Leseproben aus: Fritz Riemann, Die Fähigkeit zu lieben



S. 22 ff., 61 ff., 74 ff., 134 ff.



[1] Aus dem Kapitel "Über die Liebesfähigkeit" (S. 22 ff.)

[2] Aus dem Kapitel "Sexualität und Liebe" (S. 61 ff.)

[3] Aus dem Kapitel "Liebe und Bindung – die bedingungslose Liebe" (S. 74 ff.)

[4] Aus dem Kapitel "Angst – ein Hemmnis der Liebe (S. 134 ff.)




[1]

Aus dem Kapitel "Über die Liebesfähigkeit" (S. 22 ff.)


Die innige Verbundenheit mit der Mutter sollten wir zumindest als Kleinkind alle erfahren dürfen. In den Augen einer feinfühligen Mutter erlebt sich das Kind gespiegelt in jener Unbedingtheit des Sich-geliebt-Fühlens, nach der wir uns unser ganzes Leben hindurch zurücksehnen, die wir in jeder Liebe wieder zu finden hoffen. Aber auch das hoffen wir wieder zu finden, dass wir von einem Partner die gleiche Sicherheit widergespiegelt bekommen, dass unsere eigene Liebe ihn so beglückt, wie sie einst die Mutter beglückte. In solchem Geben und Empfangen entfalten sich die ersten Keime unserer liebenden mitmenschlichen Kommunikation. Das Gefühl unbedingter Geborgenheit vermittelt uns, wenn wir es erleben durften, ein Lebensgrundgefühl, dass es eine Freude ist, einfach da zu sein; alle unsere Wünsche und Bedürfnisse werden ohne unser Zutun erfüllt und befriedigt, es werden noch keine Ansprüche und Forderungen an uns gestellt. Die Sehnsucht nach diesem verlorenen Paradies, aus dem wir herauswachsen müssen) hat wohl dazu geführt, dass wir die Vorstellung der Rückkehr in ein Paradies nach dem Tode erhoffen, in die gleiche zeitlose Geborgenheit und Glückseligkeit, von der wir im Grunde unseres Wesens noch eine Ahnung in uns tragen können.

Wenn wir als das Gemeinsame in allen Formen des Liebens jenes Transzendieren erkannten, das uns über uns selbst hinausführt, lässt sich daraus schließen, dass Liebe immer mit einem gewissen Selbstopfer verbunden ist. Schon die Bereitschaft, uns einem anderen überhaupt zuzuwenden, ihn verstehen und uns in ihn einfühlen zu wollen, setzt voraus, dass wir ihm in uns Raum geben, uns ihm gegenüber öffnen. So gehört zum Lieben immer auch die Selbstvergessenheit, das Von-sich-absehen-Können, jenes Selbstopfer, das wir mit der Hingabe meinen. Ob wir dabei nach der Ergänzung, nach der "Ganzheit" suchen, die wir in einem Du zu finden hoffen; ob wir uns von der Angst vor der Einsamkeit und Verlassenheit des Individuums befreien wollen im Austausch zweier Erlebniswelten oder im Zugehören zu einem Partner oder einer Gemeinschaft; ob wir lieben und geliebt werden wollen – immer suchen wir nach jemandem oder etwas außer uns; und zutiefst steht dahinter wohl die Sehnsucht nach der Selbstfindung, die ohne einen Partner im weitesten Wortsinn nicht zu erreichen ist, denn ohne Kommunikation gibt es keine Individuation. Und die Selbstfindung gelingt uns umso reicher, je mehr wir unsere egoistische Ichbefangenheit vergessen.

Wir haben aber allem Schönen und uns Beglückenden gegenüber die Sehnsucht, dass es dauern möge; wir möchten unverändert festhalten, was wir lieben, in der Ungetrübtheit und Intensität, mit der wir es zuerst erlebten. Wir möchten den "Zauber des Anfangs", von dem Hermann Hesse in einem Gedicht spricht, festhalten und ihm Dauer verleihen – eine Dauer, die uns weder in der Liebe noch sonst gegeben ist. Solange wir glauben, etwas unverändert beibehalten, es gleichsam aus der Zeit herausnehmen zu können, solange wir es vor der Wandlung, damit aber auch zugleich vor der Entwicklung bewahren möchten, die ja immer auch Veränderung meint, entgleitet es um so sicherer unseren Händen. Denn die Entwicklung ist es gerade, die, scheinbar paradox, erst Dauer gewährt. Die Verzauberung und Beglückung, die Erschütterung und das Ergriffensein, die Leidenschaftlichkeit und die Steigerung unseres Lebensgefühls, die am Anfang einer Liebe stehen, lassen sich nicht unverändert festhalten – denn dafür müsste die Zeit stillstehen, und wir selbst und das Du dürften sich nicht verändern, weder innerlich noch äußerlich. Liebe muss sich demnach wandeln können, muss sich von dem Fließen der Zeit, dem alles Lebendige unterliegt, ergreifen lassen, denn nur so kann sie andauern; nur dem Unveränderlichen ist keine Dauer gewährt.

Die griechische Legende von Endymion schildert diesen Wunsch nach Dauer und Unveränderlichkeit besonders eindrucksvoll: Dem schlafenden Jüngling Endymion drückte die Göttin Selene einen Kuss auf die Stirn, der ihn mit solcher Glückseligkeit erfüllte, dass er den Göttervater bat, ewig leben zu dürfen, in ewiger Jugend und ewigem Schlaf – Zeus erfüllte ihm die Bitte. Etwas von diesem Endymion ist in uns allen; aber die Legende zeigt uns auch, um welchen Preis die Erfüllung dieser Sehnsucht nach ewiger Dauer allein möglich wäre: Wir müssten unsterblich sein, ewig jung bleiben, egoistisch nur empfangend in uns selbst begrenzt, und wir dürften zugleich nicht zum Bewusstsein unser selbst erwachen.

So scheinen die Zeit und die Bewusstheit die großen Feinde der Liebe zu sein – die Zeit, die nie stillsteht, die uns wandelt und verwandelt, die uns altern und weniger attraktiv werden lässt, und die Bewusstheit unser selbst, die uns aus träumendem Dahindämmern wieder zum Bewusstsein der Wirklichkeit erwachen lässt, in der wir Ich und Du wieder als getrennt erleben und um die Vergänglichkeit wissen. Viele suchen daher immer wieder jenen Zauber des Anfangs, um die Illusion der Dauer beibehalten zu können, lernen aber so auch immer nur den Anfang des Liebens kennen. Denn die Liebe hat nicht nur jenen Zauber des Anfangs, sie hat auch die Möglichkeit, sich zu entwickeln, sich zu vertiefen in immer größere Durchlässigkeit für das, was wir lieben – Liebe kann reifen, und in dieser Wandlungsmöglichkeit liegt eine neue, andere Form der Dauer, in der die Zeit nicht mehr nur zum Gegner wird, sondern solche Entfaltung erst gewährt. Wer immer nur wieder die Beglückung neuer Anfänge sucht, lernt die Liebe in dieser ihrer reifenden und uns vertiefenden Form nie kennen. So enthält die Zeit immer auch die Chance für das vertiefende Wachsen einer Liebe, und polar ergänzend zur Bedrohung als Vergänglichkeit kann uns die Zeit auch Dauer ermöglichen.

Ähnlich verhält es sich mit der Bewusstheit unser selbst; wollten wir die Selbstvergessenheit als Dauer anstreben, läge darin keine Entwicklungsmöglichkeit mehr, sondern es käme zur Stagnation in der Beziehung; das Aufgeben unseres Ichbewusstseins ist uns nur für Augenblicke gewährt; indem wir uns wieder in uns selbst zurücknehmen müssen, kommt es erst zu der fruchtbaren Spannung zwischen Ich und Du, die für beide bereichernd werden kann.

Aber mit dem Wunsch nach unveränderter Dauer haben wir nur die eine Seite der Gefährdung der Liebe aufgezeigt, die ihr durch die Vergänglichkeit droht. Wir haben aber neben diesem Wunsch nach der Dauer auch den Wunsch nach Veränderung, nach Neuem, nach der Wandlung; und dies wiederum um so intensiver, je weniger wir einer Partnerschaft Entwicklungsmöglichkeiten und Wandlungen zugestehen wollen, je weniger wir die Bereitschaft haben, die Entwicklung eines Du zu bejahen und ihm unsere Liebe nicht zu entziehen, wenn es nicht mehr dem Wesen entspricht, das zu lieben wir ursprünglich bereit waren. Je gleichförmiger wir eine Liebesbeziehung leben, umso mehr drohen Gewohnheit, Abstumpfung und Langeweile, die die Liebe ersticken. Dann lebt man nebeneinanderher statt miteinander und füreinander, man hat sich "nichts mehr zu sagen", und unterschwellig schwelt oder tritt offen zutage der Hass, das Misstrauen, die Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit. Dann sucht man nach neuen Erlebnissen und erwartet von ihnen neue Anreize und Bereicherung, bis auch sie wieder Gewohnheit geworden sind, denn der Wechsel der Beziehungen allein gibt nicht die gesuchte Befriedigung.

Es gibt keine Garantien dafür, dass unsere Liebesbereitschaft einem geliebten Wesen gegenüber sich erhalten lässt – wir selbst verändern uns mit der Zeit und der andere auch, und es wird umso schwerer, unsere Liebesbereitschaft zu erhalten, je mehr sie an Äußerlichkeiten und an bestimmte Wunschvorstellungen von einem Du gebunden war. Alle Entwicklungen belasten unser Liebesvermögen. werden zur Forderung, neu und anders zu lieben, oder führen zum Zurücknehmen unserer Liebe. Die romantische Vorstellung einer unwandelbaren, durch nichts gefährdeten Liebe entspricht nicht nur nicht der Wirklichkeit des Lebens, sie wird auch leicht zu einer Erwartung, in der dann schon der Keim der Enttäuschung liegt – die Liebe ist als Phänomen großartig genug, wir brauchen sie nicht noch romantisch zu idealisieren.

So liegt in jeder Liebe die Forderung zur Wandlung: Wie wir das heranwachsende Kind nicht mehr mit der gleichen unbedingten und fraglosen Liebe weiterlieben können wie das Kleinkind; wie sich unsere Liebesfähigkeit mit und an dem Kind weiterentwickeln und reifen, erwachsen werden muss wie das Kind selbst; wie die Kindesliebe von echohaftem Antworten und selbstverständlicher Liebeserwartung reifen muss zur eigenen Liebesbereitschaft, die auch Versagungen und Enttäuschungen überdauert, so muss sich jede Liebe wandeln und reifen, will sie lebendig bestehen bleiben.

So wird uns die – fast möchte ich sagen – Zumutung deutlich, die allem Lieben auferlegt ist und es so erschwert: Das, was wir ursprünglich lieben an einem anderen, bleibt sich nicht gleich; und nicht genug damit, wir selbst bleiben auch nicht, die wir waren. Daher ist es um vieles leichter, etwas zu lieben, was sich nicht verändert: die Erinnerung, die Vergangenheit, einen Toten oder eine Idee. Darum ist es auch leichter, die Liebe selbst zu lieben, als das Du, denn dann hängt unsere Liebesbereitschaft nur noch von uns selbst ab; und selbst eine unglückliche Liebe ist weniger gefährdet durch die Zeit und durch die Entwicklung des anderen – sie hängt viel mehr von uns selbst ab und kann nur mit uns selbst aufhören. Darum ist es auch leichter, etwas zu lieben, das sich leicht ersetzen lässt durch Ähnliches – und etwas oder jemand lässt sich umso leichter durch Ähnliches ersetzen, je weniger tief und individuell bezogen wir geliebt haben. So fordert die Liebe zu etwas Lebendigem von uns, dies Lebendige durch alle seine Entwicklungen und Wandlungen hindurch zu lieben; hierin liegt die Großartigkeit der Liebe, aber auch ihre Gefährdung. Immer werden wir schwanken zwischen dem Wunsch, das, was wir lieben, immer tiefer und umfassender zu lieben, und dem entgegengesetzten Wunsch, die Liebe immer wieder an neuen Menschen und in neuen Gestalten zu erleben. Droht der einen Form der Liebe die Gewohnheit und Abstumpfung, so der anderen die Verflachung und Austauschbarkeit.



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[2]

Aus dem Kapitel "Sexualität und Liebe" (S. 61 ff.)


Es ist eine alte Weisheit, dass ,der Mensch immer das wieder zu finden sucht, was ihm einmal tiefste Befriedigung und Beglückung gegeben hat. Die Franzosen haben es so ausgedrückt: on revient toujours à ses premiers amours – das heißt, man kehrt immer wieder zu seiner ersten Liebe zurück, und unbewusst suchen wir alle viel häufiger, als wir meinen, in der Frau das Bild der Mutter, im Mann das Bild des Vaters als unserer ersten Liebe. Aber auch mit der Lust verhält es sich ähnlich: Was wir einmal mit tiefer Lust erlebt haben, suchen wir wiederzufinden, und hier überschneiden sich in oft seltsamer und unerklärlicher Weise Schicksalhaftes und Zufälliges oder was wir für Zufälliges halten. Wenn die innerseelische Bereitschaft, das emotionale Geöffnetsein und das erotisch-sinnliche Angeregtsein zusammenfallen in einem bestimmten Erlebnis, kann das zu einer Beglückung führen, die wir immer wieder zu finden suchen, und dieses zeitliche Zusammenfallen von innerer Be-reitschaft und äußerem Anreiz kann uns gleichsam auf jenes Erlebnis programmieren. Ob dieses durch einen Menschen ausgelöst wurde, durch ein Natur- oder Kunsterlebnis oder was es sonst noch an Möglichkeiten gibt, darin liegt das Schicksalhafte oder scheinbar Zufällige solcher Prägungen. Ein Duft, ein Klang, eine Gebärde oder eine Gestalt können uns so erreichen, uns so beglücken, dass wir immer wieder nach ihnen suchen, dass wir fasziniert sind, wenn wir ihnen wieder begegnen, und der Mensch ist umso reicher und begabter für Glück, je intensiver er so zu lieben vermag und je mehr in der Welt ihn derartig ergreifen und beglücken kann, denn, wie Georges Bernanos einmal gesagt hat, "nichts lieben, das ist die Hölle".

Auch der in der Entwicklung seiner Liebesfähigkeit gestörte Mensch hängt an seiner "ersten Liebe", aber es ist seine Tragik, dass er diese erste Liebe nur eingeengt und verkümmert erleben durfte. Je ärmer eine Kindheit an echter Geborgenheit und Liebe war, an ganzheitlichen Liebeserfahrungen und an der Möglichkeit, etwas zu lieben, umso eher wird sich die Liebesfähigkeit später an ähnlich eingeschränkte oder fragmentarische Lusterlebnisse heften, an Triebbefriedigungen, die umso mehr nur noch sexuell funktionelle Bedeutung haben, je mehr die erlebte Lust schon früher auf Sexuelles beschränkt gewesen war. War unsere erste Liebe auch bereits derart verarmt, so war sie dennoch unsere erste Liebe, und wir suchen sie wiederzufinden, da wir keine andere kennen gelernt haben.

Glücklicherweise ist unsere Fähigkeit, etwas mit Lust und Liebe zu ergreifen, fast unbegrenzt, und glücklicherweise ist die Welt für den Menschen voller ebenfalls unbegrenzter Möglichkeiten, etwas an und in ihr zu finden, was er mit Lust und Liebe ergreifen kann. Wir müssen aber in der Erziehung und auch später in unserem Leben mehr darauf bedacht sein, dass sich die Lust nicht von der Liebe ablöst und isoliert. Hier sehe ich die Hauptgefahr der Überbetonung der Lustseite, der reinen Sexualität. Genau betrachtet, gibt es die Liebe ohne Lust überhaupt nicht, denn das Lieben an sich ist etwas Lustvolles " erst die moralische Trennung von Liebe und Sexualität, wobei Lust ausnahmslos mit sexueller Lust gleichgesetzt wurde, hat die Meinung aufkommen lassen, jede Lust sei sexuell, was dann die oft recht mühsamen und konstruierten Theorien über Liebe und Sexualität hat entstehen lassen, die auch die Psychoanalyse oft genug aufgestellt hat. Sexuelle Lust ist aber nur eine Form der uns möglichen Lusterlebnisse, vielleicht die intensivste, sicher nicht die einzige, und alle Lust aus der Sexualität erklären zu wollen, zeigt nur das Befangensein in einem theoretischen Konzept, für dessen Stimmigkeit der Reichtum und die Fülle des Lebens geopfert werden müssen.



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[3]

Aus dem Kapitel "Liebe und Bindung – die bedingungslose Liebe" (S. 74 ff.)


Verdanken wir der kindlichen Bindungsentwicklung die Sehnsucht nach der Ausschließlichkeit unserer Liebe zu einem Menschen, nach Innigkeit, Vertrautheit und uns wie ihn beglückendem Austausch mit ihm, sehen wir doch zugleich, wie groß hierbei die Gefahr ist, in kindliche Abhängigkeit zu geraten oder in ihr stecken zu bleiben. Was hier der Liebe zur Gefahr werden kann, wird durch die Verlustangst, die Angst vor der Einsamkeit und durch ein zu großes Bedürfnis nach Geliebtwerden konstelliert. Verlustangst gehört zu jeder tieferen Liebe; die Gemeinsamkeit des Erlebten und Erlittenen, die gemeinsamen Erinnerungen, Freuden und Leiden, sich aneinander entwickelt zu haben, die erfahrenen und überstandenen Krisen, das wachsende gegenseitige Verstehen, die Kinder und vieles andere machen uns einander unersetzlich, wenn wir uns überhaupt so tief einzulassen wagen mit einem Partner, dass er dieses Gewicht, diese Bedeutung für uns bekommt. Im gleichen Maße wäre sein Verlust für uns ein Schlag, der uns in unserem Zentrum träfe. So unvermeidlich daher die Verlustangstzur Liebe gehört, kann sie doch auf zwei recht verschiedene Weisen bekämpft werden. Versuchen wir sie zu vermeiden – was nie wirklich gelingen kann, da wir sie höchstens vergessen, verdrängen können –, führt das zu den beschriebenen Formen von Partnerschaften, in denen wir uns von dem Partner oder ihn von uns abhängig zu machen suchen. Zu den beschriebenen Formen käme noch die hinzu, den Partner von uns abhängig zu machen, indem wir ihn uns aus Dankbarkeit verpflichten, einen moralischen Druck auf ihn ausüben – nicht selten für Handlungen und Haltungen, die der andere gar nicht gefordert hat. Hier besteht eine schmale Grenze zwischen aufopfernder Liebe und Dankbarkeit erwartender Liebe, die sich uns umso leichter verschiebt in die letztere Richtung, je weniger Selbstwertgefühl wir haben.

Wären wir in der Lage, die Verlustangst als immer bestehende Möglichkeit einzubeziehen, und wagten wir trotzdem, tief zu lieben, könnte uns das dazu führen, die jeweilige Gegenwart so intensiv wie möglich zu leben. Es ist auch sonst so: Wenn wir den Tod, vor allem auch unseren eigenen, bewusst in unser Leben als immer möglich einbeziehen, leben wir intensiver. Verlusterlebnisse und auch das eigene Sterben sind leichter zu ertragen, wenn wir geliebt und gelebt haben, aber um so schwerer, je mehr wir damit gespart haben. Die Bedrohtheit von allem, was wir lieben, gehört zur Liebe, und die einzige Sicherung dagegen wäre, nichts und niemanden zu lieben – aber wer in der Liebe auf Sicherheit aus ist, der sollte gar nicht erst zu lieben anfangen, denn Lieben ist immer auch ein Wagnis.

Eine ebenso schmale Grenze trennt unseren Wunsch nach Ausschließlichkeit von einem eifersüchtigen Totalanspruch auf den Partner. Auch die Eifersucht gehört zur Liebe; sie kann indessen recht verschieden motiviert sein, wie wir noch sehen werden. Nimmt sie nicht die Form an, dass man dem Partner überhaupt keine Freiheit lässt und das noch als besonders große Liebe vor sich und ihm tarnt, vielleicht auch wirklich dafür hält, gehört Eifersucht zu jeder tieferen Liebe zumindest in der Form hinzu, dass man bestimmte Dinge nur mit seinem Partner gemeinsam haben und erleben möchte. Hier wie überall lässt sich keine allgemein gültige Regel dafür angeben, wie eng oder wie weit man die Grenzen dieser Ausschließlichkeit zieht, und hier wie überall ragen unsere Kindheitserlebnisse und -erfahrungen in unser Leben herein im Wunsch nach der Wiederherstellung oder nach dem Vermeiden früherer Erfahrungen, die uns beglückt oder aber gequält haben. Der Wunsch nach Ausschließlichkeit gehört zum Wagnis jeden tieferen Liebens, aber er darf kein totaler Besitzanspruch sein, sondern soll die Basis abgeben für etwas, das in solcher Form nur zwischen zwei sich Liebenden wachsen kann: Verlässlichkeit, gemeinsame "Geschichte" im Sinne von gemeinsam Erlebtem und Gestaltetem, Unbedingtheit des Füreinander- Daseins und die Bereitschaft, auf das zu verzichten, was diese Gemeinschaft prinzipiell bedrohen und in Frage stellen würde. Wie eng oder wie weit die Einzelnen diese Basis füreinander brauchen, lässt sich nicht verallgemeinern, wie wir uns überhaupt auf dem Gebiet der Liebe davor hüten sollten, Verallgemeinerungen zu fordern oder zu vertreten, hinter denen meist moralisch fragwürdige Motive und mangelnde psychologische Erfahrung stehen, wenn nicht gar kirchliche oder politische Machtgesichtspunkte.



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[4]

Aus dem Kapitel "Angst – ein Hemmnis der Liebe (S. 134 ff.)


Die Angst vor der Bedrohtheit unseres Daseins in der Welt, die Angst vor Trennung und Verlust, die Angst vor Schuld und Strafe und schließlich die Angst vor der Bedrohtheit unseres Selbstwertgefühles und unserer Identität – das sind die Grundängste, die unvermeidlich zu unserer menschlichen Existenz gehören. Wir alle machen in den Entwicklungsjahren der Kindheit unsere ersten Erfahrungen mit diesen Ängsten. Ihre Intensität und ihre Verarbeitungsmöglichkeiten hängen sehr entscheidend von unseren frühkindlichen Erfahrungen ab. Je nach den Lücken und Erschwerungen in unserer Entwicklung werden wir für bestimmte Ängste besonders, für andere weniger anfällig sein. Aber als Erwachsene haben wir, im Vergleich zum Kinde, viel mehr Fähigkeiten zur Angstbewältigung und Angstüberwindung: Erkenntnis und Wissen, Hoffnung und Glauben, Mut und Verantwortungsbereitschaft, Können und Wahrhaftigkeit vermögen wir gegen die Angst zu mobilisieren. Und wir können es lernen, die Angst in kleinen Teilschritten zu überwinden, in einem Lern- und Übungsvorgang. bis wir stark genug geworden sind, uns auch mit größeren Ängsten auseinander zu setzen.

Ein Leben ohne Angst gibt es nicht im Bereich des Menschlichen. Aber die Angst hat nicht nur einen bedrückenden und quälenden Aspekt, sondern sie enthält auch immer einen Reifungsimpuls: Der Mut, etwas neu zu wagen, sich der Angst zu stellen, lässt uns neue Erfahrungen mit uns selbst und mit der Welt machen und gibt uns die Chance, unsere Kindheitsängste zu überwinden. So kann Angst zum Antrieb für neue Entwicklungen werden, und das scheint uns ein tröstlicher Aspekt zu sein, wenn sie auch damit nicht aus der Welt geschafft ist. So viel ist sicher, dass das fortgesetzte Ausweichen vor einer Angst keine Hilfe ist – sie staut sich dann nur umso intensiver in uns auf.
Was wir aber aus diesen Überlegungen lernen können: Eine gesunde Erziehung kann uns später viele Ängste ersparen. Darum sollten Eltern und Erzieher mehr darüber wissen, was für das Kind in den ersten Lebensjahren unbedingt notwendig ist, welches Verhalten, welche Unterlassungen oder Einschränkungen bei ihm Ängste setzen, die vermeidbar sind. Würden uns die vermeidbaren Ängste wirklich erspart, wäre schon sehr viel gewonnen. Denn auf einer gesunden Basis hat der Mensch die Kraft, mit den Ängsten seines Daseins fertig zu werden. Nur bei schweren Störungen in unserer frühen Kindheit können sie später unerträgliche Formen annehmen, sodass wir sie allein nicht mehr bewältigen können, sondern therapeutische Hilfe brauchen. Indessen kann schon das Wissen, dass große Ängste, die in keinem Verhältnis zur wirklichen Situation stehen, mit Sicherheit aus der Kindheit stammen, eine Hilfe bedeuten. Sie sind dann nicht mehr so irrational und unverständlich, sondern verstehbarer geworden. Und dieses Wissen vermag uns vielleicht den Mut und den Glauben zu geben, mit der Angst fertig werden zu können, weil wir ja nicht mehr das hilflose Kind von damals sind, das seiner Angst ohnmächtig ausgeliefert war. Wir haben inzwischen Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, die wir nur anzuwenden brauchen, um allmählich das Lähmende und Erdrückende der Angst zumindest aufzulockern und zu erleichtern. Jede Angstbewältigung ist ein kleiner Sieg, der uns stärker macht. Oft brauchen wir nur die Angst bewusst anzusehen, damit sich das Gefürchtete klarer erkennen lässt, das durch das Wegblicken aus Angst vor der Angst uns viel bedrohlicher erscheint, als es meist ist.



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