Leseproben aus: J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen



S. 45 ff., 214 ff., 238 ff.



[1] Holden Caulfield weiß, dass er von der Schule fliegen wird. Es sind seine letzten Tage, die er dort verbringt. Er unterhält sich mit seinem Schulkameraden Stradlater (S. 45 ff.)

[2] Holden hat beschlossen, von zu Hause abzuhauen; heimlich besucht er seine kleine Schwester Phoebe, an der er sehr hängt (S. 214 ff.)

[3] Es gibt einen Lehrer einer früheren Schule, Mr. Antolini, zu dem Holden ein gutes Verhältnis hat. Ihn sucht er auf (S. 238 ff.)




[1]

Holden Caulfield weiß, dass er von der Schule fliegen wird. Es sind seine letzten Tage, die er dort verbringt. Er unterhält sich mit seinem Schulkameraden Stradlater (S. 45 ff.)



»Wo hast′n die her?«, sagte Stradlater. Er meinte meine Jägermütze. Er hatte sie noch nie gesehen.

Ich war sowieso außer Atem, also hörte ich auf rumzualbern. Ich nahm die Mütze ab und betrachtete sie ungefähr zum neunzigsten Mal. »Hab ich heut Vormittag in New York gekauft. Für einen Dollar. Gefällt sie dir?«

Stradlater nickte. »Schick«, sagte er. Aber er schmeichelte mir bloß, denn gleich darauf sagte er: »Hör mal. Schreibst du mir nun den Aufsatz? Das muss ich wissen.«

»Wenn ich Zeit dafür hab, ja. Wenn nicht, dann nicht«, sagte ich. Ich ging wieder zu dem Waschbecken neben ihm und setzte mich darauf. »Mit wem gehst′n?«, fragte ich ihn. »Fitzgerald?«

»Gott, nein! Hab dir doch gesagt, dass ich mit der Kuh fertig bin.«

»So? Dann gib sie mir, Junge. Im Ernst. Die ist genau meine Kragenweite.«

»Nimm sie ... Die ist zu alt für dich.« Auf einmal – eigentlich ohne besonderen Grund, bloß dass ich irgendwie Lust hatte rumzualbern – war mir danach, vom Waschbecken zu springen und den guten Stradlater mit einem Halbnelson zu packen. Das ist ein Ringergriff, falls ihr das nicht wisst, bei dem man dem andern um den Hals greift und ihn erwürgt, wenn einem danach ist. Also tat ich es. Ich fiel ihn an wie ein verfluchter Panther.

»Lass das, Holden, Herrgott!«, sagte Stradlater. Ihm war nicht nach Rumalbern. Er rasierte sich eben und so. »Was soll'n das – soll ich mir den Kopf absäbeln, verflucht?«

Aber ich ließ nicht los. Ich hatte ihn in einem ziemlich guten Halbnelson. »Befreie dich aus meinem Schraubstockgriff«, sagte ich.

»Herr-gott noch mal.« Er legte seinen Rasierer weg, fuhr plötzlich mit den Armen hoch und drückte irgendwie meinen Arm weg. Er war ein sehr kräftiger Typ. Ich bin sehr schwach. »Lass die Scheiße jetzt«, sagte er. Dann fing er mit dem Rasieren wieder von vorn an. Er rasierte sich immer zweimal, damit er auch großartig aussah. Mit seinem dreckigen Rasierer.

»Mit wem gehst′n dann weg, wenn's nicht die Fitzgerald ist?«, fragte ich ihn. Ich setzte mich wieder auf das Waschbecken neben ihm. »Mit dieser Schnecke Phyllis Smith?«

»Nein. So war′s eigentlich geplant, aber das ging dann völlig daneben. Jetzt hab ich die Zimmergenossin von Bud Thaws Puppe ... He. Fast hätt ich's vergessen. Die kennt dich

»Wer?«, fragte ich.

»Die, mit der ich mich treffe.«
»Ach ja?«, sagte ich. »Wie heißt sie?« Das interessierte mich nun doch.
»Mal überlegen ... Ähm. Jean Gallagher.«
Mann, ich wäre fast tot umgefallen, als er das sagte.

»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich ging sogar vom Waschbecken runter, als er das sagte. Ich wär fast tot umgefallen. »Und ob ich die kenne, verdammt. Im vorletzten Sommer hat die praktisch direkt neben mir gewohnt. Die hatte so einen verdammten Riesendobermann. So hab ich sie auch kennen gelernt. Ihr Hund ist ständig in unseren ... «

»Du stehst mir genau im Licht, Herrgott, Holden«, sagte Stradlater. »Musst du denn genau da stehen?«

Mann, war ich aufgeregt. Wirklich.

»Wo ist sie ?«, fragte ich ihn. »Ich müsste doch eigentlich runtergehen und ihr Tag sagen oder was weiß ich. Wo ist sie? Im Anbau?«

»Ja.«

»Wie ist sie denn drauf gekommen, mich zu erwähnen? Geht sie jetzt auf die B. M.? Sie hat gesagt, vielleicht geht sie dahin. Sie hat aber auch gesagt, sie geht vielleicht nach Shipley. Ich dachte, sie ist nach Shipley gegangen. Wie ist sie denn drauf gekommen, mich zu erwähnen?« Ich war ganz schön aufgeregt. Wirklich.

»Das weiß ich doch nicht, Herrgott. Heb mal den Arsch, ja? Du sitzt auf meinem Handtuch«, sagte Stradlater. Ich saß tatsächlich auf seinem blöden Handtuch.

»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich fasste es nicht. »Herrgott noch eins.«

Der gute Stradlater kippte sich Vitalis in die Haare. Mein Vitalis.

»Sie ist Tänzerin«, sagte ich. »Ballett und so. Die hat ungefähr zwei Stunden am Tag trainiert, noch in der größten Hitze und so. Sie hatte Angst, dass ihre Beine davon fies werden – ganz dick und so. Ich hab mit ihr die ganze Zeit Dame gespielt.«

»Du hast die ganze Zeit was mit ihr gespielt?«

»Dame.«

»Dame, Herrgott!«

»Ja. Die hat nie mit ihren Damen gezogen. Wenn die mal ′ne Dame kriegte, hat sie nie damit gezogen. Hat sie einfach in der letzten Reihe stehen lassen. Hat sie alle in der letzten Reihe aufgereiht. Dann hat sie nie was damit gemacht. Es hat ihr einfach gefallen, wie sie so nebeneinander in der letzten Reihe standen.«

Stradlater sagte nichts. So Kram interessiert die meisten Leute nicht.

»Ihre Mutter war im selben Club wie wir«, sagte ich. »Ab und zu war ich mal Caddie, bloß um ein bisschen Kohle zu machen. Ein paar Mal war ich Caddie für ihre Mutter. Die hat so ungefähr hundertsiebzig Schläge gebraucht, für neun Löcher.«

Stradlater hörte kaum zu. Er kämmte sich seine prächtigen Locken.

»Ich müsste doch runter und ihr wenigstens Tag sagen«, sagte ich.

»Und warum gehst du nicht?«

»Ich geh ja, gleich.«

Er fing wieder von vorne an, sich einen Scheitel zu ziehen. Er brauchte ungefähr eine Stunde, bis er fertig gekämmt war.

"Ihre Eltern waren geschieden. Ihre Mutter hat dann einen Schluckspecht geheiratet", sagte ich. „Dürrer Typ mit behaarten Beinen. Ich erinner mich noch gut an ihn. Hatte ständig kurze Hosen an. Jane hat gesagt, er ist eine Art Dramatiker oder so′n Quatsch, aber ich hab ihn immer bloß saufen sehen, und er hat sich jedes verfluchte Kriminalhörspiel im Radio angehört. Und ist nackt in dem verfluchten Haus rumgelaufen. Vor Jane und so.«

»Ach ja?«, sagte Stradlater. Das interessierte ihn nun doch. Dass der Schluckspecht nackt im Haus rumlief, vor Jane. Stradlater war ein ganz heißer Arsch.

»Die hatte eine miese Kindheit. Im Ernst.«

Das interessierte Stradlater nun wieder nicht. Bloß ganz heiße Sachen interessierten den.

»Jane Gallagher. Meine Güte.« Ich kriegte sie nicht aus dem Kopf. Wirklich nicht. »Ich sollte doch wenigstens runtergehen und ihr Tag sagen.«

»Dann tu ′s doch endlich, verdammt, und sag's nicht bloß dauernd«, sagte Stradlater.

Ich ging ans Fenster, aber man konnte nicht rausgucken, so beschlagen war es von der ganzen Hitze im Waschraum. »Ich bin jetzt nicht in der Stimmung dazu«, sagte ich. Das war ich auch nicht. Für solche Sachen muss man in der richtigen Stimmung sein. »Ich dachte, die ist nach Shipley gegangen. Ich hätte schwören können, die ist nach Shipley gegangen.« Ich lief eine Weile im Waschraum rum. Sonst hatte ich ja nichts zu tun. »Hat ihr das Spiel gefallen?«, sagte ich.

»Ja, glaub schon. Weiß nicht.«

»Hat sie dir erzählt, dass wir ständig Dame gespielt haben oder so was?«

»Weiß ich nicht. Herrgott, ich hab sie doch eben erst kennen gelernt«, sagte Stradlater. Er war jetzt mit seinen verfluchten prächtigen Haaren fertig. Er räumte seine ganzen dreckigen Toilettenartikel weg.

»Hör mal. Grüß sie von mir, ja?«

»Okay«, sagte Stradlater, aber ich wusste, dass er das wahrscheinlich nicht tun würde. Einer wie Stradlater, der richtet nie einen Gruß aus.

Er ging wieder ins Zimmer, aber ich blieb noch eine Weile im Waschraum und dachte über die gute Jane nach. Dann ging auch ich zum Zimmer zurück.

Als ich reinkam, stand Stradlater vor dem Spiegel und band sich die Krawatte um. Die Hälfte seines verfluchten Lebens verbrachte er vor dem Spiegel. Ich setzte mich in meinen Sessel und sah ihm eine Weile so zu.

»He«, sagte ich. »Sag ihr aber nicht, dass ich fliege, ja?«

»Okay.«

Das war gut bei Stradlater. Man brauchte ihm nicht jede verfluchte Einzelheit zu erklären, wie man das bei Ackley tun musste. Vor allem, glaube ich, weil es ihn nicht besonders interessierte. Das ist der Grund. Bei Ackley war das anders. Ackley war ein ganz neugieriger Arsch.

Stradlater zog mein Hahnentrittjackett an.

»Aber leiere es mir bloß nicht aus«, sagte ich. Ich hatte es erst ungefähr zweimal angehabt.

»Bestimmt nicht. Wo sind denn jetzt meine Zigaretten, verdammt?«

»Auf dem Schreibtisch.« Nie wusste er, wo etwas hingelegt hatte. »Unter deinem dicken Schal.« Er steckte sie in die Jackentasche - in meine Jackentasche.

Auf einmal drehte ich zur Abwechslung den Schirm meiner Jägermütze nach vorn. Auf einmal wurde ich irgendwie nervös. Ich bin ein ziemlich nervöser Typ. »Hör mal, wo gehst′n hin mit ihr?«, fragte ich ihn. »Weißt du das schon?«

»Nee. New York, wenn die Zeit reicht. Sie hat sich nur bis halb zehn ausgetragen, Herrgott.«

Mir gefiel nicht, wie er das sagte, also sagte ich: »Wahrscheinlich hat sie das nur getan, weil sie nicht wusste, was für ein gut aussehender, charmanter Arsch du bist. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sich wahrscheinlich bis halb zehn morgens ausgetragen.«

»Gut erkannt«, sagte Stradlater. Der ließ sich nicht leicht reizen. Dazu war er zu eingebildet. »Jetzt aber mal im Ernst. Schreib den Aufsatz für mich«, sagte er. Er hatte seinen Mantel an und war startbereit. »Brich dir dabei aber keinen ab oder was, mach's bloß ungeheuer beschreibend. Okay?«

Ich gab ihm keine Antwort. Mir war nicht danach. Ich sagte bloß: »Frag sie, ob sie die Damen noch immer in der letzten Reihe stehen lässt.«

»Okay«, sagte Stradlater, aber ich wusste, er würde es nicht tun. »Dann mach′s gut.« Er stürmte aus dem Zimmer wie ein Irrer.

Als er weg war, saß ich noch ungefähr eine halbe Stunde so da. Also, ich saß einfach in meinem Sessel und machte gar nichts. Ich dachte an Jane und daran, dass Stradlater jetzt mit ihr wegging und so. Das machte mich dermaßen nervös, dass ich fast verrückt wurde. Ich hab euch ja schon gesagt, was für ein heißer Arsch Stradlater war.

Ganz plötzlich schneite Ackley wieder rein, wie immer durch den verdammten Duschvorhang. Ausnahmsweise mal in meinem blöden Leben war ich froh, ihn zu sehen. Er lenkte mich von dem andern Kram ab.

Er lungerte bis ungefähr zur Abendessenszeit rum, redete davon, dass er die ganzen Typen an der Pencey zum Kotzen fand, und drückte an einem dicken Pickel am Kinn rum. Er nahm nicht mal sein Taschentuch dazu. Ich glaube, der Arsch hatte gar kein Taschentuch, wenn ihr's genau wissen wollt. Jedenfalls hab ich nie eins bei ihm gesehen.


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[2]

Holden hat beschlossen, von zu Hause abzuhauen; heimlich besucht er seine kleine Schwester Phoebe, an der er sehr hängt (S. 214 ff.)



Ich erzählte weiter von der guten Pencey. Mir war irgendwie danach.

»Sogar die beiden netten Lehrer im Kollegium, auch die waren verlogen«, sagte ich. »Da war so ein alter Typ, Mr. Spencer. Seine Frau machte einem immer heiße Schokolade und so Kram, und die waren wirklich ziemlich nett. Aber du hättest ihn mal sehen sollen, wenn der Rektor, der gute Thurmer, in den Geschichtsunterricht kam und sich hinten hinsetzte. Ständig kam der rein und setzte sich für eine halbe Stunde hinten rein. Das sollte inkognito sein oder was weiß ich. Wenn er dann eine Weile da hinten gesessen hatte, fing er an, den guten Spencer zu unterbrechen, und riss jede Menge piefige Witze. Der gute Spencer brach sich dabei fast einen ab, wie er da kicherte und lächelte und so, als wär der gute Thurmer ein verfluchter Prinz oder was weiß ich.«

»Fluch nicht so viel.«

»Du hättest gekotzt, ich schwör′s dir«, sagte ich. »Dann, der Veteranentag. Die haben einen Tag, den Veteranentag, da kommen die ganzen Deppen, die ihre Abschlussprüfung an der Pencey etwa 1776 gemacht haben, und rennen wie blöd in der Gegend rum, mit ihren Frauen und Kindern und so weiter. Da war ein alter Typ um die fünfzig, den hättest du mal sehen sollen. Der kam dann in unser Zimmer und klopfte an die Tür und fragte uns, ob es uns was ausmacht, wenn er auf die Toilette geht. Die Toilette war am Ende des Gangs – ich weiß nicht, warum der ausgerechnet uns gefragt hat. Weißt du, was der gesagt hat? Er hat gesagt, er wollte nachsehen, ob seine Initialen noch an einer der Klotüren waren. Hatte der doch vor ungefähr neunzig Jahren seine verfluchten dummen traurigen Initialen in eine Klotür geritzt, und er wollte nachsehen, ob sie noch da waren. Also gingen mein Zimmergenosse und ich mit ihm zur Toilette und so, und wir mussten dabei zugucken, wie er alle Klotüren nach seinen Initialen absuchte. Dabei quasselte er unentwegt, hat uns erzählt, dass es damals, als er an der Pencey war, die glücklichsten Tage seines Lebens gewesen sind, und hat uns jede Menge Ratschläge für die Zukunft gegeben und so. Mann, hat der mich deprimiert! Ich will nicht sagen, dass er ein übler Typ war - das war er nicht. Aber man muss kein übler Typ sein, um einen zu deprimieren – man kann auch ein guter Typ sein. Um einen zu deprimieren, brauchst du jemand bloß jede Menge verlogene Ratschläge zu geben, während du auf irgendeiner Scheißhaustür nach deinen Initialen suchst - mehr nicht. Ich weiß auch nicht. Vielleicht wär's ja nicht so schlimm gewesen, wenn er nicht ganz außer Atem gewesen wäre. Er war ganz außer Atem, bloß weil er die Treppe raufgestiegen ist, und die ganze Zeit, wie er nach seinen Initialen gesucht hat, hat er so schwer geatmet, und seine Nasenlöcher waren ganz komisch und traurig, während er Stradlater und mir erzählt hat, wir sollten von der Pencey so viel wie möglich mitnehmen. Gott, Phoebe! Ich kann das nicht erklären. Mir hat einfach nichts gefallen, was an der Pencey lief. Ich kann's nicht erklären.«

Dann sagte die gute Phoebe etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. Sie lag so seitlich mit dem Mund direkt auf dem Kissen, deshalb konnte ich sie nicht verstehen.

»Was?«, sagte ich. »Nimm den Mund hoch. Ich kann dich nicht verstehen, wenn du den Mund auf dem Kissen hast.«

»Dir gefällt gar nichts, was passiert.« Als sie das sagte, wurde ich noch deprimierter. »Doch. Doch. Klar gefällt mir manches. Sag das nicht. Warum sagst′n das, Mensch?«

»Weil′s so ist. Keine Schule gefällt dir. Tausend Sachen gefallen dir nicht. Das ist so.«

»Nein! Da liegst du falsch – genau da liegst du falsch! Warum musst du das sagen, Mensch?«, sagte ich. Mann, wie sie mich deprimierte.

»Weil′s so ist«, sagte sie. »Nenn mir eine Sache.«

»Eine Sache? Eine, die mir gefällt?«, sagte ich. »Gut.«

Das Blöde war, ich konnte mich nicht besonders gut konzentrieren. Manchmal ist es schwer, sich zu konzentrieren.

»Eine, die mir richtig gefällt, meinst du?«, fragte ich sie.

Aber sie gab mir keine Antwort. Sie hing irgendwie schräg ganz am andern Ende des Bettes. Sie war ungefähr tausend Meilen weg. »Los, antworte mir«, sagte ich. »Eine, die mir richtig gefällt, oder eine, die mir etwas gefällt?«

»Eine, die dir richtig gefällt.«

»Also gut«, sagte ich. Aber das Dumme war, ich konnte mich nicht konzentrieren. Ungefähr als Einziges fielen mir die beiden Nonnen ein, die mit ihren ramponierten alten Strohkörben rumliefen und Kohle sammelten. Besonders die mit der Brille mit dem Eisengestell. Und der Junge, mit dem ich zusammen an der Elkton Hills war. An der Elkton Hills war ein Junge, der hieß James Castle, der wollte etwas, was erüber einen schwer eingebildeten Jungen, Phil Stabile, gesagt hatte, nicht zurücknehmen. James Castle hatte ihn einen schwer eingebildeten Typ genannt, und einer von Stabiles miesen Freunden hat es Stabile weitergesagt. Also ging Stabile mit ungefähr sechs anderen Dreckärschen zu James Castles Zimmer und ging rein und sperrte die verfluchte Tür ab und versuchte, ihn dazu zu bringen, das, was er gesagt hatte, zurückzunehmen, aber der tat das nicht. Also haben sie ihn sich vorgeknöpft. Ich sag euch gar nicht erst, was sie mit ihm gemacht haben – es ist zu ekelhaft –, aber trotzdem nahm er es nicht zurück, der gute James Castle. Und ihr hättet ihn sehen sollen. Er war ein dünner kleiner Typ, der ziemlich schwach aussah und Handgelenke nicht dicker als Bleistifte hatte. Und schließlich, statt zurückzunehmen, was er gesagt hatte, sprang er aus dem Fenster. Ich war unter der Dusche und so, und sogar ich hörte, wie er draußen aufschlug. Aber ich dachte bloß, da ist was aus einem Fenster gefallen, ein Radio oder ein Schreibtisch oder was weiß ich, aber doch nicht ein Junge oder was. Dann hörte ich, wie alle durch den Gang rannten und die Treppe runter, also zog ich mir den Bademantel über und rannte auch runter, und da lag der gute James Castle direkt auf den Steinstufen und so. Er war tot, und überall lagen seine Zähne und war sein Blut, und keiner traute sich zu ihm hin. Er hatte den Rollkragenpulli an, den ich ihm geliehen hatte. Und die Typen, die bei ihm im Zimmer gewesen waren, die haben sie bloß von der Schule gewiesen. Die mussten nicht mal ins Gefängnis.

Aber mehr fiel mir nicht ein. Die beiden Nonnen, die ich beim Frühstück kennen gelernt hatte, und dieser James Castle, mit dem ich an der Elkton Hills war. Komisch, obwohl ich James Castle doch kaum kannte, wenn ihr's genau wissen wollt. Er war einer von den ganz Stillen. Er war in meinem Mathekurs, aber er saß ganz am anderen Ende des Raums, und er stand kaum mal auf, um was zu sagen oder um an die Tafel zu gehen oder was. Manche Typen stehen in der Schule kaum mal auf, um was zu sagen oder an die Tafel zu gehen. Ich glaube, ich habe mich überhaupt nur ein einziges Mal mit ihm unterhalten, und das war, als er mich fragte, ob er meinen Rollkragenpulli ausleihen dürfte. Ich wäre beinahe tot umgefallen, als er mich das fragte, überrascht wie ich war und so. Ich weiß noch, ich putzte mir gerade die Zähne im Waschraum, als er es mich fragte. Er sagte, dass sein Vetter kommt und mit ihm rausfahren will und so. Als Einziges wusste ich von ihm, dass sein Name beim Namensaufruf immer direkt vor meinem kam. Cabel, R., Cabel, W., Castle, Caulfield – daran erinnere ich mich noch. Wenn ihr′s genau wissen wollt, beinahe hätte ich ihm meinen Rollkragenpulli gar nicht geliehen. Bloß weil ich ihn nicht besonders gut kannte.

»Was?«, sagte ich zu der guten Phoebe. Sie hatte etwas zu mir gesagt, aber ich hatte es nicht verstanden.

»Dir fällt nicht mal eine Sache ein.«

»Doch. Doch.«

»Na, dann sag's.«

»Ich mag Allie«, sagte ich. »Und ich mag das, was ich gerade tue. Hier bei dir sitzen und reden und über Kram nachdenken und ... «

»Allie ist tot. – Immer sagst du das! Wenn jemand tot ist und so weiter und im Himmel, dann ist das nicht richtig ... «

»Ich weiß, dass er tot ist! Glaubst du, ich weiß das nicht? Aber deshalb kann ich ihn doch trotzdem mögen, oder? Bloß weil jemand tot ist, hört man doch nicht auf, ihn zu mögen, Herrgott – erst recht nicht, wenn der ungefähr tausendmal netter war als die Leute, die man kennt und die noch leben und so.«

Die gute Phoebe sagte gar nichts. Wenn ihr nichts einfällt, was sie sagen kann, sagt sie kein verfluchtes Wort. »Jedenfalls mag ich das jetzt«, sagte ich. »Also, jetzt im Moment. Hier mit dir zu sitzen und zu quatschen und rumzual ... «

»Das ist doch nichts Richtiges!«

»Doch, das ist was Richtiges! Und ob das was Richtiges ist! Warum denn nicht, Mensch? Nie wird einem geglaubt, dass was was Richtiges ist. Das hab ich verflucht satt.«

»Hör auf zu fluchen. Na schön, dann sag was anderes. Sag was, was du gern sein würdest. Wie Wissenschaftler oder Anwalt oder was weiß ich.«

»Wissenschaftler könnte ich nicht sein. Ich bin nicht gut in Naturwissenschaften.«

»Na, dann Anwalt – wie Daddy und so.«

»Anwälte sind wohl schon in Ordnung - aber das reizt mich nicht«, sagte ich. »Also, die sind in Ordnung, wenn sie die ganze Zeit rumrennen und Unschuldigen das Leben retten und so Sachen, aber so Kram macht man eben nicht, wenn man Anwalt ist. Da macht man bloß einen Haufen Kohle und spielt Golf und spielt Bridge und kauft Autos und trinkt Martinis und sieht aus wie ein Spitzentyp. Und außerdem. Selbst wenn man tatsächlich rumrennen und Leuten das Leben retten würde und so, woher wüsste man, ob man es täte, weil man Leuten wirklich das Leben retten will, oder ob man es täte, weil man eigentlich ein irrsinniger Anwalt sein will, dem jeder im Gerichtssaal auf die Schultern klopft und gratuliert, wenn der verfluchte Prozess vorbei ist, die Reporter und alle, wie in diesen schmutzigen Filmen? Woher wüsste man denn, ob man nicht verlogen ist? Das Dumme ist, man wüsste es eben nicht

Ich bin mir nicht sicher, ob die gute Phoebe wusste, wovon ich überhaupt redete. Schließlich ist sie ja bloß ein kleines Kind und so. Aber wenigstens hörte sie mir zu. Wenn jemand wenigstens zuhört, ist es schon mal nicht schlecht.

»Daddy bringt dich um. Er bringt dich um«, sagte sie. Aber ich hörte nicht zu. Ich dachte an etwas anderes – etwas Verrücktes. »Weißt du, was ich gern sein würde?«, sagte ich. »Weißt du, was ich gern sein würde? Also, wenn ich die verfluchte Wahl hätte?«

»Was? Hör auf zu fluchen.«

»Du kennst doch das Lied ‘Wenn einer einen fängt, der durch den Roggen kommt’. Ich würde gern ... «

»Das heißt ‘Wenn einer einen trifft, der durch den Roggen kommt’«, sagte die gute Phoebe. »Das ist ein Gedicht. Von Robert Burns.«

»Ich weiß, dass es ein Gedicht von Robert Burns ist.« Aber sie hatte Recht. Es heißt tatsächlich ‘Wenn einer einen trifft, der durch den Roggen kommt’. Aber das wusste ich da nicht.

»Ich hab gedacht, es heißt ‘Wenn einer einen fängt’, sagte ich. »Jedenfalls stelle ich mir dabei immer lauter kleine Kinder vor, die in einem großen Roggenfeld spielen und so. Tausende von kleinen Kindern, und niemand ist da – also, kein Großer –, nur ich. Und ich stehe am Rand eines verrückten Abgrunds. Und da muss ich alle fangen, bevor sie in den Abgrund fallen – also, wenn sie rennen und nicht aufpassen, wo sie hinlaufen, dann muss ich irgendwo rauskommen und sie fangen. Und das würde ich den ganzen Tag lang machen. Ich wär einfach der Fänger im Roggen und so. Ich weiß, es ist verrückt, aber das ist das Einzige, das ich richtig gern wäre. Ich weiß, es ist verrückt.«

Die gute Phoebe sagte lange nichts. Dann, als sie etwas sagte, sagte sie bloß: »Daddy bringt dich um.«

»Das ist mir scheißegal«, sagte ich. Dann stand ich vom Bett auf, denn ich wollte nun den Typen anrufen, der an der Elkton Hills mein Englischlehrer gewesen war, Mr. Antolini. Er lebte inzwischen in New York. Er hatte an der Elkton Hills aufgehört. Er hatte eine Stelle für Englisch an der NYU angenommen. »Ich muss mal telefonieren«, sagte ich zu Phoebe. »Bin gleich wieder da. Schlaf nicht ein.« Ich wollte nicht, dass sie einschlief, während ich im Wohnzimmer war. Ich wusste, sie würde nicht einschlafen, aber ich sagte es trotzdem, nur um sicherzugehen.

Während ich zur Tür ging, sagte die gute Phoebe: »Holden!«, und ich drehte mich um.

Sie saß aufrecht im Bett. Sie sah so hübsch aus. »Ich mach einen Rülpskurs bei so einem Mädchen, bei Phyllis Margulies«, sagte sie. »Hör mal.«

Ich hörte ihr zu, und ich hörte schon etwas, aber viel war′s nicht. »Gut«, sagte ich. Dann ging ich ins Wohnzimmer und rief diesen ehemaligen Lehrer von mir an, Mr. Antolini.


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[3]

Es gibt einen Lehrer einer früheren Schule, Mr. Antolini, zu dem Holden ein gutes Verhältnis hat. Ihn sucht er auf (S. 238 ff.)



»Na schön. Hör mir jetzt mal einen Augenblick zu ... Vielleicht formuliere ich das nicht so denkwürdig, wie ich's gern täte, aber in ein, zwei Tagen schreibe ich dir einen Brief darüber. Aber hör jetzt trotzdem mal zu.« Wieder konzentrierte er sich. Dann sagte er: »Dieser Abgrund, auf den du da zurennst - das ist ein besonderer, ein ganz schrecklicher Abgrund. Dem Menschen, der fällt, ist es nicht vergönnt, zu spüren oder zu hören, wie er unten aufschlägt. Er fällt und fällt einfach immer weiter. Dieses Konstrukt ist für Menschen gedacht, die an irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben nach etwas suchten, was ihre Umgebung ihnen nicht bieten konnte. Oder wovon sie glaubten, ihre Umgebung könne es ihnen nicht bieten. Also gaben sie die Suche auf. Sie gaben sie auf, bevor sie überhaupt richtig damit angefangen hatten. Kannst du mir folgen?«

»Ja, Sir,«

»Bestimmt?«

»Ja.«

Er stand auf und goss sich noch was von seinem Gesöff nach. Dann setzte er sich wieder hin. Eine ganze Weile sagte er nichts.

»Ich möchte dir keine Angst einjagen«, sagte er, »aber ich kann sehr deutlich sehen, wie du auf die eine oder andere Weise edel stirbst, und zwar für eine äußerst unwürdige Sache.« Er warf mir einen komischen Blick zu. »Wenn ich dir etwas aufschreibe, wirst du es dann auch sorgfältig lesen? Und es aufbewahren?«

»Ja. Sicher«, sagte ich. Und das habe ich auch getan. Ich habe den Zettel, den er mir gab, noch immer.

Er ging zu seinem Schreibtisch am andern Ende des Zimmers und schrieb etwas, ohne sich zu setzen, auf ein Blatt Papier. Dann kam er zurück und setzte sich, den Zettel in der Hand. »Kurioserweise hat das kein praktizierender Dichter geschrieben. Sondern ein Psychoanalytiker namens Wilhelm Stekel. Und der hat Folgendes – Hörst du mir noch zu?«

»Ja, natürlich.«

»Er hat Folgendes geschrieben: ‘Der unreife Mensch kennzeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.’«

Er beugte sich herüber und reichte mir den Zettel. Ich las ihn gleich, nachdem er ihn mir gegeben hatte, dann dankte ich ihm und so und steckte ihn ein. Es war nett von ihm, sich diese ganze Mühe zu machen. Wirklich. Die Sache war bloß, mir war nicht besonders danach, mich zu konzentrieren. Mann, ich war auf einmal so verdammt müde. Man sah aber gleich, dass er überhaupt nicht müde war.

Überhaupt hatte er ziemlich einen im Tee. »Ich glaube«, sagte er, »irgendwann wirst du herausfinden müssen, wo du hin willst. Und dann musst du auch da hingehen. Aber sofort. Du kannst es dir nicht leisten, auch nur einen Augenblick zu verlieren. Du nicht.«

Ich nickte, weil er mich direkt ansah und so, aber ich wusste nicht allzu genau, wovon er redete. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es wusste, aber absolut sicher war ich mir nicht. Ich war zu verdammt müde.

»Und ich sage es dir nicht gern«, fuhr er fort, »aber ich glaube, wenn du einigermaßen eine Vorstellung davon hast, wo du hin willst, musst du dich als Erstes in der Schule anstrengen. Das musst du. Du bist Schüler – ob dir diese Vorstellung nun zusagt oder nicht. Du bist in das Wissen verliebt. Und ich glaube, wenn du erst mal all die Mr. Vineses mit ihrem Mündlichen Ausd ... «

»Mr. Vinsons«, sagte ich. Er meinte all die Mr. Vinsons, nicht all die Mr. Vineses. Aber ich hätte ihn nicht unterbrechen sollen.

»Na gut – die Mr. Vinsons. Wenn du erst mal all die Mr. Vinsons hinter dir hast, wirst du der Art von Information, die dir sehr, sehr am Herzen liegen wird, allmählich immer näher kommen – das heißt, wenn du es willst und wenn du danach suchst und darauf wartest. Unter anderem wirst du erkennen, dass du nicht der Erste bist, der vom menschlichen Verhalten verwirrt und verängstigt und sogar angewidert ist. Damit stehst du keineswegs allein, wie du zu deiner Begeisterung und Anregung erfahren wirst. Viele, viele Menschen waren moralisch und geistig ebenso umgetrieben, wie du es jetzt bist. Glücklicherweise haben einige davon ihre Nöte aufgezeichnet. Von ihnen wirst du lernen – wenn du es willst. Genauso wie jemand eines Tages, wenn du etwas anzubieten hast, etwas von dir lernen wird. Das ist ein schönes wechselseitiges Arrangement. Und es ist nicht Bildung. Es ist Geschichte. Es ist Poesie.« Er hielt inne und trank einen großen Schluck von seinem Highball. Dann fing er wieder an. Mann, er war richtig scharf darauf. Ich war froh, dass ich nicht versuchte, ihn zu bremsen oder was. »Ich will dir damit gar nicht sagen«, meinte er, »dass nur gebildete und gelehrte Menschen etwas Wertvolles zur Welt beitragen können. Keineswegs. Allerdings sage ich, dass gebildete und gelehrte Menschen, die auch noch brillant und kreativ sind – was bedauerlicherweise selten der Fall ist –, dazu neigen, unendlich viel wertvollere Aufzeichnungen zu hinterlassen als Menschen, die bloß brillant und kreativ sind. Sie neigen dazu, sich klarer auszudrücken, und sie wollen in der Regel nichts leidenschaftlicher, als ihre Gedanken ganz zu Ende zu denken. Und das Wichtigste – in neun von zehn Malen besitzen sie mehr Demut als der unwissenschaftliche Denker. Kannst du mir überhaupt folgen?«

»Ja, Sir.«

Wieder sagte er ewig nichts. Ich weiß nicht, ob ihr das schon mal gemacht habt, aber es ist schwer, nur dazusitzen und darauf zu warten, dass einer was sagt, wenn er denkt und so. Wirklich. Ich versuchte unablässig, nicht zu gähnen. Nicht, dass ich mich gelangweilt hätte oder was – das nicht –, aber ich war auf einmal so verdammt müde.

»Eine akademische Bildung leistet auch noch etwas anderes für dich. Wenn du auch nur eine ansehnliche Strecke weit dabeibleibst, gibt sie dir allmählich eine Vorstellung davon, welche Größe dein Geist hat. Was dazu passt und was vielleicht nicht. Nach einer Weile bekommst du eine Vorstellung davon, welche Gedanken genau der Größe deines Geistes entsprechen. Das erspart dir möglicherweise auch eine außerordentliche Menge Zeit, Vorstellungen auszuprobieren, die dir nicht entsprechen, zu dir nicht passen. Du wirst allmählich deine wahren Maße kennen lernen und deinen Geist entsprechend einkleiden.«

Dann gähnte ich auf einmal. Was war ich doch für ein ungehobelter Arsch, aber ich konnte nicht anders!

Mr. Antolini lachte jedoch nur. »Komm«, sagte er und stand auf. »Wir machen dir die Couch zurecht.«




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