um sie zu größerer Anstrengung anzufeuern, sinnlos, aus unterbewußten Quellen plötzlich aufspringend, wir haßten uns und liebten uns, wir schrien wie die Fuhrknechte miteinander, um tiefer in uns hineinzudringen, um unser Gehirn auszuleeren von allen künstlich aufgerichteten Grenzen, um näher heranzukommen an das Geheimnis des Windes, des Meeres und der Tiere, wir überschütteten uns mit dem Jargon der Huren und den Zärtlichkeiten der Liebenden, wir ermüdeten und wurden stiller, wir warteten auf die tiefe, braune und goldene Stille der letzten Entspanntheit, wenn selbst Worte zuviel der Mühe sind und man sie ohnehin nicht braucht – sie liegen fern, verstreut wie Steine nach einem starken Regen – wir warteten, und sie kam und sie war bei uns und wir fühlten sie: diese Stille, in der man nur noch Atem ist, nicht heftiger Atem, sondern leisester, der die Lungen kaum noch bewegt. Wir warteten darauf, wir sanken hinein, und Natasdia sank hindurch in den Schlaf. Ich aber sah sie an, und es dauerte lange, bis auch ich schlief. Ich sah sie an mit der geheimen Neugierde, die ich immer schon bei Schlafenden hatte, als wüßten sie etwas, was mir für immer verborgen war. Ich sah ihr gelöstes Gesicht mit den langen Wimpern, das mir durch die Schattenmagie des Schlafes entrückt war und nichts mehr von mir wußte, für das alle Schwüre, Schreie, Entzückungen der Stunde vorher nicht mehr existierten, für das auch ich nicht mehr da war, neben dem ich sterben konnte, ohne daß es etwas von mir wußte, ich sah es gierig und voll eines leisen Grauens an, diesen fremden Menschen neben mir, der nun schon das Nächste war, das ich hatte, und ich begriff plötzlich, daß man nur die Toten ganz hat, weil sie nie entfliehen können. Alles andere pulsierte und wechselte und trennte sich und verschob sich und war schon nicht mehr das gleiche, wenn es auftauchte. Die Toten allein waren treu. Das war ihre Macht.

Ich horchte auf den Wind, der in dieser Höhe fast immer um die Häuser strich. Ich fürchtete mich, einzuschlafen, ich scheuchte die Vergangenheit weg und betrachtete das Gesicht Nataschas, das jetzt zwischen den Brauen eine schmale Falte zeigte. Ich betrachtete es, und mir schien eine kurze Zeit, daß ich nahe daran war, etwas zu entdecken, das wie ein unbekannter und sanft beglänzter Raum war, von dem ich nichts geahnt hatte. Ich fühlte ein sehr ruhiges ekstatisches Entzücken, dessen stärkste Empfindung Weite war. Ich näherte mich vorsichtig und atemlos, und in dem Augenblick, in dem ich die letzte Bewegung machte, wußte ich es nicht mehr und war eingeschlafen.



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