Leseprobe aus: Christiane Rochefort, Frühling für Anfänger



Ausgabe: suhrkamp Taschenbuch 532, 1979, S. 7 ff.



Dies ist der Anfang der Geschichte. Er sagt eigentlich alles.

Meine augenblickliche Lage, ich stehe allein und mit leeren Händen im Hof, die Vergangenheit ist tot, die Zukunft noch nicht geboren, läßt sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen: beschissen. Das mag brutal klingen, aber es ist so. Um ehrlich zu sein, ich habe zu nichts anderem Lust als allem den Rücken zu kehren und fortzugehen. Wohin? Überallhin. Aber man kann nicht überall hingehen. Man kann nicht allem den Rücken kehren. Das ist geometrisch unmöglich. Also? Also nichts. Es ist alles beschissen.

Was ist eigentlich passiert - man könnte ruhig sagen: nichts. Ich habe mich zu Tisch gesetzt. Der Alte hat gesagt: rück etwas zur Seite, du versperrst mir den Bildschirm. Es war nichts auf dem Bildschirm.

"Aber auf dem Bildschirm ist doch nichts ..."

"Du sollst zur Seite rücken."

"Aber ..."

Das ist doch wirklich blöd, oder nicht?

"Ich rück zur Seite, sobald was auf dem Bildschirm ist." Ich hab' das ganz ruhig gesagt, in vernünftigem Ton; ganz normal. Er ist richtig bleich geworden. Mit stierem Blick. Eine furchtbare Sache, in Sekundenschnelle. Und das wegen zehn Zentimetern, nicht einmal, die außerdem zu nichts nützten ... Sie hat sich rausgehalten. Sie sah uns an, einen nach dem ändern, und wußte nicht, was tun.

"Du sollst zur Seite rücken, hab' ich gesagt."

Ich bin aufgestanden und weggegangen. So wie ich war.

Ich habe keine Zeit gehabt nachzudenken. Ich wußte eigentlich gar nicht, daß ich wegging. Als ich es gemerkt habe, habe ich mir gesagt: ich hätte einen Koffer mitnehmen sollen. Aber wozu einen Koffer, was hätte ich schon damit anfangen können, dort, wo ich hinwollte: so etwas wie nach Tahiti. Er gäbe mir höchstens einen Emigrantenanstrich und würde mir lästig fallen. Mit den Händen in den Taschen hingegen, wer weiß da was? Das ist einer, der herumläuft wie alle ändern, vielleicht geht er zur Arbeit oder zur Schule oder ganz einfach spazieren und außerdem fragt sich das niemand.

Wenn ich mirs recht überlege, wollte ich auch nicht nach Tahiti. Tahiti gibt es nicht. Es gibt keinen dieser Orte. Ich meine in Wirklichkeit. Sicher, sie sind auf den Landkarten, das ist aber auch alles. Ich habe einmal in einem Film Amerikaner gesehen, die dick waren wie weiße Würmer und auf einer exotischen, palmenbestandenen Insel, die aussah, als sei sie nur ihretwegen aus dem Wasser gekommen, Hula-Hula lernten, wie kann man nur so häßlich sein und es so wenig wissen? Man hätte meinen können, man sei im Vorort Kremlin-Bicêtre. Ich weiß nicht mehr, wo ich hinauswollte mit meiner Geschichte, wahrscheinlich bin ich abgeschweift, ich habe einen Hang, mich leicht zu verlieren, wo war ich doch gleich? Ach ja, anderswo, ich bin nicht weggegangen, um anderswo hinzugehen, das es übrigens gar nicht gibt. Das Dumme: wenn ich nicht anderswo hingehe, wo gehe ich dann hin, da hier meines Bleibens nicht ist (kommt gar nicht in Frage, vorbei, jetzt, wo ich weg bin, bleibe ich es) – Nirgendwohin, seien wir logisch.

Ich bin also logischerweise stehengeblieben, im Hof, inmitten der Häuser. Ich habe mir die Fenster angeschaut: hinter allen Fenstern die gleiche Geschichte eines Bildschirms, den man versperrt, und der Vater sagt zum Sohn, er solle zur Seite rücken, und der Sohn geht weg, um nirgendwo hinzugehen. Muß, da es dieselbe Zeit war. Leider war außer mir niemand im Hof. Normalerweise hätten wir bei meinem System tausend sein müssen.

Wenn wir tausend gewesen wären, wären wir alle zusammen wieder hinaufgegangen und hätten alle Fernsehapparate kaputtgeschlagen. Zum Beispiel. Auf jeden Fall besser, als sich nach Tahiti zu verkriechen, selbst wenn man annimmt, daß man dort von morgens bis abends unter Palmen tanzt. Ich merkte auf einmal, daß ich ganz dumm um mich sah, ob "die andern" nicht kämen; daß ich praktisch wartete, daß sie kämen. So bin ich: ich gehe weg und dann überhole ich mich; ich drehe mich um, ich bin nicht mehr da, und ich brauche eine Zeitlang, um mich zurechtzufinden. Eines Tages kommt es noch soweit, daß ich mich ganz verliere. Aber kurz und gut, ich war allein, ich spreche nicht von den verschiedenen Heinis, die in ihr trautes Heim zurückkehrten. Es gab da keine Logik. Und ich mußte mich lösen von diesem Hof, der nicht der Rede wert war. Doch wohin gehen?

"Geh nur, du wirst schon sehen."

Als ich das laut zu mir selber gesagt habe, habe ich mich richtig erleichtert gefühlt. Es stimmte. Wohin war nicht das richtige Wort. Was war das richtige Wort? Es mußte eins geben, ich brauchte es nur zu suchen und würde alles verstehen. Ich habe mehrere ausprobiert. Wie. Wann. Was. Wozu. Warum. Also. Und dann. Keines enthielt die Lösung. Wahrscheinlich liegt es daran, daß mein Wortschatz nicht sehr groß ist. In der Schule haben sie mir immer vorgeworfen: "Darstellung treffend, aber Wortschatz zu beschränkt", so sahen gewöhnlich die Randbemerkungen in meinen Heften aus.




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