Leseproben aus: Fritz Riemann, Grundformen der Angst



S. 9, 106 f., 199 f.



[1] Aus der Einleitung: Grundsätzliches zur Angst (S. 9)

[2] Der zwanghafte Typ: Angst vor der Vergänglichkeit (S. 106 f.)

[3] Schlussbetrachtung (Ausschnitt) (S. 199 f.)






[1]

Aus der Einleitung: Grundsätzliches zur Angst (S. 9)

Wenn wir Angst einmal "ohne Angst" betrachten, bekommen wir den Eindruck, daß sie einen Doppelaspekt hat: einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, läßt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr, läßt; uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und läßt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht; überwinden.

Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, Erstmals-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewußtsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll.


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[2]

Der zwanghafte Typ: Angst vor der Vergänglichkeit (S. 106 f.)

Wir wollen nun zur Schilderung der dritten Grundform der Angst übergehen, die damit gegeben ist: der Angst vor der Vergänglichkeit. Sie befällt uns um so heftiger, je mehr wir uns gegen sie absichern wollen. Malen wir uns zunächst wieder aus, welche Folgen es haben wird, wenn ein Mensch die Angst vor der Vergänglichkeit überwertig erlebt oder, von der Impulsseite her gesehen, überwertig das Streben nach Dauer und Sicherheit zu leben versucht – in der Sprache unseres Gleichnisses also das Zentripetale, das der Schwerkraft entspricht, einseitig betont.

Die allgemeinste Folge wird sein, daß er die Neigung hat, alles beim alten zu belassen. Änderungen jeder Art erinnern an die Vergänglichkeit, die er ja so weit wie möglich vermeiden will. Daher sucht er, immer das Gleiche, schon Bekannte und Vertraute wiederzufinden oder wiederherzustellen. Wenn sich etwas verändert, fühlt er sich gestört, beunruhigt, ja geängstigt. Er wird deshalb versuchen, Veränderungen zu unterbinden, aufzuhalten, oder einzuschränken, wenn es geht, zu verhindern und zu bekämpfen. Er wendet sich gegen Neuerungen, wo sie ihm begegnen, was aber immer mehr zu einer Sisyphusarbeit wird, denn das Leben ist immer im Fluß, alles ist in fortwährender Wandlung begriffen, "alles fließt" in immerwährendem Entstehen und Vergehen, das sich nicht aufhalten läßt. Wie kann dieser Versuch überhaupt aussehen? Man wird etwa an Meinungen, Erfahrungen, an Einstellungen, Grundsätzen und Gewohnheiten eisern festhalten und sie nach Möglichkeit zum immer gültigen Prinzip, zur unumstößlichen Regel, zum "ewigen Gesetz" machen wollen. Neuen Erfahrungen wird man ausweichen, oder, wenn das nicht möglich ist, sie umdeuten und versuchen, sie an das schon Bekannte und Gewußte anzugleichen. Das kann bis zur bewußten oder unbewußten Unredlichkeit gehen, indem man etwa Details des Neuen übersieht, sie tendenziös mißversteht oder einfach affektiv ablehnt mit Begründungen, die, oft fadenscheinig genug, durchschimmern lassen, daß es einem nicht um Objektivität geht, sondern um die Rettung einer festgehaltenen Einstellung, die nicht erschüttert werden darf. Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Beispiele dafür und von unfruchtbarem Streiten darüber, wer "Recht" hat. Hält man so am Bekannten und Gewohnten fest, geht man an alles Neue unvermeidlich bereits mit einem Vor-urteil heran, das einen vor Überraschung, vor Ungewohntem und Unbekanntem absichern soll. Dann verfällt man zwar nicht der Gefahr, Dinge ungeprüft hinzunehmen in naivem Fortschrittsglauben, unterliegt aber um so mehr der anderen Gefahr, Neuem gegenüber zu wenig geöffnet zu sein und dadurch Entwicklungen – auch die eigene – zu bremsen, zu hemmen, manchmal sogar zu verhindern.

Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherungsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewußte Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit. Sie gleichen jenem Mann, der erst ins Wasser gehen wollte, wenn er schwimmen konnte – sie sind sozusagen die Trockenkursler des Lebens. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen können nun wieder alle Schweregrade annehmen und sich in den seltsamsten Formen äußern.

Ein Mann, Mitte der dreißig, besaß eine umfangreiche Bibliothek. Er ging indessen immer in Leihbüchereien und benutzte seine eigenen Bücher nicht, mit der "Begründung", er könne einmal an einen Ort versetzt werden, wo es keine Leihbücherei gebe – was täte er dann, wenn er die eigenen Bücher schon alle gelesen hätte? Hier hat die Voraussicht und die Angst davor, daß etwas einmal zu Ende gehen könne, schon einen recht grotesken Grad angenommen.

Manche Menschen mit zwanghaften Zügen haben volle Kleiderschränke, tragen aber immer nur die alten Sachen, um "Reserven" zu haben; das Herz tut ihnen weh, wenn sie etwas Neues benutzen sollen – lieber riskieren sie es, daß die Sachen altmodisch oder von Motten zerfressen und niemals getragen werden. Etwas Neues benutzen heißt ja, es der Zeit und damit der Vergänglichkeit auszusetzen, es abzunutzen und damit schon sein Ende absehen zu können. Alles, was zu Ende geht, erinnert aber an die Vergänglichkeit, letztlich an den Tod.


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[3]

Schlussbetrachtung (Ausschnitt) (S. 199 f.)

"Wenn jeder alles von dem andern wüßte, Es würde jeder gern und leicht verzeihen, Es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut".
(Hafis)


Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer verschiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persönlichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer sind, etwas von uns selbst aufgeben müssen, uns einem anderen ein Stück ausliefern. Daher ist alle Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust.

Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiedenen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individuation bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden, um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren.

Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen.

Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unausweichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben, desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten.

Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind, nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit dieser auseinandersetzen. In der Verschiebung, Verharmlosung und gleichsam karikierenden Verzerrung der Daseinsängste, erscheinen die neurotischen Ängste als unsinnig - sie quälen und belasten nur noch. Wir sollten sie indessen als Alarmzeichen verstehen, als Hinweis darauf, daß wir auf irgendeine Weise nicht "richtig liegen", daß wir etwas vermeiden wollen, statt uns damit auseinanderzusetzen, etwas Wesentlicheres, das die verschobene Angst zudecken will. Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiterschreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmende und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab, die zu unserem Menschsein gehören.

So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzudenkender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden, wächst uns ein neues Können zu - jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt.

( ... )


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